
„Es gibt keine tiefere Erfahrung von Diversität als das Erlernen einer Sprache“, stellte der Sprachwissenschaftler und gelegentliche Übersetzer Jürgen Trabant an einem verregneten Samstagabend in Berlin fest. Und tatsächlich dürfte es wohl an diesem langen Wochenende kaum eine Veranstaltung in der Hauptstadt gegeben haben, die in puncto Vielfalt und interkulturellem Austausch der translationale berlin, dem Festival für Literaturübersetzung, Konkurrenz machen konnte. Das Festival setzte auf Größe und bot vier Tage lang von morgens bis abends Veranstaltungen, Workshops und Lesungen rund um das Thema Übersetzung, die naturgemäß eng mit dem Spracherwerb verbunden ist.
Wie bereits im vergangenen Jahr hatte die translationale keinen echten thematischen Schwerpunkt – dafür gibt es zu viele Interessenvertreter:innen, die sich an der Organisation des Festivals beteiligen. Bereits im Sommer kooperierte die translationale berlin mit dem Translatorium, einem ukrainischen Literaturfestival, dessen Veranstaltungen aufgrund des Krieges mit Russland in diesem Jahr nicht stattfinden konnten. Ukrainische Dichter:innen eröffneten dann am Freitagabend auch das Festival und präsentierten ihre Gedichte vor einer an die Wand projizierten ukrainischen Flagge in Begleitung der Übersetzung.
Auch das Collegium Hungaricum in Berlin, das wieder den Austragungsort stellte, organisierte Veranstaltungen, darunter eine zu Franz Fühmann als Übersetzer ungarischer Lyrik. Aurélie Maurin brachte das Toledo-Projekt Cities of Translators, in dem unter anderem Kyjiw, Budapest und Minsk als Übersetzungsschauplätze vorgestellt werden, in einer Rauminstallation und einer Veranstaltung unter. Mit von der Partie war natürlich auch die Weltlesebühne, vertreten durch Nora Bierich, die u. a. eine Veranstaltung zur indonesischen Literaturszene mitorganisierte. Und nicht zuletzt verlieh auch der neue Festivalleiter Asmus Trautsch der translationale seine persönliche Note. Die Lyrik, eine oft eher stiefmütterlich behandelte Gattung, durfte in diesem Jahr glänzen und auch die oft bereichernden musikalischen Einlagen sind sicherlich ihm, der selbst als Dichter und Komponist arbeitet, zu verdanken.

©Thomas Bohm
Mit der Forderung „Translators on Stage!“ warf das Festival sein Scheinwerferlicht auf Übersetzer:innen, die aus dem Deutschen übersetzen. Dies hatte zur Folge, dass hierzulande bekannte, ins Deutsche übertragende Übersetzer:innen auf dem Festival kaum anzutreffen waren, höchstens zu Moderationszwecken. Luis Ruby etwa führte unaufgeregt durch das Lebenswerk der brasilianischen Übersetzerin Simone Homem de Mello, die von São Paulo aus zugeschaltet war, und Sabine Müller navigierte souverän ein Gespräch mit der Übersetzerin Tiya Hapitiawati und dem Verleger Eka Kurniawan, die Einblicke in die indonesische Übersetzungspraxis gaben.
In den Veranstaltungen tauchte ein wahres Potpourri aus Sprachen auf, darunter Indonesisch, Jiddisch, Kikuyu und Brasilianisch. Der Fokus lag auf Osteuropa (besonders auf Ungarisch und Ukrainisch) und darüber hinaus auf den sogenannten „kleinen“ Sprachen, die teilweise viel gesprochen, aber oft kaum übersetzt werden. Auf dem Festival erhielten ihre Sprecher:innen die Möglichkeiten, diese klanglich hervortreten zu lassen, indem sie Auszüge aus ihren Übersetzungen aus dem Deutschen vorlasen. Die wenigsten Gäste werden in ihrem Leben so viele Sprachen gehört haben, wie man es an diesem Wochenende in Berlin konnte.
Ein Höhepunkt unter vielen war zudem das anregende Gespräch zwischen Rémi Armand Tchokothe und Wangui wa Goro, die sich seit Jahrzehnten mit Übersetzungen auf dem afrikanischen Kontinent beschäftigt und das Übersetzen als ihr Lebenswerk versteht. Ähnlich kurzweilig war auch die Veranstaltungen zur Comic-Übersetzung. Dort stand (im Gegensatz zu vielen anderen Veranstaltungen) der Text selbst im Zentrum. Die von Jean-Baptiste Coursaud und Lilian Pithan mitgebrachten Beispiele zeigten anschaulich, mit welchen Problemen sich Übersetzer:innen im Alltag beschäftigen und bewiesen, dass Comics – konträr zu der etwas ungelenken Einleitung durch Nora Bierich, die diese als Nische abtat – große Literatur sind.

©Tobias Bohm
Ebenso eindrucksvoll war der Sonntagabend, der sich angeführt von Tal Hever-Chybowski und Karolina Szymaniak gänzlich der Geschichte des Jiddischen widmete und mit Beispielen den besonderen Sound der Sprache hervorhob, der für viele Deutschsprechende vertraut klingen mag. Seinen krönenden Abschluss feierte das Festival am nächsten Tag im Maxim Gorki Theater mit einer Lesung der diesjährigen Buchmessepreisträger:innen Uljana Wolf, Anne Weber und Tomer Gardi, die große Lust zum Austausch über ihre Texte mitbrachten. Doch während einige translationale-Veranstaltungen mit über 90 Minuten Laufzeit eindeutig zu lang waren, war ausgerechnet diese Veranstaltung zu kurz. Sie endete, als die Teilnehmenden gerade miteinander ins Gespräch kamen.
Wesentlich problematischer war jedoch die Beobachtung, dass die translationale berlin auch in diesem Jahr ein Publikumsproblem hatte. Im Moholy-Nagy-Saal des Collegium Hungaricums waren vor allem die Nachmittagsveranstaltungen schlecht besucht. Das Festival zog eindeutig zu wenige an, um den Saal zu füllen und das Einfliegen von Gästen für die Veranstaltungen zu rechtfertigen. Interessiert sich die breite Öffentlichkeit etwa nicht für Übersetzungen? Ursache dürfte eher die schlichtweg große Konkurrenz gewesen sein, denn schließlich endete erst vor zwei Wochen das internationale literatur festival berlin. Und Mitte Oktober beginnt die Frankfurter Buchmesse, die in diesem Jahr wieder ein Internationales Zentrum für Übersetzung mit eigener Bühne stellt. Möglicherweise haben auch das begrenzte Marketing und die späte Veröffentlichung des Programms wenig dazu beigetragen, die Berliner:innen zu animieren, ihr langes Wochenende in Mitte zu verbringen.
Zudem zeigten viele Events, dass die Veranstalter:innen die eigene Zielgruppe offenbar nicht genau einordnen können. Bei der öffentlichen Veranstaltung zu Franz Fühmann als Übersetzer ging man davon aus, dass alle im Raum wissen, wie Interlinearübersetzungen aussehen, während andere Veranstaltungen keinerlei Vorwissen voraussetzen und in ihre Diskussionsthemen einführten, so dass auch Laien folgen konnten. Oft mutmaßten Gäste auf der Bühne im Publikum professionelle Übersetzer:innen sitzen zu haben, aber selbst die hatten sich an diesem Wochenende rar gemacht, sicherlich auch, weil sie bundesweit anlässlich des Hieronymustags in andere Veranstaltungen involviert waren oder schlicht Besseres vorhatten.
Die merklich politischere Ausrichtung der translationale verlieh dem Festival Profil. Und doch war ein Großteil der Veranstaltungen erstaunlich unpolitisch, was die Situation von Übersetzer:innen und die Kulturpolitik im In- und Ausland betrifft. Kann ein Festival für Literaturübersetzung es sich leisten, die fragwürdigen Bedingungen, unter denen Übersetzungen entstehen, nicht zu thematisieren? Dass die meisten Übersetzer:innen in nicht nur in Ländern wie Indonesien oder Brasilien, sondern auch hier in Deutschland von ihren Übersetzungen nicht leben können, wurde wenn überhaupt nur am Rand behandelt. Ein ungewolltes Aufsehen konnte lediglich die Sachbuchübersetzerin Andrea Hemminger erregen, als sie erzählte, wie wenig Geld sie für ihre tausend Seiten langen, hochkomplexen Foucault-Übersetzungen erhält.
Auch andere politische Debatten um beispielsweise Diversität in der Literaturbranche oder die Sichtbarkeit der Zunft wurden lediglich angerissen. Die translationale schaffte es in dieser Hinsicht nur bedingt, Raum für Entstehung zu bieten. Es fehlte der Esprit eines Rémi Armand Tchokothe, der gemeinsam mit Wangui wa Goro halbernst einen neuen Fördertopf für Literatur auf dem afrikanischen Kontinent ausrief, oder die Unerschrockenheit einer Anita Djafari, die in ihrer Veranstaltung die bevorstehenden Budgetkürzungen durch das Auswärtige Amt kritisierte, die viele wichtige deutsche Kulturinstitutionen betreffen werden. Beim nächsten Mal gern mehr davon.
Anmerkung: In einer früheren Version des Artikels wurde Dorota Stroińska fälschlicherweise dem Collegium Hungaricum Berlin zugeordnet. Wir haben die entsprechende Stelle korrigiert.