„Das Wort soll­te wie eine Pupil­le sein“

Die spanische Dichterin Trinidad Gan im Gespräch über ihre Lyrik und das Überschreiten von Sprachbarrieren. Interview:

Die spanische Lyrikerin Trinidad Gan. Bild: privat. Illustration: Juan Luis Landaeta

Aus dem Spa­ni­schen über­setzt von Geral­di­ne Gut­ier­rez-Wien­ken und Nico­la Quaß. Zur spa­ni­schen Ver­si­on des Inter­views geht’s hier.

Véa­se tam­bién la ent­re­vis­ta en espa­ñol aquí.


In dei­nem Gedicht „Wör­ter­bü­cher“ (Sp. Dic­cio­na­ri­os), das zugleich der Titel dei­nes 2019 im hoch­roth Ver­lag Hei­del­berg erschie­ne­nen Gedicht­ban­des ist, geht es um Spra­che und ihre Fra­gi­li­tät. Wel­chen Stel­len­wert haben die Wör­ter bei dir inner­halb des Ent­ste­hungs­pro­zes­ses eines Gedich­tes? An wel­cher Stel­le reißt das Wort auf und wird dem poe­ti­schen Raum über­las­sen mit sei­nen Leer­stel­len und Signifikanten?

Tri­ni­dad Gan: Ich war schon immer der Über­zeu­gung, dass das Wort wie eine Pupil­le sein soll­te, die sich bei der Berüh­rung mit der Wirk­lich­keit wei­tet, und dass die Auf­ga­be des Dich­ters dar­in besteht, wie ein Jäger zu schrei­ben, immer auf der Suche nach dem Ver­bor­ge­nen. Des­halb las­se ich mich, wenn ich den ers­ten Ent­wurf eines Gedichts nie­der­ge­schrie­ben habe, mehr von Bil­dern als von Ideen inspi­rie­ren, von visu­el­len Spu­ren, die ich durch Wor­te auf eine für den Leser sug­ges­ti­ve Wei­se spür­bar zu machen versuche.

Wie muss ein Wort beschaf­fen sein, damit es Auf­nah­me in dei­ne Gedich­te findet?

Jedes ein­zel­ne Wort erscheint wie ein Kör­per. Es atmet, pocht, schweigt und bekommt im Text­ge­we­be sein eige­nes Gewicht. Ich ver­las­se mich auch sehr auf sei­ne Aus­sa­ge­kraft, die die ursprüng­li­che Quel­le der Poe­sie ist. Ich nei­ge fer­ner dazu, mir laut vor­zu­le­sen, was ich schrei­be. Oft über­rascht es mich, wenn dabei die seman­ti­sche Bedeu­tung vom Wort­klang über­la­gert wird und dabei zur rei­nen Musik wird.

Beim Lesen die­ses Gedich­tes bekom­me ich immer noch eine Gän­se­haut. Ich lese die Zei­len auch als Plä­doy­er an die Mensch­lich­keit, sich nicht inner­halb des eige­nen Wort­schat­zes zu ver­schan­zen, son­dern Spra­che als Mit­tel zur Über­schrei­tung von Sprach­bar­rie­ren zu ver­ste­hen, was ein Ver­ständ­nis jen­seits von Wör­tern und Sät­zen ermög­licht. Was war bei dir der Aus­lö­ser, die­ses Gedicht zu schreiben?

Abge­se­hen von der Anek­do­te, die den Anstoß zu sei­ner Nie­der­schrift gab (auf einem inter­na­tio­na­len Poe­sie­tref­fen wur­de ich durch die Lesung eines mir unbe­kann­ten Dich­ters in einer mir nicht geläu­fi­gen Spra­che inspi­riert), hat­te ich wäh­rend der Lesung das Gefühl, dass der Dich­ter eine dop­pel­te Iden­ti­tät in sich trägt. Er war Frem­der und Zeu­ge zugleich. Damals dach­te ich, dass der Dich­ter sich selbst und der Welt oft fremd gegen­über­steht, und mit sei­nen Gedich­ten ein wenig Ord­nung sucht im inne­ren Cha­os und dar­in auch etwas Schö­nes entdeckt.

Wör­ter­bü­cher, das sind ja zunächst ein­mal Hilfs­mit­tel zur Über­tra­gung eines Tex­tes in eine ande­re Spra­che, immer auch mit der Gefahr der Bedeu­tungs­ver­schie­bung, des Miss­ver­ständ­nis­ses. Inwie­weit ver­traust du der Wirk­kraft von Lyrik über den eige­nen Sprach­raum hin­aus, zum Bei­spiel bei einer Lyrikübersetzung?

Für mich ist die Auf­ga­be des Über­set­zers fast wie die eines Seil­tän­zers, der gefähr­lich zwi­schen zwei Ufern balan­ciert, die oft zu Abgrün­den wer­den. Es ist eine Auf­ga­be, die ich immer sehr bewun­dert habe, und des­halb habe ich bei den weni­gen Gele­gen­hei­ten, bei denen ich ver­sucht habe, ande­re Dich­ter zu über­set­zen (vor allem mit mei­nen begrenz­ten Kennt­nis­sen ande­rer Spra­chen), gro­ße Schwie­rig­kei­ten gehabt.

Wor­in besteht für dich die Fas­zi­na­ti­on einer Übersetzung?

In mei­nem Buch Papel ceni­za (Edi­to­ri­al Val­pa­raí­so, 2014) gibt es ein Gedicht mit dem Titel „Tra­duc­cio­nes“ (Über­set­zun­gen), in dem ich die Über­set­zun­gen, aus­ge­hend von mei­nen eige­nen Ver­su­chen, als ein Spiel mit Mas­ken defi­nie­re, nicht ohne vor­her über den Reich­tum und das Stau­nen zu spre­chen, das sie mir gebracht haben:

Du durch­querst den Wald der Sei­ten
und ein Wort, eine erho­be­ne Men­ge,
bringt die Lip­pen eines Frem­den an dei­ne Lip­pen.

Wie kön­nen wir mit die­ser vagen Musik,
die in der Fer­ne klingt, wie in Träu­men, ver­su­chen,
ande­re Kno­chen zu durch­boh­ren, ande­res Cha­os
in ande­ren Tex­ten bren­nen, ohne sie zu ver­let­zen?
Und wie hebt man frem­de Asche auf,
wenn man sie hin­ter­her als eige­ne erkennt? 

Cru­z­as el bos­que de las pági­nas,
y una pala­bra, alzada much­ed­umbre,
acer­ca has­ta tus labi­os los labi­os de un extra­ño.

¿Cómo inten­tar con esta vaga músi­ca
que sue­na en lejanía, como en sue­ños,
tras­pa­sar otros hue­sos, otro caos
ardien­do en otras letras, sin her­ir­lo?
¿Y cómo reco­ger esa ceni­za aje­na
si des­pués, con asom­bro, la reco­no­ces tuya? 

Das klingt nach einer gro­ßen Demut gegen­über dem poe­ti­schen Mate­ri­al, das ja in der Aus­gangs­spra­che ver­wur­zelt ist.

Glück­li­cher­wei­se ver­schwand die­ser Ein­druck der Unsi­cher­heit und des Miss­trau­ens gegen­über Über­set­zun­gen voll­stän­dig, als man begann, mei­ne Gedich­te zu über­set­zen, und als ich Geral­di­ne Gut­iérrez-Wien­ken und Mar­ti­na Weber ken­nen­lern­te, die mir die aus­ge­zeich­ne­te deut­sche Über­set­zung mei­ner in den „Wör­ter­bü­chern“ gesam­mel­ten Gedich­te schenk­ten. Ähn­lich ver­hielt es sich bei eini­gen mei­ner ins Ita­lie­ni­sche über­setz­ten Tex­te durch die Dich­ter Ales­sio Bran­do­li­ni und Gio­van­na Zunica.

Blei­ben wir noch bei dem Gedicht „Wör­ter­bü­cher“. Die letz­te Stro­phe lautet:

In einem kal­ten Regen erkann­te ich
die gemein­sa­men Wur­zeln unse­rer Wör­ter­bü­cher,
ich spür­te, wie sie sich ver­misch­ten, und es glüh­te
ein Echo: die Ein­sam­keit zwei­er Stim­men
auf­ge­ho­ben in ihrer Verbindung.

Bajo la llu­via fría vi mez­clar­se
las raí­ces com unes de nues­tros dic­cio­na­ri­os
Y ya solo escu­ché arder un eco:
Dos voces con­ju­gan­do la sole­dad vencida.

Das Gedicht bekommt hier eine sehr per­sön­li­che Note. Es ist ja auch ein Lie­bes­ge­dicht. Hast du beim Schrei­ben des Gedich­tes auch an Mau­ern inner­halb der eige­nen Spra­che gedacht?

Jedes poe­ti­sche Werk ist „per­sön­lich“, d. h. es führt uns immer ins Ima­gi­nä­re, in die ideo­lo­gi­sche Prä­gung und die Gefühls­er­zie­hung sei­nes Autors. Aber ich spü­re, dass ich als Dich­te­rin nur mit der Ver­bind­lich­keit mei­nes Blicks ant­wor­ten kann (indem ich ihn von mir selbst ablen­ke und ver­su­che, die Gren­zen mei­ner Spra­che mit einem Wort zu über­schrei­ten, das zugleich für ande­re offen ist) und so die Ris­se in der Gesell­schaft auf­zei­gen kann, um all das zu ret­ten, was für den Men­schen wesent­lich ist, und bei dem wir so kurz davor sind, es zu ver­lie­ren: die gemein­sa­me Frei­heit und das Zusam­men­le­ben in Gerech­tig­keit und Gleichheit.

Wür­dest du sagen, dass Poe­sie auch ein Medi­um ist, das geeig­net ist, eine Bot­schaft in die Welt zu tragen?

Die Arbeit des Dich­ters ist eine ein­sa­me, aber das Gedicht ist ein Raum, der für Begeg­nun­gen offen ist, ein Ort, der gebo­ren wird, um Unge­wiss­heit und Schmerz bewohn­ba­rer zu machen.

Man­che sehen ja in der Musik eine Art Uni­ver­sal­spra­che, die von allen Völ­kern ver­stan­den wird, weil sie direkt das Gefühl anspricht. Auch die Male­rei und die Foto­gra­fie kom­men ohne Über­set­zung aus. Emp­fin­dest du das Zurück­ge­wor­fen-Sein auf eine Spra­che auch manch­mal als Behin­de­rung der eige­nen Ausdrucksmöglichkeit?

Nein, ich glau­be nicht, dass die Ver­wen­dung einer ein­zi­gen Spra­che  Aus­drucks­mög­lich­kei­ten aus­schließt, aber sie kann sie in gewis­ser Wei­se limi­tie­ren. Ich wür­de ger­ne vie­le ande­re Spra­chen flie­ßend spre­chen und ver­su­che daher, immer Gedich­te in zwei­spra­chi­gen Aus­ga­ben zu lesen, auch dann, wenn ich die Spra­che des Autors, den ich lese, nicht beherrsche.

Neben der seman­ti­schen Aus­sa­ge leben Gedich­te ja von ihrem Klang, der gera­de in einer Spra­che, die man nicht ver­steht, vor­herrscht. Wür­dest du sagen, dass die­ses Nicht­ver­ste­hen des fremd­spra­chi­gen Gedichts auch hilft, das Gedicht jen­seits des intel­lek­tu­el­len Begrei­fens erfahr­bar zu machen? 

Glück­li­cher­wei­se lesen wir Dich­ter uns immer gegen­sei­tig (und wir hören uns bei den Tref­fen gegen­sei­tig zu, und da ist die Musi­ka­li­tät, die dem poe­ti­schen Akt inne­wohnt, sein bes­ter Trumpf), über Gren­zen, Grup­pen, Gene­ra­tio­nen hin­weg, denn Poe­sie ist eine Erfah­rung, die sich sowohl beim Schrei­ben als auch beim Lesen kreuzt und auf die­se Wei­se per­sön­li­chen Reich­tum schafft.

Abschied, Tren­nung, Ver­lust – das schei­nen The­men zu sein, die sich durch dei­ne Gedich­te zie­hen. Gleich­zei­tig erken­ne ich aber immer wie­der eine star­ke, posi­ti­ve Stim­me, die antreibt, ermutigt.

Wage es, die bei­den Sei­ten zu betre­ten,
die des Lichts und die des Dunkeln.

Atré­ve­te a pisar en ambos lados,
en su cara de luz, tam­bién en su tiniebla.

So lau­tet eine Zei­le aus dei­nem Gedicht „Aschen“. Gehe ich zu weit, wenn ich behaup­te, die Gedich­te spü­ren auch das Frem­de auf, das in jedem von uns steckt und die­ses Unbe­ha­gen aus­löst, vor dem wir uns manch­mal fürchten?

Die Fra­gen, die mich beim Schrei­ben am meis­ten beschäf­ti­gen, rüh­ren von mei­ner Fremd­heit her ange­sichts die­ser Fata Mor­ga­na des Ichs (oder viel­mehr einer Ich-Frau). Aber die Poe­sie gibt kei­ne Ant­wor­ten, sie macht dich nicht zum Besit­zer einer Gewiss­heit, son­dern wirft immer neue Fra­gen auf.

Wenn Poe­sie kei­ne Ant­wor­ten gibt, in wel­che Räu­me kann sie dann vorstoßen?

In gewis­ser Wei­se ist das Schrei­ben von Gedich­ten für mich eine Art, im Zwei­fel zu leben, in stän­di­ger Schlaf­lo­sig­keit und schließ­lich auf­zu­wa­chen, ohne zu wis­sen, was das Schrei­ben ist und wozu es gut ist. Ich ver­su­che, in ihm ein Gebiet zu fin­den, in dem ich mein Gleich­ge­wicht und mei­ne Stär­ken als Frau wie­der­fin­de, und auch die auf­ein­an­der­fol­gen­den Ichs zu ver­bin­den, die ich in mir sehe und die mei­ne Erin­ne­rung und mei­nen Blick aus­ma­chen, immer im Bewusst­sein, dass wir frag­men­ta­risch sind.

Dei­ner Bio­gra­fie habe ich ent­nom­men, dass du neben der Lyrik auch sehr mit dem Thea­ter ver­bun­den bist und in ver­schie­de­nen Kom­pa­nien gespielt hast. Gibt es bei dir eine Ver­bin­dung zwi­schen die­sen bei­den Kunst­for­men, mög­li­cher­wei­se auch als Quel­le der Inspiration?

Pablo del Águi­la, ein sehr jung ver­stor­be­ner Dich­ter aus Gra­na­da, den ich bewun­de­re, pfleg­te zu sagen:

Erst wenn man ent­deckt, dass Poe­sie eine Lüge im thea­tra­lischs­ten Sin­ne des Wor­tes ist, kann man anfan­gen, wirk­lich zu schreiben.

Solo cuan­do uno des­cub­re que la poe­sía es men­ti­ra en el sent­i­do más tea­tral del tér­mi­no, pue­de empe­zar a escri­bir de verdad.

Poe­sie als Lüge? Wie kann man das verstehen?

Wie im Thea­ter gibt es auch im Gedicht immer einen gewis­sen Kunst­griff. Selbst das, was uns am stärks­ten zu ent­blö­ßen scheint, ist immer eine Umschrei­bung der Rea­li­tät, bei der die per­sön­li­che Anek­do­te nur ein Aus­gangs­punkt ist.

Ja, dem kann ich fol­gen. Womit wir wie­der bei den Leer­stel­len wären. Die Poe­sie mit ihrer Ver­knap­pung der Wor­te scheint beson­ders geeig­net, die­sem Ent­rin­nen der Rea­li­tät hab­haft zu wer­den und durch sie Stim­men spre­chen zu las­sen, die mehr sind als wir selbst. 

Das ist viel­leicht der Grund, war­um ich oft dazu nei­ge, mei­ne Tex­te zu kon­stru­ie­ren, indem ich eine bestimm­te Sze­ne­rie auf­baue, um die poe­ti­sche Figur durch sie hin­durch wan­dern zu las­sen und ver­schie­de­ne Ebe­nen und Blick­win­kel zu ver­wen­den, die fast thea­tra­li­sche Sze­nen mit ihrer ver­wi­ckel­ten Auf­lö­sung schaf­fen. Das Gedicht wäre also eine Art Kam­mer­thea­ter, in dem ich mich unter dem Deck­man­tel von Figu­ren aus­drü­cke, eine Stimm­mas­ke anneh­me oder mich sogar im Dia­log in meh­re­re Stim­men aufspalte.

Wie gehst du dabei vor?

Ich habe immer ver­sucht, die­se Gedich­te für den Leser bewohn­bar zu machen, Gedich­te, die, aus­ge­hend von einer klei­nen eige­nen oder frem­den Anek­do­te, ande­re Sicht­wei­sen auf­zei­gen, sei es auf mensch­li­che Bezie­hun­gen oder auf Sehn­süch­te, sei es auf Lie­be und Ent­frem­dung, auf unse­re Städ­te oder unse­re Zerbrechlichkeit.


Tri­ni­dad Gan


Tri­ni­dad Gan, geb. 1960 in Gra­na­da, Spa­ni­en, stu­dier­te His­pa­nis­tik an der Uni­ver­si­dad de Gra­na­da. Von ihr sind fol­gen­de Lyrik­bän­de erschie­nen: Las señas del pira­ta (Cua­der­nos del Vigía, 1999); Fin de Fuga (Visor, 2008, XX. Pre­mio de Poe­sía Ciu­dad de Cáce­res); Caja de fotos (Ren­aci­mi­en­to, 2009, XII. Pre­mio Sur­cos de poe­sía); Papel ceni­za (Val­pa­raí­so, 2014) und El tiem­po es un león de mon­ta­ña (Visor, 2018, XX. Pre­mio Genera­ción del 27).


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