TraLaLit: Wie würden Sie – nach knapp 20 Jahren als Kritikerin, Programmleiterin, Moderatorin und Jurymitglied bzw. ‑vorsitzende – die Wahrnehmung von Übersetzer*innen im Verlauf der Jahre im deutschsprachigen Literaturbetrieb beschreiben?
Insa Wilke: Vor allem durch die Selbstorganisation von Übersetzer*innen hat sich die Wahrnehmung in meinen Augen verändert. Es passiert immer noch, aber seltener, dass die Übersetzungsleistung nicht erwähnt wird. Der Preis der Leipziger Buchmesse hat da auch einiges bewirkt. Als Kritikerin muss ich sagen, dass die veränderten Produktionsbedingungen in der Literaturkritik (weniger Stimmen, weniger Platz, weniger Honorar) es nicht einfacher machen, in einer Rezension, die verschiedene Dinge leisten muss, auch noch auf die Übersetzungsleistung ausführlich einzugehen. Das ist in der Regel kaum möglich, und ich bedaure, dass es dafür wenig Raum gibt.
In Ihrer Tätigkeit als Literaturkritikerin haben Sie regelmäßig mit übersetzten Texten zu tun. Welchen Stellenwert hat die Bewertung der Übersetzungsleistung in Ihrer täglichen Arbeit mit Literatur?
Ich denke das immer mit, da von der Übersetzung ja nun einmal abhängt, ob der Text im Deutschen eine Wirkung entfalten kann oder nicht. Das kann ich ganz genau nur am Einzelfall erklären. Aber zum Beispiel, wenn die Übersetzung zwar grammatikalisch genau ist, aber keinen Charakter, keinen Ton entwickelt. Dann bleibt es hölzern, entwickelt im Deutschen keine literarische Qualität. Insbesondere bei Lyrik spielt das eine Rolle. Was nützt es, wenn ich eine wort- und versgenaue Übersetzung habe, die aber keine Entsprechung für das Gemeinte im Deutschen findet. Aber wie gesagt: Es lässt sich leider nicht abbilden, wenn man 4000 Zeichen zur Verfügung hat und das Buch, womöglich eine nicht bekannte Autorin, Kontext und Urteil darstellen muss.
Die Gewinner*innen des Preises der Leipziger Buchmesse hatten alle einen starken Übersetzungsbezug. War das beabsichtigt? Wie war die Juryarbeit im Vorfeld?
Wir haben nicht nach Büchern gesucht, die einen Bezug zur Übersetzungskunst haben. Wir haben nach den herausragenden Titeln in allen Sparten gesucht. Dass dabei Übersetzung ein so starkes Gewicht bekommen hat, freut mich und spricht vielleicht auch für sich und für unsere Zeit, ihre ästhetischen und gesellschaftlichen Fragen.
Was waren Ihre Highlights des literarischen Jahres 2022?
Wirklich beglückend für mich war zu sehen, auf wie hohem Niveau sich die deutschsprachige Literatur bewegt, wie unterschiedliche Wege Autor*innen finden, ihren Fragen, Stoffen, Konflikten eine sprachliche Form zu geben. Und mich hat gefreut, dass sich das in den Preis-Entscheidungen in diesem Jahr gespiegelt hat: Zum Beispiel der Preis an Tomer Gardi und indirekt ja auch Anne Birkenhauer, an dem ich als eine von sieben Juror*innen mitwirken durfte, aber auch die Preise an Emine Sevgi Özdamar und Kim de l’Horizon. Es gibt ein Sensorium für die Energie, die gerade in der Literatur steckt und eine Offenheit für ästhetische Prozesse. Suchbewegungen werden gewürdigt und die Ernsthaftigkeit literarischer Auseinandersetzung wird wahrgenommen.
Welche Übersetzungen haben Sie besonders begeistert? Haben Sie eine Lieblingsübersetzung?
Ich habe keine Lieblinge, sondern immer wieder alte und neue Begegnungen, die mich elektrisieren, durch die ich etwas lerne, die meine innere und äußere Welt erweitern. Dazu zählen so unterschiedliche Übersetzungen wie Hinrich Schmidt-Henkels Vesaas-Übersetzung Die Vögel, Antje Rávik Strubels Übersetzung von Fagerholms Roman Wer hat Bambi getötet oder Stefan Mosters wahnsinnige Übersetzung von Volter Kilpi, um jetzt nur mal im nordischen Sprachraum und bei der Prosa zu bleiben. Die Reihe nenne ich so, weil sie sprachlich die Bandbreite der Möglichkeiten zeigt, die natürlich auch mit der Vorlage zu tun hat: Hinrich Schmidt-Henkels Übersetzung besticht durch das Atmosphärische, die sinnliche Genauigkeit und die ungeheure Lebenskenntnis, die sich in der Darstellung der Figuren und ihren Beziehungen untereinander zeigt. Antje Rávik Strubel beeindruckt, weil sie dieses hohe Tempo, den Wechsel der Sprachregister, das Fragmentarische der Texte in ein Deutsch bringt, das einen ganz atemlos macht und es schafft, Disparates doch als aus einem Guss wahrzunehmen. Stefan Moster wiederum erhält die Historizität seines Textes und bringt ihn aber in Schwingung durch das ungeheuer breite und genaue Vokabular dieser spezifischen Welt, die er da vor unsere Augen und Ohren bringt. Er macht einem den zeitlichen Abstand klar und gleichzeitig bringt er durch die sprachlichen Lösungen, die Modernität und unsere Zeit verbinden, alles ins Heutige. Da steckt ungeheure Recherche und sehr genaue Einfühlung und großes literarisches Können hinter. Interessant wird es, wenn es um unterschiedliche Haltungen zur Frage geht: Was ist Übersetzung? Das kann man zum Beispiel sehr schön an Steffen Popps Ben Lerner-Übersetzungen diskutieren, von denen ich begeistert bin und die genau das leisten, was ich oben beschrieben habe: keine Vers- und Wortgenauigkeit, aber zum Beispiel eine Übertragung des Humors, der sich an kulturspezifische Referenzen bindet, in den deutschen Sprach- und Erfahrungsraum. Sehr subtil, sehr elegant und klug.
Haben Sie schon einmal selbst etwas übersetzt?
Nein. Genauso wenig, wie ich Gedichte oder einen Roman geschrieben habe.
Haben Sie zu anderen Sprachen, außer Deutsch, eine engere Beziehung?
Zum Italienischen, vom Herzen her.
Hinweis: Das Interview mit Insa Wilke wurde schriftlich geführt.