„Lesen Sie eine Seite!“

Marcel Prousts Jahrhundertroman „Auf der Suche nach der verlorenen Zeit“ liegt in zwei vollständigen deutschen Übersetzungen vor. Zum 100. Todestag des Schriftstellers haben wir seinen beiden deutschen Stimmen einen Fragebogen vorgelegt. Hier die Antworten von

Die Übersetzung von Eva Rechel-Mertens und Luzius Keller liegt bei Suhrkamp in mehreren Ausgaben vor. Hier die dreibändige Schmuckasugabe in Kassette. Noch mehr Bookporn gibt es bei Youtube. Foto: Suhrkamp.

Was haben Sie zuletzt über Mar­cel Proust dazu­ge­lernt?
Dass Ago­s­ti­nel­li 1913 nicht bei Proust, son­dern (zusam­men mit sei­ner Lebens­ge­fähr­tin Anna) in einem Hotel bei der Gare de l’Est logier­te und dass er, nach sei­ner Abrei­se im Dezem­ber, im Janu­ar 1914 nach Paris zurück­kehr­te, wo er bis Mit­te April bei Proust wohn­te und arbeitete.

Und was bleibt Ihnen immer noch ein Rät­sel?
Ein Wort («Vivan­di») im ers­ten Satz des Kapi­tels «Ein Diner bei Madame Mar­met» von Jean San­teuil (S. 747).

Ihr Lieb­lings­schrift­stel­ler (außer Mar­cel Proust)?
Weder Proust noch ein anderer.

Ihre Lieb­lings­far­be?
Die rhe­to­ri­sche: color rhetoricus.

Ihre Lieb­lings­blu­me?
Die rhe­to­ri­sche: flos rhetorica.

Ihr Vor­bild?
Habe kei­nes.

Wel­che Eigen­schaf­ten schät­zen Sie bei Über­set­zern am meis­ten?
Beschei­den­heit und Hartnäckigkeit.

Wor­auf sind Sie stolz?
Auf die Frank­fur­ter Aus­ga­be der Wer­ke Mar­cel Prousts.

Und was ist Ihr gröss­ter Feh­ler?
Stolz, Stolz auf anstatt Dank­bar­keit für die Frank­fur­ter Ausgabe.

Wel­che Feh­ler ent­schul­di­gen Sie am ehes­ten, ob beim Über­set­zen oder im Leben?
Alle aus­ser Überheblichkeit.

Wel­che Rol­le spielt das Über­set­zen – als The­ma oder Meta­pher – in der Recher­che?
„Pflicht und Auf­ga­be eines Schrift­stel­lers sind die eines Über­set­zers.“ Ger­ne fühlt sich der Über­set­zer durch die­sen Satz aus der Wie­der­ge­fun­de­nen Zeit (S. 294) nobi­li­tiert; über­set­zen meint hier aber „über­tra­gen“ der inne­ren Welt in Lite­ra­tur (oder eine ande­re Kunst).

Ihre Lieb­lings­fi­gur in der Recher­che?
Aus­ser Mar­cels Gros­mut­ter und viel­leicht Sani­et­te sind die Figu­ren der Recher­che kei­ne Sym­pa­thie­trä­ger. Als Geschöp­fe ihres Schöp­fers sind mir aber alle lieb, beson­ders die Spie­gel­fi­gu­ren Mar­cels und Mar­cel Prousts: Swann, Bloch, Andrée, Tan­te Léo­nie … und war­um nicht auch der mit Mar­cel ent­fernt namens­ver­wand­te Morel.

Der schöns­te Satz der Recher­che?
Irgend­ei­ner, beson­ders aber die Schluss­sät­ze mit ihren Poin­ten, die man in der Über­set­zung oft nur mit Mühe an den Satz­schluss bringt. Bei­spiel: der Schluss­satz der Pas­sa­ge über die Kir­che von Com­bray in Swann (S. 99)

Und der schwie­rigs­te?
Dito. Bei­spiel: Der Schluss­satz über die Phra­sen Cho­pins in Swann (S. 480) mit der­sel­ben Poin­te (Herz) wie das vor­an­ge­hen­de Bei­spiel, die ich aber mit Rück­sicht auf den Satz­fluss hier nicht an den Schluss gesetzt habe.

Was sagen Sie Men­schen, die sich nicht an 6000 Sei­ten ver­lo­re­ne Zeit her­an­trau­en?
Ent­we­der: Nur Mut, es sind in der Frank­fur­ter Aus­ga­be nur 4‘528 Sei­ten.
Oder: Lesen Sie ein­fach ein­mal eine Seite!

Wel­ches Gericht soll­te man zur Lek­tü­re der Recher­che kochen?
Das­sel­be wie jenes zum Schrei­ben der Recher­che: Milch­kaf­fee + Hörnchen.

Wel­che Musik soll­te man dazu hören?
Jene Prousts. Also laut lesen!

Das bes­te Buch über Proust?
Beschei­den­heit ver­bie­tet mir eine Antwort.

Die bes­te Umset­zung der Recher­che in ande­re Medi­en (Film, Hör­spiel, Comic …)?
Per­cy Adlon: Céles­te.

Was schät­zen Sie an Bern-Jür­gen Fischers Über­set­zung der Recher­che?
Dass in ihr für Alber­ti­nes schreck­li­ches me fai­re cas­ser le pot jetzt – im Gegen­satz zu den vor­an­ge­hen­den Über­set­zun­gen – etwas dem Argot wirk­lich Ent­spre­chen­des, eben­so Schreck­li­ches steht: mir ordent­lich die Pfan­ne put­zen las­sen.

Und was an Ihrer eige­nen Aus­ga­be?
Den Kom­men­tar.

Mit Abstand von 20 Jah­ren: Haben Sie Rechel-Mer­tens irgend­wo ver­schlimm­bes­sert?
Ja. Im Dra­ma des Zubett­ge­hens erklärt Fran­çoi­se, der maît­re d’hôtel kön­ne Mar­cels Brief im Augen­blick nicht über­ge­ben. Eva Rechel-Mer­tens über­setzt mit Die­ner. In der Mei­nung, bei Tan­te Léo­nie gebe es kei­nen Die­ner und Fran­çoi­se spre­che iro­nisch von sich sel­ber, über­setz­te ich mit Haus­hof­meis­ter (Swann, S. 45). Die­ner ist richtig!

Was wür­den Sie Mar­cel Proust ger­ne fra­gen? Was wür­den Sie ihm ger­ne sagen?
Per­sön­li­che Begeg­nun­gen mit Autoren sind oft ent­täu­schend. So ver­zich­te ich lie­ber auf eine sol­che mit Mon­sieur Mar­cel Proust. Soll­ten sich unse­re Wege aber trotz­dem ein­mal kreu­zen, wür­de ich ihn fra­gen: Was ist ein(e) Vivan­di, wür­de mich für die Ant­wort bedan­ken und mei­nes Weges weiterziehen.


Luzi­us Keller

Luzi­us Kel­ler, 1938 in Zürich gebo­ren, stu­dier­te Roma­nis­tik und Kom­pa­ra­tis­tik in Zürich, Genf und Flo­renz. Nach einer Assis­tenz bei Peter Szon­di an der Frei­en Uni­ver­si­tät Ber­lin lehr­te er von 1970 bis 2003 – mit Unter­bre­chun­gen durch Stu­di­en­auf­ent­hal­te in den USA und eine Gast­pro­fes­sur an der Uni­ver­si­tät Paris VIII – Neue­re Fran­zö­si­sche Lite­ra­tur an der Uni­ver­si­tät Zürich. Er ver­öf­fent­lich­te zahl­rei­che Bücher zu Mar­cel Proust, u. a. die Frank­fur­ter Aus­ga­be in 14 Bän­den (1988–2007) und das Mar­cel Proust Alpha­bet (2022). Seit sei­ner Eme­ri­tie­rung wid­met er sich zudem der Her­aus­ga­be und Über­set­zung von Schwei­zer Lyrik, u. a. jener der räto­ro­ma­ni­schen Gedich­te der Enga­di­ner Dich­te­rin Lui­sa Famos (2019).

Foto: Yvonne Böhler

Mar­cel Proust | Eva Rechel-Mer­ten­s/Lu­zi­us Kel­ler

Auf der Suche nach der ver­lo­re­nen Zeit

Im fran­zö­si­schen Ori­gi­nal: À la recher­che du temps per­du

Suhr­kamp 2017 ⋅ 3 Bän­de im Schu­ber ⋅ 5200 Sei­ten ⋅ 49,95 Euro


Zwi­schen den Zeilen

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