In der Reihe „Mein erstes Mal“ berichten Übersetzer:innen von ihrer ersten literarischen Übersetzung. Sie plaudern aus dem Nähkästchen, berichten von den Leiden des jungen Übersetzer:innenlebens und verraten, in welche Falle man als Anfänger:in bloß nicht tappen sollte. Alle Beiträge der Reihe sind hier nachzulesen.
Zum Übersetzen kam ich durch Glück oder Zufall oder mehrere glückliche Zufälle. Nach dem bilingualen Abitur wollte ich am liebsten „irgendwas mit Büchern“ und „irgendwas mit Englisch“ machen. Nur, was wird man da? Lektorin? Autorin? Lehrerin? Ich war schon halb fürs Lehramtsstudium eingeschrieben, als eine Klassenkameradin erzählte, sie habe sich an der Uni Düsseldorf für den Diplomstudiengang Literaturübersetzen beworben. Davon hatte ich noch nie gehört, aber es klang wie für mich gemacht. Ich wohnte damals am Essener Stadtrand, musste also nicht mal umziehen und pendelte bald mit der Bahn zur Uni. Unterwegs hatte ich genug Zeit für Seminarvorbereitungen und vor allem für eins: Lesen!
In neun Semestern Regelstudienzeit gab es zwei verpflichtende sogenannte „Praktika“ im Europäischen Übersetzer-Kollegium Straelen am Niederrhein. Bei diesen fünftägigen Seminaren mit Übersetzungsprofis durften wir unser theoretisches und an Klassikern geschultes Wissen praktisch anwenden. Die Profis brachten Texte aus ihrer eigenen Werkstatt mit, und es ging endlich nicht mehr darum, irgendeine grammatische Form zu erkennen und zu markieren oder Satzstrukturen möglichst genau nachzubilden, sondern darum, einen im Deutschen funktionierenden Gesamttext zu schaffen.
Eins der Praktika leitete Ulrich Blumenbach. Er hatte unter anderem Texte von Stephen Fry und David Foster Wallace im Gepäck und kam am Ende des Seminars auf eine Kommilitonin und mich zu und fragte, ob er uns an Verlage empfehlen dürfe, da er mit unseren Übersetzungen sehr zufrieden gewesen sei. Natürlich durfte er, und so empfahl er uns gleich an zwei Schweizer Verlage: Diogenes und Kein & Aber. Doch daraufhin herrschte erst einmal Schweigen im Walde, und wir studierten weiter. Vier Monate später dann eine E‑Mail von Diogenes! Sie suchten junge Übersetzerinnen und wollten eine Probe. Wie gewünscht übersetzte ich ein Stück aus einem Roman, der bald erscheinen sollte, und der Lektorin gefiel die Probe zwar, nur hatte sie gerade kein konkretes Projekt, das sie mir anbieten konnte. Eine Achterbahnfahrt der Gefühle, aber die nächste Chance ließ nicht lange auf sich warten. Zwei Wochen später saß ich, zu Besuch bei einer Freundin, auf einer winzigen kroatischen Insel im Café. Keiner in der Runde hatte ein Smartphone, an Daten-Roaming war sowieso nicht zu denken, und überhaupt war Kroatien der EU noch nicht mal beigetreten. Ich checkte also über das Café-WLAN am Laptop meines Freundes E‑Mails, und da war sie, die Mail. Kein & Aber hatte zwei Debüts von jungen Autorinnen eingekauft und suchte dafür zwei junge Übersetzerinnen. Wie gemacht für meine Kommilitonin und mich. Ulrich Blumenbach bot ein Vorlektorat an, um die Qualität für den Verlag zu gewährleisten, doch nach einer Probeübersetzung der ersten zwanzig Seiten befand die zuständige Lektorin das für überflüssig.
Meine Debütautorin war Rebecca Wait, Engländerin und wie ich 1988 geboren. The View on the Way Down hieß der Roman, der 2013 bei Picador erscheinen sollte. Er handelt von einer fünfköpfigen Familie, die nach dem Tod des ältesten Sohnes auseinanderbricht. Eindringlich, aber nicht ohne Witz beschreibt Wait darin Trauer, Depressionen, Panikattacken und Mobbing-Erfahrungen. Bis heute sind mir die Briefe, in denen der jüngere Sohn dem Vater beschreibt, wie er die psychische Erkrankung und den Tod seines Bruders erlebt hat, im Gedächtnis geblieben. Der Humor, der das düstere Thema immer wieder auflockert und insbesondere in den Dialogen zum Tragen kommt, war eine der Schwierigkeiten, die es zu bewältigen galt. Denn für zündende Witze muss das Timing stimmen, und idiomatisch soll es dabei möglichst auch noch sein. Gar nicht so einfach, alles unter einen Hut zu bekommen, merkte ich. Die Bibelvernarrtheit der Tochter stellte mich zudem vor die Frage, welche der vielen Übersetzungen denn nun die „richtige“ sei. Oft war die Lutherbibel der englischen Fassung am nächsten, doch nach einigem Vergleichen der zitierten Passagen entschied ich mich für die Einheitsübersetzung. Dass die Autorin und ich gleich alt waren, merkte ich vor allem anhand von Realien wie Videospielen und Büchern, die ich selbst gespielt und gelesen hatte, und daran, dass die lockere Umgangssprache der jüngeren Figuren mir besonders leicht von der Hand ging.
Die Arbeit an der Übersetzung erfolgte zum größten Teil am Küchentisch, der neben Büro, Sofa und Bett auch heute noch mein liebster Arbeitsplatz ist. Für die finale Überarbeitung im Dezember meldete ich mich zusammen mit meiner Kommilitonin für zwei Wochen im Europäischen Übersetzer-Kollegium an. Bei unseren Seminaren hatten wir immer sehnsüchtig ins Haupthaus geschielt, und endlich durften wir auch einmal dort leben und arbeiten, uns mit erfahrenen Kolleginnen und Kollegen austauschen und in feuchtfröhlicher Runde die Straelen-Atmosphäre genießen. Ich weiß noch, dass in diesen zwei Wochen der erste Schnee fiel und wir am Ende unseres Aufenthalts tatsächlich die fertigen Übersetzungen abgaben.
Kopfüber zurück, wie das Buch nach langer Titelsuche heißen sollte, ist für mich nicht nur eine besondere Übersetzung, weil sie meine erste war, sondern auch, weil sie nach Abnahme durch die Lektorin zunächst in der Verlagsschublade verschwand. Aus programmplanerischen Gründen musste die Veröffentlichung mehrfach verschoben werden, und es passierte wieder einmal gar nichts – ein ziemlicher Dämpfer nach der erfolgreich bewältigten Langstrecke von über 300 Seiten.
Wie verabredet meldete ich mich nach der Abgabe wieder bei Diogenes, und siehe da, sie hatten in der Zwischenzeit tatsächlich einen Roman akquiriert, den ich übersetzen sollte: The Unknowns von Gabriel Roth. Er handelt von einem Nerd, der mit dem Verkauf eines selbstgeschriebenen Computerprogramms reich wird und nach langer Durststrecke endlich eine Freundin findet. Doch plötzlich stellt sich die Frage, ob diese wirklich eine traumatische Kindheit hatte oder ob ihr die Erinnerungen daran in einer Therapie eingepflanzt wurden. Programmiererslang und Fachbegriffe aus der Psychologie waren diesmal die Hauptschwierigkeiten, denen ich mit Hilfe auskunftswilliger Informatikerfreunde und intensiver Internetrecherche zu Leibe rückte. Gleichung mit einer Unbekannten, so der deutsche Titel, wurde meine erste Übersetzung, die es im Laden zu kaufen gab. Aufregend war das!
Zwei Jahre lang tauchte ich mit Haut und Haaren in die Praxis ein und verlor die Uni ziemlich aus den Augen, doch kurz bevor der Diplomstudiengang auslief und aufs neue Master-System umgestellt wurde, ging ich schweren Herzens zurück. Mitten in den Prüfungsvorbereitungen tauchte das in der Schublade verschwundene Buch wieder auf. Eine engagierte junge Lektorin hatte es übernommen, und wir schickten uns das Manuskript einen Monat lang hin und her. Gegen Ende schrieb ich: „Inzwischen glaube ich fast, es wäre schneller gegangen, das ganze Buch neu zu übersetzen“, was rückblickend betrachtet natürlich Quatsch ist – so viel gab es gar nicht zu tun. Doch ich hatte beim Übersetzen und Lektoriertwerden mittlerweile dazugelernt, sodass ich nicht anders konnte, als jedes Wort noch einmal unter die Lupe zu nehmen.
Wenn ich Kopfüber zurück heute aufschlage, könnte ich es mir wieder Satz für Satz vornehmen und würde natürlich jede Menge ändern. Ein bisschen mehr Abstand vom Text hätte sicher nicht geschadet, hier und da hätte ich mich weiter von der Satzstruktur des Originals lösen können, fallen mir idiomatischere Lösungen ein. Auch Wortwiederholungen, die mir heute ein Dorn im Auge sind, hatte ich noch nicht so recht auf dem Schirm. Aber insgesamt finde ich es doch erstaunlich und erfreulich, wie zufrieden ich nach wie vor bin.
Dieses Jahr ist meine erste Romanübersetzung zehn Jahre her. Seitdem bin ich zum Dauergast im Übersetzer-Kollegium geworden und habe etwa 30 Bücher aus dem Englischen ins Deutsche übertragen. Aus zeitlichen Gründen konnte ich leider keinen weiteren Text von Rebecca Wait übernehmen, dabei erscheint diesen Monat mit Meine bessere Schwester schon ihr dritter Roman auf Deutsch. Die Übersetzung stammt diesmal übrigens aus der Feder von Anna-Christin Kramer, der Kommilitonin, mit der ich damals bei Kein & Aber und in Straelen angefangen habe. Und so schließt sich der Kreis.