Geliebt, geän­dert, kri­ti­siert: die Über­set­zung von „Pip­pi Langstrumpf“

In die hinreißend verantwortungslosen Eskapaden von Astrid Lindgrens berühmtester Figur griff die deutsche Übersetzung schon lange vor der Südseekönig-Debatte pädagogisch glättend ein. Von

Pippi Langstrumpf hängt kopfüber an einem Seil hoch über der Straße
Freche Wort- und waghalsige Seilakrobatik: Pippi Langstrumpf kennt keine Angst. Copyright: IMAGO / Allstar

Als Fried­rich Oeting­er und sei­ne Frau 1949 von einer Rei­se nach Schwe­den ins hei­mi­sche Ham­burg zurück­kehr­ten, hat­ten sie im Gepäck ein Kin­der­buch, das nicht nur das Geschick des klei­nen Oeting­er Ver­lags ent­schei­dend prä­gen, son­dern einen anhal­ten­den Ein­fluss auf die Kin­der­li­te­ra­tur der jun­gen Bun­des­re­pu­blik aus­üben soll­te. Pip­pi Lang­strumpf war der ers­te Text von Astrid Lind­gren, der ins Deut­sche über­setzt wur­de, und die Geschich­te sei­ner Rezep­ti­on lässt sich zugleich als Geschich­te des Umgangs mit Kin­der­buch­über­set­zun­gen lesen.

Über­set­zun­gen und Überarbeitungen

Erwach­se­ne Leser*innen, die mit Pip­pi Lang­strumpf Kind­heits­er­in­ne­run­gen ver­bin­den, sind sich sel­ten bewusst, dass die Pip­pi, an die sie sich so ger­ne erin­nern, mit gro­ßer Wahr­schein­lich­keit nicht die ist, die Kin­dern heu­te begeg­net. Wie die Astrid-Lind­gren-Exper­tin Astrid Surmatz fest­stellt, gehö­ren die deut­schen Fas­sun­gen der Pip­pi-Lang­strumpf-Bücher wohl zu den am häu­figs­ten über­ar­bei­te­ten Über­set­zun­gen der Autorin. Ver­lags­an­ga­ben zu sol­chen Ein­grif­fen sind rar, rück­bli­ckend erscheint der Lind­gren-Exper­tin die Erschlie­ßung der Viel­zahl von Über­ar­bei­tun­gen, Aus­las­sun­gen und Resti­tu­tio­nen wie ein „Puz­zle­spiel in post­mo­der­ner Manier“.1

Aber von Anfang an: Die Über­set­zung der deut­schen Erst­auf­la­ge von 1949 besorg­te Cäci­lie Hei­nig, die Ehe­frau des sozi­al­de­mo­kra­ti­schen Poli­ti­kers Kurt Hei­nig, auf des­sen Ein­la­dung hin Fried­rich Oeting­er nach Schwe­den gereist war. Das Ehe­paar Hei­nig war 1933 aus dem natio­nal­so­zia­lis­ti­schen Deutsch­land zunächst nach Däne­mark, spä­ter wei­ter nach Schwe­den geflo­hen. Dort begann Cäci­lie mit dem lite­ra­ri­schen Über­set­zen. Ihre ers­te Arbeit war Lars Ahlins Tobb mit dem Mani­fest (Tåbb med mani­fes­tet), das 1948 bei Oeting­er erschien. Hei­nig über­setz­te alle drei Pip­pi-Lang­strumpf-Bän­de sowie den ers­ten Band der Kal­le-Blom­quist-Rei­he, bevor sie 1951 verstarb.

Hei­nig war als moder­ne, sozi­al und poli­tisch enga­gier­te Frau sicher­lich emp­fäng­lich für den rebel­li­schen Cha­rak­ter der Haupt­fi­gur des Romans, den sie Fried­rich Oeting­er bei sei­nem Besuch 1949 zunächst kapi­tel­wei­se münd­lich über­setz­te. Den­noch ent­hält ihre Über­set­zung zahl­rei­che Abschwä­chun­gen und Puri­fi­ka­tio­nen, die nicht zuletzt wohl auch auf den Wunsch des Ver­le­gers zurückgingen.

Nach Hei­nigs Tod folg­ten wei­te­re Bear­bei­tun­gen, die die­se Ten­denz ver­stärk­ten und zum Teil zen­sie­ren­den Cha­rak­ter hat­ten. Im Kli­ma der kon­ser­va­ti­ven Nach­kriegs­zeit wur­den Pas­sa­gen umge­schrie­ben, die aus Sicht der Ver­ant­wort­li­chen mög­li­cher­wei­se das Kin­des­wohl gefähr­den könn­ten. Eine der bekann­tes­ten betrifft das letz­te Kapi­tel des ers­ten Ban­des, in dem Pip­pi nicht nur selbst mit einer Pis­to­le schießt, son­dern auch Tom­my und Anni­ka eine anbie­tet. Die Über­ar­bei­tung schiebt die­sem gefähr­li­chen Spiel mit Schuss­waf­fen rigo­ros einen Rie­gel vor, indem sie Pip­pi selbst die Unan­ge­mes­sen­heit die­ses Spiel­zeugs erklä­ren lässt:

Vill ni ha var­sin pis­tol för­res­ten, frå­ga­de hon. Tom­my blev hänf­örd, och Anni­ka ville också gär­na ha en pis­tol, bara den inte var lad­dad.2

Bear­bei­te­te Übersetzung

„Wollt ihr übri­gens jeder eine Pis­to­le haben? Aber nein, ich glau­be, wir legen sie lie­ber wie­der in die Kis­te. Das ist nichts für Kin­der!“3

Aktu­ell erhält­li­che, resti­tu­ier­te Übersetzung

„Wollt ihr übri­gens jeder eine Pis­to­le haben?“, frag­te sie. Tom­my war begeis­tert, und Anni­ka woll­te auch gern eine haben, wenn sie nur nicht gela­den war.4

Die stark päd­ago­gi­sie­ren­de frü­he­re Über­set­zung stellt nicht nur einen deut­li­chen Ein­griff in den Text dar, sie steht auch im kras­sen Gegen­satz zu Pip­pis wei­te­rem Ver­hal­ten. Schließ­lich hat die­se zuvor in der­sel­ben Sze­ne ähn­li­che Beden­ken zum Aus­druck gebracht, nur um sie dann effekt­voll zu ignorieren:

„Låt ald­rig barn hand­skas med skjut­va­pen“, sa Pip­pi och tog en pis­tol i var­de­ra han­den. „I annat fall kan det lätt hän­da en oly­cka“, sa hon och tryck­te av båda pis­to­ler­na på en gång.5

„Kin­dern soll­te man nie­mals Schuss­waf­fen in die Hand geben“, sag­te Pip­pi und nahm in jede Hand eine Pis­to­le. „Sonst kann leicht ein Unglück gesche­hen.“ Und sie drück­te bei­de Pis­to­len zugleich ab.6

Dass die­se Sze­ne nicht eben­falls getilgt wur­de, liegt mög­li­cher­wei­se dar­an, dass hier eben Pip­pi mit der Waf­fe han­tiert, also das Aus­nah­me­mäd­chen, das auch gefahr­los auf Häu­ser­dä­cher klet­tern kann. Der Flie­gen­pilz frei­lich, den sie in einer ande­ren Sze­ne so beden­ken- wie fol­gen­los ver­speist, wird nach Ver­lags­vor­ga­ben in einen ungif­ti­gen Stein­pilz geän­dert – und bleibt dies für die nächs­ten Jahre.

Alle über­set­ze­ri­schen Vor­sichts­maß­nah­men konn­ten jedoch nicht ganz ver­hin­dern, dass auch die ver­meint­lich gezähm­te Pip­pi bei Erschei­nen Wider­spruch aus­lös­te. So nimmt etwa eine Rezen­si­on aus­ge­rech­net an der ent­schärf­ten Pilz-Sze­ne Anstoß, da sie Kin­der dazu ver­füh­ren könn­te, „im Wal­de auch erst ein­mal alle Pil­ze anzu­knab­bern, um fest­zu­stel­len, ob sie gif­tig sind“7. Vor allem Pip­pis man­geln­de Vor­bild­funk­ti­on wird wie­der­holt kri­ti­siert. Im Gegen­satz zu die­sen kri­ti­schen Stim­men ste­hen sol­che, die die inno­va­ti­ven und fan­ta­sie­vol­len Ele­men­te des Romans hervorheben.

Ein Punkt ist jedoch unstrit­tig: Pip­pis über­ra­gen­de Beliebt­heit bei den Leser*innen. Der Roman und sei­ne Fol­ge­bän­de Pip­pi Lang­strumpf geht an Bord und Pip­pi in Taka-Tuka-Land wer­den Ver­kaufs­er­fol­ge, Astrid Lind­gren steigt rasch zu einer der belieb­tes­ten Kin­der­buch­au­torin­nen im deut­schen Sprach­raum auf. In der Schweiz schreibt die Autorin Lisa Tetz­ner gar eine „Lie­bes­er­klä­rung an Pip­pi“8. Ob Pip­pis Durch­bruch nun trotz oder auf­grund der über­set­ze­ri­schen Ein­grif­fe  gelang, lässt sich zwar nicht mit Sicher­heit sagen. Vie­les spricht jedoch dafür, dass Pip­pis rebel­li­scher Cha­rak­ter auch in der ent­schärf­ten deut­schen Fas­sung noch genü­gend Auf­re­gungs­po­ten­ti­al hat­te, um als befrei­end emp­fun­den zu werden. 

Wort­witz und Nonsens

In allen Bän­den zeich­net sich Pip­pi nicht nur durch ihre kör­per­li­che, son­dern auch ihre sprach­li­che Über­le­gen­heit aus. Ihre Aus­drucks­wei­se ist, eben­so wie ihr Ver­hal­ten, non­kon­for­mis­tisch und zeigt, dass sie sich des sub­ver­si­ven Poten­ti­als von Spra­che durch­aus bewusst ist. Die frü­he­ren Über­set­zungs­ver­sio­nen nei­gen bis in die 80er hin­ein dazu, weni­ger Sprach­spie­le zu über­set­zen und Non­sens-Pas­sa­gen ent­we­der abzu­schwä­chen oder ganz aus­zu­las­sen. Ob es sich dabei um eine Anpas­sung an die deut­sche Kin­der­li­te­ra­tur mit ihrer tra­di­tio­nell eher schwach aus­ge­präg­ten his­to­ri­schen Non­sen­s­tra­di­ti­on han­delt oder ob hier schlicht vor man­chen Her­aus­for­de­run­gen kapi­tu­liert wur­de, lässt sich kaum mit Sicher­heit fest­stel­len. Fest steht, dass die deut­sche Pip­pi im Ver­gleich zur schwe­di­schen weni­ger wort­ge­wandt erscheint. So lei­tet etwa Pip­pi im ers­ten Band ihr unkon­ven­tio­nel­les Pfann­ku­chen­ba­cken mit einem kur­zen Gedicht ein:

Nu hade de emel­lert­id kom­mit ut i köket, och Pip­pi skrek:
— Nu ska här bak­as pan­ne­ka­kas,
nu ska här van­kas pan­ne­kan­kas,
nu ska här ste­kas pan­ne­ke­kas.9

In der deut­schen Über­set­zung wird hieraus:

Inzwi­schen waren sie in die Küche gekom­men, und Pip­pi schrie:
„Jetzt woll’n wir Eier­ku­chen backen!“10

Im Schwe­di­schen wird das anschlie­ßen­de slap­stick­ar­ti­ge Gesche­hen, bei dem Pip­pi zunächst ein­mal drei Eier in die Luft wirft, von denen eines prompt auf ihrem Kopf lan­det, bereits durch die Ver­dre­hung des Wor­tes „pann­ka­ka“ ange­deu­tet. Die deut­sche Über­set­zung bleibt hin­ge­gen im norm­sprach­li­chen Bereich, und erst Pip­pis Eier­wurf lei­tet den Über­gang zum anar­chi­schen Back­ver­gnü­gen ein, das alle Regeln hygie­ni­scher und kin­der­si­che­rer Essens­zu­be­rei­tung igno­riert. Erst die Neu­be­ar­bei­tung der 2000er11 lie­fert eine Über­set­zung des Ver­ses, der das vol­le Non­sens-Poten­ti­al der Sze­ne erschließt:

Inzwi­schen waren sie in die Küche gekom­men und Pip­pi schrie:
„Jetzt woll’n wir bra­ten Pfan­ne­kra­ten
Jetzt woll’n wir essen Pfan­ne­kes­sen
Jetzt woll’n wir fut­tern Pfannekuttern.“

Pip­pis Spra­che ist zunächst nicht nur weni­ger wort­spiel­reich und absurd, son­dern auch deut­lich höf­li­cher. In den frü­hen Ver­sio­nen wer­den Erwach­se­ne von ihr häu­fi­ger gesiezt, und ihr Ton­fall ist ins­ge­samt respektvoller.

„Jag skul­le be att få arton kilo kara­mel­ler“, sa Pip­pi och vift­a­de med en gull­peng.12

Bear­bei­te­te Übersetzung

„Ich möch­te um acht­zehn Kilo Bon­bons bit­ten“, sag­te Pip­pi und wink­te mit einem Gold­stück.13

Aktu­ell erhält­li­che Übersetzung

„Ich möch­te acht­zehn Kilo Bon­bons haben“, sag­te Pip­pi und wink­te mit einem Gold­stück.14

Die Pip­pi, die form­voll­endet um acht­zehn Kilo Bon­bons bit­ten möch­te, scheint im Ver­gleich zu der Pip­pi, die schlicht und ein­fach Bon­bons haben möch­te, deut­lich mehr Rück­sicht auf Kon­ven­tio­nen zu neh­men – auch wenn viel­leicht der Kon­trast zu der ver­lang­ten Rie­sen­men­ge an Bon­bons in der frü­he­ren Ver­si­on noch deut­li­cher ausfällt.

Die Pip­pi, die in Deutsch­land all­mäh­lich ihren kin­der­li­te­ra­ri­schen Durch­bruch und schließ­lich den Über­gang zum Klas­si­ker erleb­te, war also eine durch puri­fi­zie­ren­de Über­ar­bei­tun­gen der ursprüng­li­chen Über­set­zung gezähm­te Pip­pi. Auf­säs­sig, selbst­si­cher, aber nicht im Über­maß, grenz­über­schrei­tend, aber nicht ins Bedroh­li­che kip­pend, voll Sprach­witz und Non­sens, aber nicht ins Bei­ßend-Sati­ri­sche abglei­tend – so lässt sich wohl die Text­ge­stalt beschrei­ben, die bis Ende der 1980er ver­kauft und somit prä­gend für eine ganz Gene­ra­ti­on von Lindgren-Leser*innen wurde. 

Dass die­se Ver­si­on nicht dem schwe­di­schen Aus­gangs­text ent­sprach, wur­de schließ­lich öffent­lich­keits­wirk­sam von dem Skan­di­na­vis­ten Hans Rit­te moniert, der in einem Vor­trag die pro­vo­kan­te Fra­ge stell­te: „Ist die deut­sche Pip­pi dem­nach eine Ver­fäl­schung der ‚ech­ten‘ Pip­pi, eine Pip­pi, die nicht nur etwas anders aus­sieht, son­dern auch ein redu­zier­tes Innen­le­ben hat, die mora­li­scher ist als ihr Vor­bild und auch in ihrer Respekt­lo­sig­keit nicht ganz so weit geht?“ (Rit­te 1987, zit. nach Surmatz 2005, 123) Der Vor­trag lös­te eine ver­lags­in­ter­ne Dis­kus­si­on aus und führ­te zu meh­re­ren Rück­nah­men von Über­ar­bei­tun­gen und Kür­zun­gen wie etwa in der Kaf­fee­klatsch­sze­ne, in der Pip­pi wort­reich und mit gro­ßer Dras­tik die (Un-)Tugenden des Haus­mäd­chens Malin beschreibt. Das Detail, dass Malin nicht nur Gäs­te ver­bellt, son­dern sich gar bei einer Gele­gen­heit im Bein der Pas­tors­frau ver­beißt, erscheint tat­säch­lich erst in den deut­schen Aus­ga­ben nach der Jahrtausendwende.

Wäh­rend Pip­pi Lang­strumpf und ihre Autorin in West­deutsch­land mal gelobt, mal umstrit­ten, aber mit gleich­blei­bend gro­ßem Erfolg in den kin­der­li­te­ra­ri­schen Kanon auf­stie­gen, hat­te es die non­kon­for­mis­ti­sche Hel­din in der DDR deut­lich schwe­rer. Der frü­he Vor­stoß des Strind­berg-Über­set­zers Klaus Möll­mann für eine eige­ne Über­set­zung wur­de von dem betref­fen­den Ver­lag rund­weg abge­lehnt. Der Grund: Das Kin­der­buch stim­me „nicht mit den Prin­zi­pi­en der DDR-Päd­ago­gik über­ein“15. Erst im Jahr 1975 erschien eine DDR-Lizenz­aus­ga­be in ver­gleichs­wei­se nied­ri­ger Auf­la­gen­hö­he. Das ent­sprach auch der Emp­feh­lung, die der Autor Ger­hard Holtz-Bau­mert in sei­nem Gut­ach­ten für die Druck­ge­neh­mi­gung aus­ge­spro­chen hat­te. Trotz Vor­be­hal­ten kon­sta­tiert er dort gera­de­zu resi­gniert: „Bis­her fehl­te die klas­si­sche Pip­pi bei uns; der Ver­lag plant eine Aus­ga­be. Vor­bei­ge­hen – so oder so, nicht-dru­cken oder nicht-reagie­ren – kann man wohl nicht mehr.“16 Nolens volens ver­öf­fent­lich­te also der Kin­der­buch­ver­lag Ber­lin einen Sam­mel­band, der die ers­ten bei­den Bän­de, Pip­pi Lang­strumpf und Pip­pi Lang­strumpf geht an Bord, ent­hielt und dabei auf Hei­nigs über­ar­bei­te­te Über­set­zung zurück­griff, wobei das Ein­gangs­ka­pi­tel aus dem zwei­ten Band getilgt wur­de.17

Auch wenn das Buch offen­bar in den Leih­bi­blio­the­ken sehr beliebt war, erreich­te Astrid Lind­gren in der DDR nie die glei­che Popu­la­ri­tät wie in der BRD. Ins­ge­samt wur­den nur vier ihrer Bücher über­setzt, und erst nach der Wie­der­ver­ei­ni­gung setz­te ein Run auf die Bücher der schwe­di­schen Autorin ein, die in West­deutsch­land längst eine kin­der­li­te­ra­ri­sche Insti­tu­ti­on gewor­den war.

Prä­gend für die Kano­ni­sie­rung Lind­grens war ihre berühm­te Rede „Nie­mals Gewalt“, die sie 1978 anläss­lich der Ver­lei­hung des Frie­dens­prei­ses des Deut­schen Buch­han­dels hielt. Die­se Rede soll­te Astrid Lind­grens öffent­li­che Wahr­neh­mung als Sprach­rohr und Anwäl­tin der Kin­der und kin­der­li­te­ra­ri­scher Klas­si­ker­au­torin zemen­tie­ren. Ihre glück­li­che Kind­heit in Vim­mer­by auf dem Hof, der das Vor­bild für die Bul­ler­bü-Roma­ne bil­de­te, gehör­te zu die­ser öffent­li­chen Wahr­neh­mung eben­so wie ihr sozia­les Enga­ge­ment und die Fähig­keit, sich bis ins hohe Alter eine wohl­kul­ti­vier­te „Kind­lich­keit“ zu bewah­ren. Dass die rea­le Kind­heit und Jugend der jun­gen Astrid Erics­son durch­aus nicht nur idyl­lisch ver­lief, wur­de jah­re­lang aus­ge­blen­det. Auch von der Autorin selbst, die über wun­de Punk­te ihrer Bio­gra­fie wie die Geburt des ers­ten Soh­nes, der als unehe­li­ches Kind von ihr getrennt auf­wuchs, oder die Alko­hol­sucht ihres Ehe­man­nes nicht öffent­lich sprach. In der Lite­ra­tur hin­ge­gen fand sie Wege, die­se Pro­ble­ma­ti­ken auf­zu­grei­fen und zu verarbeiten.

Ein dif­fe­ren­zier­te­res Bild von Astrid Lind­gren ent­wi­ckel­te sich erst eini­ge Jah­re nach ihrem Tod. Mit der deut­schen Ver­öf­fent­li­chung der Ur-Pip­pi 2007 konn­ten Inter­es­sier­te nun die Ent­ste­hung die­ses lite­ra­ri­schen „Kind[es] des Jahr­hun­derts“18 nach­voll­zie­hen – und dabei fest­stel­len, dass auch Lind­gren an dem von ihr ver­öf­fent­lich­ten Manu­skript eini­ge Zäh­mun­gen vor­ge­nom­men, poli­ti­sche Anspie­lun­gen redu­ziert, aber vor allem den Cha­rak­ter der Pip­pi wei­ter­ent­wi­ckelt hat­te. Aus einem durch­gän­gig fre­chen Mäd­chen mit einem gna­den­lo­sen und manch­mal gera­de­zu bos­haf­ten Humor wird in der Buch­fas­sung eine lie­be­vol­le Freun­din, die sich kon­se­quent für die Schwä­che­ren ein­setzt. Die Ver­öf­fent­li­chung von Lind­grens Kriegs­ta­ge­bü­chern19 erlaub­te einen neu­en Blick auf die Autorin und die Jah­re, in denen Pip­pi ent­stand. Im Sin­ne die­ser dif­fe­ren­zier­te­ren Vor­stel­lung von Pip­pi Lang­strumpf und ihrer Schöp­fe­rin sind auch die ab 2009 erschie­ne­nen Auf­la­gen der Pip­pi-Bän­de dem schwe­di­schen Aus­gangs­text deut­lich näher. Gleich­zei­tig sind die­se Neu­auf­la­gen nun wie­der in das Zen­trum öffent­li­cher Dis­kus­sio­nen gerückt.

N‑Wort und Südseekönig

Im Mit­tel­punkt steht hier­bei die Bezeich­nung für Pip­pis Vater Efra­im Lang­strumpf, der im Schwe­di­schen als „neger­kung“ bezeich­net wird – ein Wort, das bis dahin in allen west­deut­schen Aus­ga­ben mit dem Aus­druck „Neger­kö­nig“ über­setzt wur­de. Die Pro­ble­ma­tik die­ser Über­set­zung war dem Oeting­er Ver­lag offen­kun­dig seit Län­ge­rem bewusst. Schließ­lich wird bereits in der Aus­ga­be von Pip­pi Lang­strumpf geht an Bord von 1986 in einer Fuß­no­te dar­auf hin­ge­wie­sen, dass der Aus­druck nicht mehr gebräuch­lich ist. Als abwer­tend oder gar ras­sis­tisch wird er jedoch nicht ein­ge­ord­net, son­dern statt­des­sen als zeit­ty­pi­scher Sprach­ge­brauch gewer­tet: „in die­sem und fol­gen­den Kapi­teln wird der Aus­druck ‚Neger‘ ver­wen­det. Als Astrid Lind­gren Pip­pi Lang­strumpf geschrie­ben hat, war das noch üblich. Heu­te wür­de man ‚Schwar­ze‘ sagen.“20 In der DDR-Aus­ga­be hin­ge­gen ver­wen­de­te man von vorn­her­ein die neu­tra­le Bezeich­nung „König“, sei­ne Unter­ta­nen wer­den schlicht als „Leu­te“ bezeich­net. Frei von Ras­sis­men ist jedoch auch die­se Aus­ga­be nicht, wird doch in der Beschrei­bung von Mal­ins dre­cki­ger Haut, die mit der einer Schwar­zen ver­gli­chen wird, das N‑Wort verwendet.

Kri­tik an der Wort­wahl von Pip­pi Lang­strumpf hat­te es bereits seit den 1980ern gege­ben. Doch erst 2009 reagier­te der Ver­lag mit der Ände­rung zum „Süd­see­kö­nig“. Mit­tel­punkt eines grö­ße­ren Medi­en­in­ter­es­ses wur­de die­se Bear­bei­tung, als vier Jah­re spä­ter der Thie­ne­mann Ver­lag ankün­dig­te, in Otfried Preuß­lers Die klei­ne Hexe ähn­li­che Ände­run­gen vor­neh­men zu wol­len. Dass die fol­gen­de Debat­te der­art erbit­tert aus­fiel, lässt sich nur zum Teil mit dem emo­tio­na­len Wert von Kind­heits­er­in­ne­run­gen erklä­ren. Viel­mehr erscheint es min­des­tens bemer­kens­wert, dass bei einem Werk, an dem im Lau­fe der Jah­re der­art vie­le, zum Teil gra­vie­ren­de Text­ein­grif­fe vor­ge­nom­men wur­den, aus­ge­rech­net jene Ände­run­gen am hef­tigs­ten dis­ku­tiert wer­den, die die Til­gung ras­sis­ti­scher Begrif­fe betreffen.

Es gehört wohl zu den Eigen­tüm­lich­kei­ten der lan­gen und wech­sel­vol­len Über­set­zungs­ge­schich­te von Pip­pi Lang­strumpf, dass nun aus­ge­rech­net die Fas­sung, die sich am engs­ten am schwe­di­schen Aus­gangs­text ori­en­tiert, am schärfs­ten für eine ver­meint­lich man­geln­de Text­treue kri­ti­siert wird.  Und es gehört zu den Wider­sprüch­lich­kei­ten der Autorin Astrid Lind­gren, dass die Frau, die stets für Tole­ranz und Respekt ein­ge­tre­ten war, sich zeit­le­bens nicht dazu durch­rin­gen konn­te, mitt­ler­wei­le ein­deu­tig ras­sis­tisch beleg­te Wör­ter aus ihren Tex­ten zu til­gen. Letzt­end­lich ist es dem Ein­se­hen ihrer Erben zu ver­dan­ken, die schließ­lich die Geneh­mi­gung zu einer Text­än­de­rung gaben – und damit mög­li­cher­wei­se den Klas­si­ker davor bewahr­ten, vor sei­ner Zeit aus­ge­mus­tert zu wer­den. Mög­li­cher­wei­se, denn eine – durch­aus berech­tig­te – Kri­tik an den Pip­pi-Bän­den lau­tet: Nur die Bezeich­nun­gen aus­zu­tau­schen ändert nichts am kolo­nia­lis­ti­schen Den­ken, das an eini­gen Stel­len durch­scheint. Auch als Süd­see­kö­nig bleibt der wei­ße Efra­im Lang­strumpf unum­strit­te­ner „Allein­herr­scher“ über jene Men­schen, an deren Hei­mat­strand er ange­spült wur­de. Zwar wer­den hier, wie so oft bei Lind­gren, offen­kun­dig auch kind­li­che All­machts­phan­ta­sien bedient. Aber das Gefäl­le zwi­schen ihm und den „Ein­ge­bo­re­nen“, die sich wil­lig von einem wei­ßen „König“ regie­ren las­sen, bleibt in all sei­ner Pro­ble­ma­tik bestehen.

Lind­gren hat­te immer ein enges und streit­ba­res Ver­hält­nis zu ihren Tex­ten, sie dis­ku­tier­te leb­haft mit Ver­la­gen und Übersetzer*innen, wenn ihr deren Ent­schei­dun­gen nicht zusag­ten. Nach ihrem Tod ist es zwar nicht mehr mög­lich, sie selbst zu befra­gen, wohl aber, kri­ti­sche Fra­gen an ihre Tex­te zu stel­len und sie auch als Über­set­zun­gen mit einer his­to­ri­schen Ent­wick­lung zu lesen. Gera­de im Fall von Pip­pi Lang­strumpf ist die kom­pli­zier­te Über­set­zungs­ge­schich­te viel­leicht der Schlüs­sel, um die der­zeit lau­fen­de Debat­te um Ras­sis­mus und kolo­nia­le Struk­tu­ren in der Kin­der­li­te­ra­tur (bes­ser) zu ver­ste­hen. Denn sie macht eines deut­lich: Die Pip­pi Lang­strumpf, deren Text es gegen ideo­lo­gi­sche Ver­ein­nah­mun­gen zu ver­tei­di­gen gilt, gibt es nicht. Sie ist selbst das Pro­dukt wie­der­hol­ter, ideo­lo­gisch moti­vier­ter Ein­grif­fe, Über­ar­bei­tun­gen und (Neu-)Übersetzungen. Umso erstaun­li­cher, dass ihre sub­ver­si­ve Kraft, ihr Witz und nicht zuletzt ihre zutiefst huma­ne Grund­ein­stel­lung sämt­li­che Ein­grif­fe über­dau­ern konn­ten. Das macht Hoff­nung, dass Pip­pi Lang­strumpf auch in die­sem Jahr­hun­dert hei­misch wer­den kann.


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  1. Astrid Surmatz: Pip­pi Långs­trump als Para­dig­ma. Die deut­sche Rezep­ti­on Astrid Lind­grens und ihr inter­na­tio­na­ler Kon­text. Tübin­gen, Basel: A. Fran­cke 2005, S. 162. Surmatz‘ Mono­gra­phie bie­tet die wohl detail­reichs­te Unter­su­chung zur Über­set­zungs­ge­schich­te von Pip­pi Lang­strumpf bis 1999.
  2. Astrid Lind­gren: Pip­pi Långs­trump. Rabén & Sjögren 1945, S. 172.
  3. Astrid Lind­gren: Pip­pi Lang­strumpf. Über­setzt von Cäci­lie Hei­nig. Ham­burg: Oeting­er 1957, S. 205.
  4. Astrid Lind­gren: Pip­pi Lang­strumpf. Über­setzt von Cäci­lie Hei­nig. Ham­burg: Oeting­er 2007, S. 138/139. Die­se Fas­sung ent­spricht der ursprüng­li­chen Über­set­zung der Erst­aus­ga­be (Lind­gren: Pip­pi Lang­strumpf. Ham­burg: Oeting­er 1949, S. 205).
  5. Lind­gren 1945, 127.
  6. Lind­gren 2007, S. 138.
  7. Ursel Wulf: „Astrid Lind­gren: Pip­pi Lang­strumpf“. Rezen­si­on in Büche­rei und Bil­dung (1950), S. 804–805.
  8. Lisa Tetz­ner: „Lie­bes­er­klä­rung an Pip­pi“. In: Jugend­schrif­ten-War­te (1953) 11, S. 8–9.
  9. Lind­gren 1945, 17.
  10. Astrid Lind­gren: Pip­pi Lang­strumpf. Ham­burg: Oeting­er 1949, S. 18.
  11. Laut Surmatz lehn­te der Oeting­er Ver­lag im Über­ar­bei­tungs­ma­nu­skript von 1988 die Über­tra­gung des Non­sens-Ver­ses wegen „Unüber­setz­bar­keit“ ab. (Surmatz 2005, 135/135)
  12. Astrid Lind­gren: Pip­pi Långs­trump går ombord. Stock­holm: Rabén & Sjögren 2001 (1946), S. 22.
  13. Astrid Lind­gren: Pip­pi Lang­strumpf geht an Bord. Über­setzt von Cäci­lie Hei­nig. Ham­burg: Oeting­er 1958, S. 30.
  14. Astrid Lind­gren: Pip­pi Lang­strumpf geht an Bord. Über­setzt von Cäci­lie Hei­nig. Ham­burg: Oeting­er 2007, S. 26.
  15. Vgl. Surmatz 2005, 127/128.
  16. Zitiert nach Caro­li­ne Roe­der: „Archi­va­li­sches zur Astrid Lind­gren-Rezep­ti­on in der DDR“. In: Astrid Lind­gren – Werk und Wir­kung. Inter­na­tio­na­le und inter­kul­tu­rel­le Aspek­te. Hrsg. von Sven­ja Blu­me, Bet­ti­na Küm­mer­ling-Mei­bau­er, Ange­li­ka Nix. Peter Lang 2009, S. 105–122, hier S. 113.
  17. Iro­ni­scher­wei­se erschien Pip­pi in der DDR zu einem Zeit­punkt, als sie im Wes­ten gera­de aus Sicht einer mar­xis­ti­schen Lite­ra­tur­wis­sen­schaft in die Kri­tik gera­ten war. War zuvor Pip­pis Infra­ge­stel­lung der Nor­men und Insti­tu­tio­nen der Erwach­se­nen­welt als gefähr­lich erschie­nen, schien genau die­se plötz­lich nicht weit genug zu gehen. Pip­pis kar­ne­val­eskes Unter­lau­fen gesell­schaft­li­cher Ritua­le erschien aus die­ser Per­spek­ti­ve als Ven­til für die bür­ger­li­che Unord­nung, die gera­de dadurch letzt­lich auf­recht erhal­ten würde.
  18. Vgl. Lund­q­vist, Ulla: Århund­ra­dets barn. Fen­ome­net Pip­pi Långs­trump och dess förut­sätt­nin­gar. Mal­mö 1979 sowie Ange­li­ka Nix: Das Kind des Jahr­hun­derts im Jahr­hun­dert des Kin­des. Zur Ent­ste­hung der phan­tas­ti­schen Erzäh­lung in der schwe­di­schen Kin­der­li­te­ra­tur. Rom­bach 2002.
  19. Astrid Lind­gren: Die Mensch­heit hat den Ver­stand ver­lo­ren. Tage­bü­cher 1939 – 1945. Aus dem Schwe­di­schen von Ange­li­ka Kutsch und Gabrie­le Haefs. Ull­stein 2015.
  20. Astrid Lind­gren: Pip­pi Lang­strumpf geht an Bord. Über­setzt von Cäci­lie Hei­nig. Ham­burg: Oeting­er 1987, S. 10.

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