Es gibt etwa 7000 Sprachen auf der Welt, doch nur ein winziger Bruchteil davon wird ins Deutsche übersetzt. Wir interviewen Menschen, die Meisterwerke aus unterrepräsentierten und ungewöhnlichen Sprachen übersetzen und uns so Zugang zu wenig erkundeten Welten verschaffen. Alle Beiträge der Rubrik findet ihr hier.
Wie hast du Finnisch gelernt?
Zum Finnischen bin ich ganz zufällig gekommen. Nach der Schule wollte ich zuerst als Au-pair nach Norwegen, habe mich jedoch aufgrund der langen Wartezeit stattdessen für Finnland entschieden. Dort habe ich die Sprache vor allem durch Immersion im hektischen Alltag einer Familie mit drei Kindern gelernt. Den systematischen und sprachwissenschaftlichen Teil habe ich dann im Fennistikstudium an den Universitäten Greifswald und Tampere nachgeholt. Während und nach dem Studium habe ich meine Kenntnisse in Auslandssemestern, bei einem Praktikum bei FILI – Finnish Literature Exchange und während einer Lehrassistenz an der Universität Helsinki vertieft. Und natürlich lerne ich weiterhin ständig dazu: beim Lesen, beim Übersetzen und durch die interessanten Fragen, die meine Schüler*innen im Finnischunterricht stellen.
Wie sieht die finnische Literaturszene aus?
Zunächst muss man wissen, dass die finnischsprachige Literatur noch verhältnismäßig jung ist: Erst im 16. Jahrhundert kam die Entwicklung der finnischen Schriftsprache richtig ins Rollen, als der Reformator Mikael Agricola unter dem Titel Abckiria (ABC-Buch) die erste finnischsprachige Fibel veröffentlichte. Literarische Werke erschienen in Finnland zunächst auf Schwedisch, so auch 1840 der erste finnische Roman Murgrönan (Der Efeu) von Fredrika Wilhelmina Carstens.
Der erste finnischsprachige Roman folgte dreißig Jahre später, doch das mit Seitsemän veljestä (Sieben Brüder) betitelte Werk von Aleksis Kivi wurde nicht eben begeistert rezipiert: In einer Zeit, in der die Literatur den Wert der finnischen Kultur auf der europäischen Bühne beweisen sollte und das einfache Volk idealistisch überhöht und als literarische Projektionsfläche für nationalromantische Gefühle verwendet wurde, stieß die Geschichte von den streitlustigen, ungehorsamen und bisweilen gewalttätigen Brüdern auf Unverständnis und Empörung. Erst nach Kivis Tod erkannte man den künstlerischen Wert des Werkes und im Rückblick auch seine Wirkung auf die finnische Literatur. Diese war lange von realistischen Strömungen beherrscht, was sich bis heute auf dem finnischen Buchmarkt widerspiegelt: Anhaltend beliebt sind historische Stoffe und Krimis, vermehrt auch True Crime.
Daneben rücken in letzter Zeit marginalisierte Stimmen stärker in den Fokus, etwa samische Schriftsteller*innen wie Niilas Holmberg, Finn*innen of Colour wie Koko Hubara, Nura Farah und Kashmeera Lokuge sowie russischstämmige Autor*innen wie Susinukke Kosola. Hinzu kommen feministische und queere Themen, etwa in den Werken von Maria Pettersson, Pirkko Saisio, Dess Terentjeva, Miska Karhu, Tiina Tuppurainen und Anu Silfverberg, sowie ein neues Interesse für die literarische Verwendungen finnischer Mythologie und für experimentelle Prosa. Die Kinder- und Jugendliteratur scheut nicht vor schwierigen Themen wie Familienkonflikten, Vernachlässigung, Einsamkeit und Tod zurück, oft begleitet von hochwertigen und mitunter unkonventionellen Illustrationen, und schließlich gibt es auch eine kleine, aber gut vernetzte Community von Comic- und Graphic Novel-Autor*innen.
Die finnische Lyrik steht deutlich hinter der Prosa zurück – dass die von Jenni Haukio anlässlich des hundertsten Jubiläums der finnischen Unabhängigkeit zusammengestellte Anthologie finnischer Lyrik sich in zehntausenden Exemplaren verkaufte, bleibt eine Ausnahme. Das gedruckte Wort scheint hier aber auch nicht mehr im Mittelpunkt zu stehen, stattdessen begeistern sich vor allem junge Künstler*innen für Spoken Word und digitale Ausdrucksformen, auch in den sozialen Medien.
Die Sprachensituation hat sich gegenüber der Anfangszeit der finnischen Literatur umgekehrt: Die finnlandschwedische Literatur macht mit etwa 200 Titeln jährlich nur einen kleinen Anteil der finnischen Literatur aus.
Auf der technischen Seite haben die Auswirkungen der Digitalisierung und die Veränderung der Lesegewohnheiten auch in Finnland einen Boom der Hörbücher und Streaming-Dienste nach sich gezogen. Die zunächst gehegte Hoffnung, die Corona-Pandemie könnte den seit langer Zeit schwächelnden Verkaufszahlen auf dem physischen Buchmarkt unter die Arme greifen, hat sich aber als zu optimistisch erwiesen.
Was sollte man unbedingt gelesen haben?
Viele Klassiker der finnischen Literatur lesen sich auch heute noch gut, und gar nicht wenige von ihnen sind bereits ins Deutsche übersetzt worden. Autor*innen wie Tove Jansson, Arto Paasilinna und Mika Waltari sind vielen sicher schon bekannt, daher möchte ich einige Hinweise auf etwas ältere Klassiker geben, die einen spannenden Einblick in die Geschichte der finnischen Literatur bieten. Die Eisenbahn (1884) von Juhani Aho etwa beschreibt das Abenteuer eines alten Bauernpaares, das sich zum ersten Mal an Bord dieses neuen Transportmittels wagt. Das Buch wurde bereits 1922 von Gustav Schmidt ins Deutsche übersetzt. Im Theaterstück Anna Liisa (1895) schildert die einflussreiche Frauenrechtlerin Minna Canth die ausweglose Lage einer jungen Frau, die in Panik ihr uneheliches Kind getötet hat (2008 ins Deutsche übersetzt von Nadine Erler). Zur Buchmesse 2014 erschien außerdem mit Kriegsroman eine Neuübersetzung von Väinö Linnas Tuntematon sotilas („Der unbekannte Soldat“, 1954), die erstmals auf der unzensierten Fassung des Romans beruht und das Schicksal einer Maschinengewehrkompanie während des Fortsetzungskrieges beschreibt – übertragen von Alfred Otto Schwede und Angela Plöger. Und die schon erwähnten Sieben Brüder von Aleksis Kivi – u.a. in der Übersetzung von Gisbert Jänicke auf Deutsch erhältlich – sind natürlich bei einem solchen Ausflug in die finnische Literaturgeschichte nicht nur der logische Startpunkt, sondern bieten auch nach über 150 Jahren noch höchst amüsante Lektüre!
Was die zeitgenössische finnische Literatur angeht, ist es noch schwieriger als bei den Klassikern, sich für einige wenige Empfehlungen zu entscheiden, denn Finnland hat einen umfangreichen Schatz an literarischen Werken zu bieten. Ins Deutsche übersetzt wurden unter anderem Kari Hotakainen, der für seine oft schwarzhumorige Gesellschaftskritik bekannt ist, und Sofi Oksanen, deren Werke sich mit den schmerzhaften Seiten der finnischen und osteuropäischen Geschichte beschäftigen – ihr jüngster Roman Hundepark (deutsch von Angela Plöger) zeigt die Abgründe der Fortpflanzungsindustrie in der Ukraine. Ebenfalls auf Deutsch erhältlich sind die international erfolgreichen Jugendromane von Salla Simukka und die zahlreichen Krimis von Leena Lehtolainen. Besonders im Gedächtnis geblieben sind mir in den letzten Jahren außerdem Der Fluch des Hechts von Juhani Karila (übersetzt von Maximilian Murmann), Die Frau des Oberst von Rosa Liksom und Unser tägliches Leben von Riikka Pelo (beide übersetzt von Stefan Moster), Land aus Schnee und Asche von Petra Rautiainen (übersetzt von Tanja Küddelsmann), Der Geschmack von Wasser von Emmi Itäranta und die Monsternanny-Trilogie von Tuutikki Tolonen (beide übersetzt von Anu Stohner).
Wer sich für finnische Literatur und neu erscheinende Übersetzungen ins Deutsche interessiert, dem kann ich sowohl das von der Deutschen Bibliothek Helsinki herausgegebene Jahrbuch für finnisch-deutsche Literaturbeziehungen als auch die von FILI gepflegte Datenbank für Übersetzungen empfehlen. Hier lässt sich zum Beispiel mit wenigen Klicks feststellen, welche Werke der eigenen Lieblingsautor*innen ins Deutsche übersetzt wurden.
Und was ist noch nicht übersetzt?
Auf eine (umfassendere) Übersetzung ins Deutsche warten unter anderem noch einige einflussreiche klassische Autor*innen: Aino Kallas, Joel Lehtonen, Toivo Pekkanen, Kirsi Kunnas … Während meines Praktikums bei FILI wurde dort an einer Liste solcher Klassiker gearbeitet, um ausländische Verlage auf das in ihnen schlummernde Potenzial aufmerksam zu machen. Und tatsächlich ist erst im letzten Jahr Volter Kilpis epochales Prosa-Epos Im Saal von Alastalo (1933) in der preisgekrönten Übersetzung von Stefan Moster erschienen. Hoffentlich geht es anderen finnischen Klassikern in näherer Zukunft genauso!
Was die zeitgenössische Literatur angeht, wird verhältnismäßig viel ins Deutsche übersetzt – in den Statistiken zählt Deutsch (neben Englisch, Estnisch und Russisch) regelmäßig zu den wichtigsten Zielsprachen. Schwierig haben es allerdings Titel, von denen die Verlage erwarten, dass sie sich in Deutschland nicht gut verkaufen. Das sind zum Beispiel Sachbücher, die kein explizit „finnisches“ Thema behandeln, aber auch Lyrik und Comics bzw. Graphic Novels.
Und schließlich hat man natürlich noch seine persönlichen Favoriten, die man schon einfach aus dem Grund gerne übersetzt sehen würde, dass man sie dann endlich weiterempfehlen kann. Für mich sind das zum Beispiel die Romane von Leena Krohn, Maarit Verronen und J.P. Koskinen.
Was sind die größten Schwierigkeiten beim Übersetzen aus dem Finnischen? Wie gehst du damit um?
Finnisch ist dem Deutschen weder im Sprachtyp noch in der Verwandtschaft nahe, was sich in deutlichen Unterschieden im Sprachbau, bisweilen aber auch im stilistischen Empfinden zeigt. Beispielsweise tauchen im Finnischen oft komplizierte, lange Partizipialkonstruktionen vor dem Substantiv auf oder es werden Informationen sehr kompakt in den sogenannten Satzäquivalenten verpackt. Im deutschen Text muss man dann überlegen, wo man all diese Bedeutungselemente unterbringt, ohne den Lesefluss durch zu viele Nebensätze zu beeinträchtigen. Auch die Beschreibung von Bewegungen oder Positionen im Raum sind im finnischen Text bisweilen detaillierter als im Deutschen. Hier kann man in der Übersetzung jedoch oft einige Teile weglassen. An anderer Stelle macht es sich die finnische Sprache wiederum einfach. Vieles, was im Deutschen mit einem Vollverb ausgedrückt wird, wird im Finnischen mit dem Verb olla (sein) gebildet. So sagt man auf Finnisch zum Beispiel „kaupassa on tungosta“ („im Laden ist Gedränge“), was man im Deutschen eher mit „im Laden herrscht Gedränge“ übersetzen würde.
Auf der stilistischen Ebene geht es darum, Textkonventionen zu erkennen und diese auf das Deutsche zu übertragen. Finnisch ist eine agglutinierende Sprache, die viele Wörter und Wortformen vom selben Stamm bildet. Finnische Texte sind daher unter anderem wesentlich toleranter gegenüber Wiederholungen als deutsche. Hier gilt es, passende Synonyme zu finden oder wiederum die Entscheidung zu treffen, einzelne Wiederholungen wegzulassen, was nicht immer einfach ist.
Bei all diesen grammatischen und stilistischen Überlegungen hilft es mir beim Übersetzen, vor allem die Wirkung der Formulierungen im finnischen wie im deutschen Text im Blick zu behalten und darauf hinzuarbeiten, dass der Text am Ende eine in sich schlüssige Gesamtheit bildet. Jede Übersetzungsentscheidung hat schließlich ihre Vor- und Nachteile und wird unterschiedlichen Aspekten des Ausgangstextes gerecht. Die perfekte Lösung wird sich also kaum finden – ein übersetzter Text ist immer eine Ansammlung von Kompromissen.
Was kann Finnisch, was Deutsch nicht kann?
Einige haben sicher schon davon gehört: Finnisch hat keine geschlechtsspezifischen Personalpronomen und auch größtenteils nur geschlechtsneutrale Personenbezeichnungen. Diese werden meistens mit dem Suffix -ja von einem Verb gebildet, das etwa dem englischen -er in Wörtern wie teacher entspricht. Vom Verb opettaa (unterrichten, lehren) wird beispielsweise das Substantiv opettaja (Lehrer*in) gebildet, vom Verb lukea (lesen) das Substantiv lukija (Leser*in) – und Wörter wie tubettaja (YouTuber*in) zeigen deutlich, dass das Suffix weiterhin höchst produktiv ist. Zwar gab es auch in Finnland eine Debatte um Personenbezeichnungen, die wie puhemies (Vorsitzender, Sprecher) auf -mies (-mann) enden und als generisches Maskulinum gebraucht werden. Von den Schwierigkeiten, welche die Suche nach inklusiven Formulierungen im Deutschen mit sich bringt, ist man im Finnischen aber weit entfernt.
Beim Übersetzen kann das allerdings auch zum Problem werden: Manchmal muss man tatsächlich bei dem*der Autor*in nachfragen, welches Geschlecht eine Figur im Text haben soll, und bekommt darauf schon einmal die Antwort, dass diese Frage beim Schreiben gar nicht relevant war. Ein*e Autor*in bat mich sogar, die ungeklärte Geschlechtszugehörigkeit der Hauptfiguren in der deutschen Übersetzung beizubehalten – in diesem Fall musste ich gleich eine ganze Reihe von kreativen Lösungen finden, je nachdem, wie der konkrete Satz aussah. Außerdem hat Finnisch eine großartige Auswahl an Schimpf- und Fluchwörtern – von milde bis ausgesprochen derb findet sich für jeden Anlass etwas.
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