Auf dem Weg zum Leuchtturm

Antje Rávik Strubel, die im vergangenen Jahr den Deutschen Buchpreis erhielt, hat Virginia Woolfs Roman „Zum Leuchtturm“ neu übersetzt. Ein Vergleich mit älteren Übersetzungen. Von

Virginia Woolfs „Die Fahrt zum Leuchtturm“ führt übers Meer. Hintergrundbild: Conor Sexton via Unsplash

Wer sich auf die Suche nach einer deutsch­spra­chi­gen Über­set­zung von Vir­gi­nia Woolfs Meis­ter­werk To the Light­house begibt, schei­tert womög­lich bereits am Titel. Denn der Roman ist im deutsch­spra­chi­gen Raum unter zwei Titeln bekannt, die sich ähneln, aber kei­nes­wegs gleich sind. Je nach­dem, wel­cher einem geläu­fi­ger ist, lan­det man ent­we­der bei den älte­ren Über­set­zun­gen, die als Die Fahrt zum Leucht­turm erschie­nen sind, oder bei den moder­nen Fas­sun­gen mit dem ver­kürz­ten und prä­zi­se­ren Titel Zum Leucht­turm.

In dem 2021 erschie­nen Roman Never­mo­re, des­sen deutsch­spra­chi­ge Über­set­zung von Anne Weber den Preis der Leip­zi­ger Buch­mes­se erhielt, jon­gliert Céci­le Wajs­brots Erzäh­le­rin mit den ver­schie­de­nen Titeln von To The Light­house, die der Roman nicht nur im Deut­schen, son­dern auch im Fran­zö­si­schen und Ita­lie­ni­schen trägt: Ist es „ein Spa­zier­gang zum Leucht­turm“ (La pro­me­na­de au pha­re); ein Aus­flug zum Leucht­turm“ (Gita al faro) oder dann doch bes­ser Die Fahrt zum Leucht­turm? Wajs­brot wid­met ihren Roman solch sti­lis­ti­schen Fra­gen und the­ma­ti­siert das Für und Wider einer Über­set­zung, indem sie Sät­ze aus dem woolf­schen Ori­gi­nal in meh­re­ren Vari­an­ten ins Fran­zö­si­sche über­trägt und zeigt, wie schier unbe­grenzt die Mög­lich­kei­ten beim Über­set­zen sind. Kein Wun­der also, dass ihre Erzäh­le­rin zu fol­gen­dem Fazit gelangt: Über­set­zung ist eine unge­naue Wis­sen­schaft, ein immer neu nicht zum Schei­tern, aber zur Unvoll­kom­men­heit ver­damm­ter Ver­such“ (Ü: Anne Weber).

Neu­über­set­zun­gen sind im Prin­zip nichts wei­ter als ein erneu­ter, „ver­damm­ter“ Ver­such der Über­tra­gung. Unvoll­kom­men ist kei­ne Über­set­zung, im Ide­al­fall eröff­net eine Neu­über­set­zung schlicht neue Inter­pre­ta­ti­ons­mög­lich­kei­ten des Tex­tes. Oder wie Alex­an­dra Ber­li­na auf Babel­werk schreibt: Jede Über­set­zung soll­te etwas lie­fern, was die andere(n) Übersetzung(en) nicht haben.“

Obwohl To The Light­house als Vir­gi­nia Woolfs Meis­ter­werk gilt, ist die Anzahl der deutsch­spra­chi­gen Über­set­zun­gen bis­lang über­schau­bar, vor allem im Ver­gleich mit Woolfs ande­ren Roma­nen wie Mrs. Dal­lo­way oder Orlan­do. Es exis­tie­ren ledig­lich zwei älte­re Über­set­zun­gen durch Karl Lerbs und das Über­set­zer­ehe­paar Her­berth und Mar­lys Her­lit­sch­ka sowie eine neue­re Über­set­zung durch Karin Kers­ten und die vor weni­gen Wochen erschie­ne­ne Über­tra­gung durch Ant­je Rávik Stru­bel, die auch Joan Did­ion und Lucia Ber­lin über­setzt hat:

Vir­gi­nia Woolf: Zum Leucht­turm, über­setzt von Ant­je Rávik Stru­bel (2022; Ver­lag: Ana­con­da)
Vir­gi­nia Woolf: Zum Leucht­turm, über­setzt von Karin Kers­ten (1993; Ver­lag: Fischer)
Vir­gi­nia Woolf: Die Fahrt zum Leucht­turm, über­setzt von Her­berth Her­lit­sch­ka und Mar­lys Her­lit­sch­ka (1956; Ver­lag: Fischer)
Vir­gi­nia Woolf: Die Fahrt zum Leucht­turm, über­setzt von Karl Lerbs (1931; Ver­lag: Insel)

Die Erst­über­set­zung durch Karl Lerbs für den Insel-Ver­lag erschien bereits 1931, nur weni­ge Jah­re nach der Ver­öf­fent­li­chung des Romans. Lerbs war ein recht bekann­ter Schrift­stel­ler und Dra­ma­turg, der in der Bre­mer Kul­tur­sze­ne aktiv war und wäh­rend des Kriegs ins All­gäu flüch­te­te. Neben Vir­gi­nia Woolf, deren Roman Orlan­do Lerbs eben­falls ins Deut­sche brach­te, über­setz­te er auch Tex­te von D. H. Law­rence und Her­man Mel­ville. Nach Ende des Zwei­ten Welt­kriegs mach­ten Lerbs die Fol­gen des Krie­ges schwer zu schaf­fen und auch sei­ne Mit­ar­beit bei der Natio­nal­so­zia­lis­ti­schen Par­tei­kor­re­spon­denz warf Fra­gen auf. Mehr­mals kam es zu Ver­haf­tun­gen; er nahm sich 1946 schließ­lich das Leben.

In den 1950er und ‑60er-Jah­ren nahm sich das Über­set­zer­ehe­paar Her­berth und Mar­lys Her­lit­sch­ka der Über­tra­gung von Woolfs-Roma­nen für den Fischer-Ver­lag an. Die Her­lit­sch­kas hat­ten Öster­reich 1938 ver­las­sen und waren nach Eng­land geflo­hen. Dort ver­tief­ten sie ihre Kon­tak­te zu eng­lisch­spra­chi­gen Autor:innen, die sie bereits vor Kriegs­be­ginn in Wien über­setzt hat­ten. Nach Kriegs­en­de wid­me­ten sie sich wei­ter der Über­set­zung von Wer­ken des anglo­ame­ri­ka­ni­schen Moder­nis­mus. 1955 erschien zunächst ihre Über­set­zung von Mrs. Dal­lo­way; bald dar­auf folg­ten Über­set­zun­gen von Die Wel­len, Die Fahrt zum Leucht­turm und Orlan­do. Die Her­lit­sch­ka-Über­set­zun­gen wur­den regel­mä­ßig neu auf­ge­legt, bis Ende der 1980er-Jah­re Klaus Rei­chert die Vir­gi­nia-Woolf-Roma­ne (neben ande­ren Woolf-Tex­ten) für Fischer neu her­aus­gab und sie neu über­set­zen ließ – u. a. durch Karin Kers­ten, die auch Die Fahrt hin­aus (1989) und Flush (1993) über­tra­gen hat.

Bei der Bespre­chung der Mrs.-Dalloway-Über­set­zun­gen hat­te ich auf­grund der Viel­zahl an Über­tra­gun­gen die älte­ren Fas­sun­gen nicht berück­sich­tigt. Hier bie­tet es sich nun an, auch einen Blick in die Erst­über­set­zung durch Karl Lerbs und die Nach­kriegs­über­set­zung von Her­berth und Mar­lys Her­lit­sch­ka zu wer­fen. Zum einen sind die­se Über­set­zun­gen noch im Umlauf, Lerbs Fas­sung ist auf Guten­berg sowie im Hof­en­berg-Ver­lag erhält­lich und die Her­lit­sch­ka-Über­set­zung ist in den meis­ten Anti­qua­ria­ten auf­find­bar. Zum ande­ren haben die­se Über­set­zer auch ande­re Woolf-Roma­ne über­tra­gen und die Rezep­ti­on ihres Wer­kes beeinflusst.

Da Vir­gi­nia Woolf bereits zu Leb­zei­ten bekannt und erfolg­reich war, wur­den die Über­set­zungs­rech­te für ihre bis dato erschie­ne­nen Roma­ne bereits Ende der 1920er-Jah­re ins euro­päi­sche Aus­land ver­kauft, und auch in Deutsch­land wur­de ihr Werk flei­ßig über­setzt. Woolf soll aber ins­ge­samt recht wenig Inter­es­se an den Über­set­zun­gen ihrer Bücher gehabt haben; sie äußer­te sich kri­tisch, dass Über­set­zun­gen dem Ori­gi­nal oft nicht gerecht wür­den. Ande­rer­seits war sie, obgleich sie meh­re­re Spra­chen lern­te und zu beherr­schen wuss­te, oft­mals selbst auf Über­set­zun­gen, bei­spiels­wei­se anti­ker Tex­te, ange­wie­sen. Zudem über­setz­te Woolf auch Tex­te aus dem Rus­si­schen für ihren Ver­lag The Hogarth Press und zu Übungs­zwe­cken Tex­te aus dem Alt­grie­chi­schen. Das Schrei­ben hat­te für sie jedoch kla­ren Vorrang.

To The Light­house, Woolfs drit­ter Roman, wird oft­mals als hoch­gra­dig auto­bio­gra­fisch gewer­tet; eine Les­art, der Vir­gi­nia Woolf wenig ent­ge­gen­zu­set­zen hat­te und die ihre akri­bisch geführ­ten Tage­bü­cher bestä­ti­gen. Im Mit­tel­punkt des Romans steht das Ehe­paar Ramsay, dem eini­ge Cha­rak­te­ris­ti­ka von Woolfs Eltern mit­ge­ge­ben wur­den. Mr. Ramsay ist, ähn­lich wie Woolfs Vater Les­lie Ste­phen, ein intel­lek­tu­el­ler Aka­de­mi­ker, der mit sei­nen ins­ge­samt acht Kin­dern wenig anzu­fan­gen weiß und sich im Som­mer­ur­laub auf der Isle of Skye eher lang­weilt. Dreh- und Angel­punkt des Romans ist ohne­hin Mrs. Ramsay, bewun­dert glei­cher­ma­ßen für ihre Schön­heit (dar­in Woolfs Mut­ter Julia Ste­phen ähnelnd) als auch für ihre Sanft­mut, die die Fami­lie zusammenhält. 

Im ers­ten Teil des ins­ge­samt drei­tei­li­gen Romans sind sich die Ramsays unei­nig, ob eine Fahrt zum Leucht­turm, die sich ihr Sohn James wünscht, mög­lich ist. Das Wet­ter ist zu schlecht, sodass der Aus­flug zum Leid der Kin­der ver­tagt wird. Statt­des­sen ver­brin­gen die Ramsays den Tag in ihrem Som­mer­haus, das sie und ihre Gäs­te, dar­un­ter die Male­rin Lily Bris­coe und Ramsays Stu­dent Charles Tans­ley, bewoh­nen. Der zwei­te Teil han­delt vom Ver­ge­hen der Zeit – ein Sprung von zehn Jah­ren erfolgt. Das Som­mer­haus wird für die Ankunft der Ramsay-Fami­lie vor­be­rei­tet und es stellt sich her­aus, dass Mrs. Ramsay und zwei ihrer Kin­der inzwi­schen ver­stor­ben sind. Im letz­ten Teil unter­nimmt Mr. Ramsay zusam­men mit sei­nen Kin­dern James und Cam schließ­lich die Fahrt zum Leuchtturm.

Ver­öf­fent­licht wur­de der Roman im Jahr 1927, gute zwei Jah­re nach Mrs. Dal­lo­way, ihrem ers­ten grö­ße­ren Erfolg. Der Roman ver­kauf­te sich nicht nur gut,  son­dern bot der Autorin eine berei­chern­de Schreib­erfah­rung. Woolf erfreu­te sich an der Poe­tik der eige­nen Spra­che und dem inten­si­ven Arbeits­pro­zess. Der Roman sei mit Sicher­heit ihr bes­ter, wird sie gern auf Ver­lags­sei­ten zitiert – und auch moder­ne Kritiker:innen schei­nen die­ser Ein­schät­zung wei­test­ge­hend zuzu­stim­men. To The Light­house ist jedoch kei­ne Lek­tü­re, die sich bei ein­ma­li­gem Lesen leicht erschließt. Es gibt die für Woolf typi­schen Per­spek­tiv­wech­sel, ste­ti­ge Wech­sel in die erleb­te Rede sowie kom­ple­xe, sehr rhyth­mi­sche und ele­gan­te Satz­struk­tu­ren. Der Über­set­zer Karl Lerbs kämpf­te sich durch den Text und schrieb in einem Brief: „Die Stil­for­mung des Buches ist unend­lich hei­kel. Das schat­tie­rungs­reichs­te Eng­lisch, das ich ken­ne, ein Schwel­gen in Halb­tö­nen und Zwi­schen­wer­ten“. Kein Wun­der, dass bei einem sol­chen Aus­gangs­text eine Rück­ver­si­che­rung not­wen­dig war: „Wie liest sich mein Text?“, frag­te er weiter.

Wie lesen sich also die Über­set­zun­gen von To The Light­house? In dem fol­gen­den Text­bei­spiel wer­den eini­ge Unter­schie­de zwi­schen den ein­zel­nen Über­set­zun­gen deut­lich. Aus der Per­spek­ti­ve von Mrs. Ramsay wird hier die Bezie­hung des Ehe­paars genau­er charakterisiert:

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It annoy­ed her, this phra­se-making, and she said to him, in a mat­ter-of-fact way, that it was a per­fect­ly love­ly evening. And what was he groa­ning about, she asked, half laug­hing, half com­plai­ning, for she gues­sed what he was thin­king — he would have writ­ten bet­ter books if he had not married. 

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Auf­fäl­lig ist hier bereits am Anfang des Sat­zes die Frei­heit, die sich Karl Lerbs bei der Wort­stel­lung nimmt. Wäh­rend alle ande­ren dem eng­li­schen Satz­bau fol­gen und den für Woolf typi­schen Ein­schub („this phra­se-making“) bei­be­hal­ten, inte­griert er „dies Gere­de“ in den Satz und macht Mrs. Ramsay zum Sub­jekt, was die Aus­sa­ge verstärkt. 

Eine ganz ähn­li­che Stra­te­gie ver­folgt Lerbs auch am Ende des zwei­ten Sat­zes, wo er die Neben­sät­ze ver­tauscht. In dem Satz erfolgt ein ange­deu­te­ter Per­spek­tiv­wech­sel: Mrs. Ramsay stellt sich hier die Gedan­ken ihres Ehe­manns vor, dem sei­ne Bücher wich­ti­ger sind als die Fami­lie. Lerbs inter­pre­tiert also durch­aus logisch, dass die­ser Satz, gedacht von Mr. Ramsay, mit dem Ver­weis auf die Qua­li­tät der Bücher enden müss­te. Im Ori­gi­nal tut er das jedoch nicht – weil Mrs. Ramsay ledig­lich „ahnt“, was er denkt. Was er tat­säch­lich denkt, bleibt offen. In Lerbs Über­set­zung sind sol­che mini­ma­len Abwei­chun­gen typisch. Den­noch weicht auch er nie radi­kal vom Satz­bau des Ori­gi­nals ab, sodass Leser:innen auch in sei­ner Über­set­zung durch­aus einen Ein­druck des woolf­schen Stils erhalten.

Eben­falls inter­pre­ta­to­risch streit­bar ist der von den Her­lit­sch­kas über­setz­te Halb­satz „wenn er nicht ver­hei­ra­tet wäre“, der von den ande­ren Über­set­zun­gen abweicht und den ehe­li­chen Kon­flikt in die Gegen­wart trans­por­tiert. Die Ver­gan­gen­heits­form, die von allen ande­ren Über­set­ze­rin­nen ver­wen­det wird, drückt die rück­bli­cken­de Reue aus, das „wäre“ der Her­lit­sch­kas jedoch einen gegen­wär­ti­gen Wunsch. Damit ver­stär­ken sie den Ein­druck, dass Mr. Ramsay in der Ehe nicht nur in der Ver­gan­gen­heit mög­li­cher­wei­se unglück­lich war, son­dern es noch immer ist, was der Roman ins­ge­samt sug­ge­riert. Aber auch hier stellt sich die Fra­ge, ob die­se Ein­schät­zung der Sicht von Mrs. Ramsay, aus deren Per­spek­ti­ve hier erzählt wird, entspricht.

Auch Unter­schie­de in der Aus­drucks­form ste­chen in die­sem kur­zen Aus­zug her­vor. Das „Phra­sen­ma­chen“ („phra­se-making“) der Her­lit­sch­kas ist bei­spiels­wei­se sehr wört­lich über­tra­gen. Unüber­seh­bar sind aber auch die unter­schied­li­chen Über­set­zun­gen von „gues­sed“ als ent­we­der „ahnen“ oder „erra­ten“. Letz­te­res sug­ge­riert die Treff­si­cher­heit von Mrs. Ramsays Urteil, ers­te­res eine Ein­schät­zung basie­rend auf einem vagen Gefühl – zwei sehr unter­schied­li­che Bedeu­tun­gen. Auch die Über­set­zun­gen von „in a mat­ter-of-fact way“ sind inter­es­sant. Lerbs wie auch Rávik Stru­bel ent­schei­den sich für Prä­zi­si­on, indem sie das Adverb „nüch­tern“ die Rede cha­rak­te­ri­sie­ren las­sen, ohne einen Ein­schub vor­zu­neh­men. Vor allem in Rávik Stru­bels Fall sicher­lich eine ele­gan­te Lösung, da es bereits mit „dies Gere­de“ einen Ein­schub in dem Satz gibt, obgleich hier eine Los­lö­sung vom Satz­bau des Ori­gi­nals statt­fin­det. Ist das an die­ser kon­kre­ten Stel­le ein Ver­lust? Wohl kaum.

Dass zwi­schen den ein­zel­nen Über­set­zun­gen meh­re­re Jahr­zehn­te lie­gen, wird tat­säch­lich oft­mals durch die Wort­wahl am deut­lichs­ten. Ant­je Rávik Stru­bel setzt eini­ge Akzen­te, die ihre Über­set­zung merk­lich moder­ner erschei­nen las­sen, wie in dem fol­gen­den Bei­spiel. Hier denkt Mrs. Ramsay über ihre Toch­ter nach: 

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Dear, dear, Mrs. Ramsay said to hers­elf, how did they pro­du­ce this incon­gruous daugh­ter? this tom­boy Min­ta, with a hole in her stocking? 

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Wäh­rend das eng­li­sche „tom­boy“ als Begriff kaum geal­tert ist, sind die deut­schen Über­set­zun­gen wie „Gas­sen­bu­be“ oder „Ran­ge“, wie sie bei Lerbs oder den Her­lit­sch­kas auf­tre­ten, sehr alt­mo­disch. Karin Kers­tens Über­set­zung aus den 90er Jah­ren ver­wen­det mit „Wild­fang“ die wohl gän­gigs­te, obgleich eben­falls etwas stei­fe deut­sche Ent­spre­chung. Im Gegen­satz dazu ent­schied sich Rávik Stru­bel „tom­boy“ ste­hen­zu­las­sen  – eine inter­es­san­te, wenn auch frag­wür­di­ge Ent­schei­dung. Inter­es­sant, weil sich der Begriff „tom­boy“ (nicht zuletzt dank der Gen­der Stu­dies) immer mehr im Deut­schen durch­setzt und vor allem jün­ge­re Leser:innen wenig Pro­ble­me haben dürf­ten, das Wort ein­zu­ord­nen. Frag­wür­dig ist aber den­noch, inwie­weit das Wort nicht nur zum Text passt, son­dern auch zu der deutsch­spra­chi­gen Ver­si­on von Mrs. Ramsay. Eine eng­lisch­spra­chi­ge Mrs. Ramsay wür­de den Begriff „tom­boy“, der bereits seit Hun­der­ten von Jah­ren im Eng­li­schen exis­tiert, sicher benut­zen. Dass aber eine deutsch­spra­chi­ge Mrs Ramsay, über sech­zig Jah­re alt und wenig pro­gres­siv, ihre Toch­ter so bezeich­nen wür­de, ist unwahrscheinlich.

An ande­ren Stel­len ist Rávik Stru­bels Wort­wahl inhalt­lich schlüs­si­ger. Die „rather unt­i­dy boys“ wer­den bei ihr zu den „eher unor­dent­li­chen Jun­gen“, die bei­spiels­wei­se bei den Her­lit­sch­kas als “recht schlam­pi­ge Kna­ben“ auf­tau­chen. Auch Karin Kers­ten hat­te mit ihren „ziem­lich unor­dent­lich aus­se­hen­den Jun­gen“ bereits an die­ser Stel­le eine kla­re Moder­ni­sie­rung vor­ge­nom­men. Ein wei­te­res Bei­spiel, auch die Cha­rak­te­ri­sie­rung betref­fend, ist die Über­tra­gung von „ablest fel­low in Bal­li­ol“ (gemeint ist hier das Bal­li­ol Col­lege der Uni­ver­si­tät Oxford). In Rávik Stru­bels salop­per Über­set­zung ist dort vom „fähigste[n] Typ am Bal­li­ol“ die Rede, bei den Her­lit­sch­kas han­delt es sich um den „begabteste[n] Bursche[n] im Bal­li­ol College“.

Schau­en wir uns noch ein etwas län­ge­res Bei­spiel an. Mr. Ban­kes, ein Freund von Mr. Ramsay, denkt hier über Mrs. Ramsay nach und cha­rak­te­ri­siert sie wie folgt:

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She clap­ped a deer stalker’s hat on her head; she ran across the lawn in galos­hes to snatch a child from mischief. So that if it was her beau­ty mere­ly that one thought of, one must remem­ber the qui­ve­ring thing, the living thing (they were car­ry­ing bricks up a litt­le plank as he wat­ched them ), and work it into the pic­tu­re; or if one thought of her sim­ply as a woman, one must endow her with some freak of idio­syn­cra­sy — she did not like admi­ra­ti­on — or sup­po­se some latent desi­re to doff her royal­ty of form as if her beau­ty bored her and all that men say of beau­ty , and she wan­ted only to be like other peo­p­le, insignificant.

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Auf­fal­lend ist auch hier wie­der die Moder­ni­tät Rávik Stru­bels und Kers­tens vor allem im direk­ten Ver­gleich mit der Her­lit­sch­ka-Über­set­zung. Die Her­lit­sch­kas hat­ten Mrs. Ramsay offen­bar stär­ker als ande­re Über­set­zun­gen als oli­ve-grün geklei­de­te Bri­tin mit ent­spre­chen­dem „Jäger­hut“ und “Galo­schen” gedacht, die bei Rávik Stru­bel zu simp­len „Gum­mi­schu­hen“ wer­den. Klang­lich tre­ten in der Her­lit­sch­ka-Über­set­zung im ers­ten Satz zudem die Ver­ben her­vor. Mrs. Ramsay „rammt“ sich den Hut über den Kopf und „ent­reißt“ eins der Kin­der einem Unfall. 

Die­se Ten­denz zur Über­trei­bung (oder auch zu all­zu wört­li­chen Über­tra­gun­gen wie bei­spiels­wei­se „ein kur­zes Bänd­chen Zeit“ für „a litt­le strip of time“) kenn­zeich­net die Über­set­zung der Her­lit­sch­kas. Wäh­rend Rávik Stru­bel „[he] was an awful prig“ schlicht als „schreckliche[n] Stre­ber“ über­setzt, schrei­ben die Her­lit­sch­kas, dass er ein „ent­setz­li­cher pedan­ti­scher Tugend­bold“ war. Und in ihrer Fas­sung wird aus dem ohne­hin schon recht unheim­li­chen „birds dashed against the lamp“ das gru­se­li­ge „wenn dann […] Vögel sich die Köp­fe an der Later­ne zer­schmet­tern“. Viel­leicht hat­te man Angst, die Leser:innen wür­den sich sonst lang­wei­li­gen bei einem Roman, der ohne nen­nens­wer­ten Plot aus­kommt. Die neue­ren Über­set­zun­gen haben an sol­chen Stel­len einen fast schon lapi­da­ren Ton­fall, der durch­aus  zum Ori­gi­nal passt – denn Woolf hat­te zwar einen stark aus­ge­präg­ten Sinn für Stil, aber kei­nen Hang zur Dramatik.

Dass Rávik Stru­bel hin­ge­gen die Moder­ni­sie­rung kei­nes­wegs durch­gän­gig umsetzt, wird eben­falls in die­sem kur­zen Absatz gezeigt. Dort fin­det sich zum Bei­spiel die erstaun­lich umständ­li­che For­mu­lie­rung „sich des König­li­chen an ihrer Gestalt zu ent­le­di­gen“, die Lerbs sehr viel älte­re Über­set­zung völ­lig frei als „ihre erha­be­ne Schön­heit abzu­le­gen“ inter­pre­tiert. Zudem ist ihre Über­set­zung mit „Hang zur Idio­syn­kra­sie“ und dem recht ori­gi­nal­text­na­hen Satz­bau kaum zugäng­li­cher als die ande­ren Über­tra­gun­gen. Inter­es­sant ist hier auch die Über­set­zung von Karin Kers­ten, die den „Hang zur Ido­syn­kra­sie“ als „ver­rückt“ cha­rak­te­ri­siert, sicher­lich um das eng­li­sche „freak“ anklin­gen zu las­sen. Merk­wür­dig ist das „sie“, das durch den Ein­schub „was Män­ner von der Schön­heit sag­ten“ von sei­nem Teil­satz getrennt wur­de und direkt wie­der­holt wird. Ver­mut­lich ist das die Gefahr, der man als Woolf-Über­set­ze­rin aus­ge­setzt ist: Man gewöhnt sich so sehr an Ein­schü­be, dass man sie auch dort ein­fügt, wo sie nicht sein müssten.

Rhyth­misch besticht vor allem die Über­set­zung von Ant­je Rávik Stru­bel kaum – im Gegen­teil. Ihre Über­set­zung ist an eini­gen Stel­len äußerst unmu­si­ka­lisch, obwohl es durch­aus mög­lich gewe­sen wäre, den Rhyth­mus des Ori­gi­nals auch im Deut­schen stär­ker nach­zu­ah­men. In dem fol­gen­den Bei­spiel fühlt sich Lily Bris­coe, die auch im letz­ten Teil bei den Ramsays zu Gast ist, von Mr. Ramsay, des­sen Frau inzwi­schen ver­stor­ben ist, bedrängt:

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Let him be fif­ty feet away, let him not even speak to you, let him not even see you, he per­me­a­ted, he pre­vai­led, he impo­sed hims­elf. He chan­ged ever­y­thing. She could not see the colour; she could not see the lines; even with his back tur­ned to her, she could only think, But he’ll be down on me in a moment, deman­ding — some­thing she felt she could not give him. 

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Der Inhalt wird an die­ser Stel­le gezielt durch die Spra­che inten­si­viert. Dafür sor­gen vor allem die Wort­wie­der­ho­lun­gen und die repe­ti­ti­ve Satz­struk­tur, die Lilis Gefühl der Bedräng­nis und die Pene­tranz von­sei­ten Mr. Ramsays ver­stär­ken. Sol­che für Woolf typi­schen Wie­der­ho­lun­gen sind das drei­ma­li­ge „Let him“, das Lerbs mit „moch­te er“ sehr anschau­lich nach­ahmt. Auch die Her­lit­sch­kas haben ver­sucht, mit der Wie­der­ho­lung von „nicht ein­mal“ die­se woolf­sche Stra­te­gie zumin­dest anzudeuten. 

Der ers­te Satz die­ses Absat­zes endet zudem mit einem wei­te­ren Kli­max, der im Eng­li­schen prä­zi­se und ein­gän­gig ist (auch wegen der p‑Konsonanten): „he per­me­a­ted, he pre­vai­led, he impo­sed hims­elf“. Kers­tens stak­ka­to­haf­tes und ver­kürz­tes „er durch­drang, er bestimm­te, er domi­nier­te“ ahmt hier Woolfs Spra­che wun­der­bar effi­zi­ent nach. Auch Lerbs ori­en­tiert sich hier wie­der recht eng an Woolfs Vor­ga­ben, und auch wenn es bei ihm ein Wort zu viel gibt, ahmt er den­noch offen­sicht­lich das Ori­gi­nal nach. Im Ver­gleich dazu wirkt Rávik Stru­bels „drang er durch, bestimm­te, dräng­te sich auf“ recht unbe­hol­fen. Der Ver­such einer Wie­der­ho­lung wird durch „drang“ und „dräng­te“ zwar unter­nom­men, aber die Struk­tur ist so unsau­ber und wirkt letzt­lich auch nur bedingt wie eine bewuss­te Wie­der­ho­lung, dass der Effekt des Ori­gi­nals kaum ins Deut­sche geret­tet wird. Rávik Stru­bel setzt ab „she could“ zwar auch mit Wie­der­ho­lun­gen ein, doch ihre Über­set­zung hat klang­lich ins­ge­samt wenig zu bieten.

Dabei han­delt es sich nicht um einen Ein­zel­fall. Ein wei­te­res Bei­spiel ist die Über­set­zung des fol­gen­den Satz­teils, der beschreibt, wie lang­wei­lig das Leben in einem Leucht­turm sein muss.

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[…] to see the same drea­ry waves brea­king week after week […]

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Auch hier wird durch Ähn­lich­kei­ten im Klang der Gedan­ke illus­triert, wie repe­ti­tiv das Leucht­turm­wär­ter­da­sein wohl ist. In Rávik Stru­bels Über­set­zung ist davon nur bedingt etwas zu spü­ren, zumal sie hier als ein­zi­ge auch auf eine Neben­satz­kon­struk­ti­on aus­weicht, die kaum not­wen­dig und in einem Roman, der ohne­hin viel mit Neben­sät­zen arbei­tet, wenig sinn­voll ist. Am ele­gan­tes­ten ist auch hier wie­der die Lösung von Karin Kers­ten, die durch die nah bei­ein­an­der plat­zier­ten Ws und die Wie­der­ho­lung von e‑Lauten in den Ver­ben ihr Gespür für Rhyth­mus unter Beweis stellt. 

Ande­re Bei­spie­le für den geglät­te­ten Rhyth­mus in der Rávik-Stru­bel-Über­set­zung sind Sät­ze wie „Es war immer rich­tig. Zu etwas Unwah­rem war er nicht fähig […]“ – im Ori­gi­nal ein wun­der­ba­res Wort­spiel, das ande­re Übersetzer:innen auch so nach­ah­men, weil die deut­sche Spra­che dies mit den Wör­tern „wahr“ bzw. „unwahr“ durch­aus mög­lich her­gibt: „What he said was true. It was always true. He was inca­pa­ble of untruth“. Auch der schö­ne Rela­tiv­satz „which no woman could fail to feel or to find agreeable“ wird in der Über­set­zung von Rávik Stru­bel nicht schlecht, aber doch stumpf mit „die jede Frau unwei­ger­lich spür­te oder als ange­nehm emp­fand“ über­setzt, was den Bedeu­tungs­un­ter­schied von „to feel“ und „to find“ nicht ganz ein­fängt. Kers­ten, die sol­che Nuan­cen kaum über­geht, macht dar­aus bei­spiels­wei­se: „die eine Frau unwei­ger­lich als ange­nehm emp­fin­den oder ange­nehm fin­den mußte“.

Wel­che Über­set­zung von To The Light­house soll man nun lesen? Nicht beson­ders gut geal­tert und daher nur bedingt emp­feh­lens­wert, ist die Über­set­zung der Her­lit­sch­kas, die pha­sen­wei­se alt­mo­disch und mit­un­ter sehr auf­ge­setzt wirkt. Wer also in Anti­qua­ria­ten nach Über­set­zun­gen schaut, hält sich am bes­ten an Karl Lerbs’ Über­tra­gung. Des­sen Über­set­zung ist zwar an man­chen Stel­len frei­er, aber auch inter­es­san­ter und melo­di­scher. Wem die sti­lis­ti­schen Spie­le­rei­en einer Vir­gi­nia Woolf manch­mal zu viel sind, mag sich an der gerad­li­ni­gen, sich aufs Wesent­li­che kon­zen­trie­ren­de Über­set­zung durch Ant­je Rávik Stru­bel erfreu­en. Aber man sei gewarnt – trotz eini­ger Moder­ni­sie­rungs­ver­su­che macht ihre Über­set­zung den Roman nicht zwangs­läu­fig zugäng­li­cher. Rávik Stru­bel ori­en­tiert sich wei­test­ge­hend eng an der Vor­la­ge, aber es fehlt der Über­set­zung an klang­li­chem Flair und rhyth­mi­scher Genau­ig­keit, die Woolfs Roma­ne im Eng­li­schen aus­ma­chen. Beson­ders in die­ser Hin­sicht ist die Über­set­zung von Karin Kers­ten, die im Ver­gleich kei­nes­wegs weni­ger modern ist, deut­lich überlegen. 


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