Vor vier Jahren habe ich schon einmal eine Übersetzung eines Romans von Ottessa Moshfeghs besprochen: Im Sommer 2018 war Mein Jahr der Ruhe und Entspannung auf Deutsch erschienen, nachdem der Roman bereits in den USA zu einem Bestseller geworden war. Seitdem hat der Roman in den sozialen Medien ein Eigenleben entwickelt, vor allem auf Book Tok, wo er noch immer gehypt wird. Das Buch mit seiner neonpinken Pop-Art-Schrift und einem gelangweilt schauenden Porträt einer jungen Frau in Weiß genügt den ästhetischen Ansprüchen des Internets, und auch der Inhalt – eine weibliche Antiheldin, die vor der Welt flüchtet, indem sie sich mit Drogen zudröhnt – passt zum Gegenwartsgefühl der permanenten Überforderung angesichts der verschiedenen Krisen und dem anhaltenden Selbstoptimierungswahn.
Die Übersetzung von Anke Caroline Burger konnte mich damals nicht mitreißen, zumindest nicht im selben Maße wie das Original. Die „Sprachgewalt“, die Dennis Pohl dem Roman im SPIEGEL attestierte (natürlich, ohne den Namen der Übersetzerin zu nennen), war für mich im Vergleich zu Moshfeghs Original nicht gewaltig genug. Zu brav schien mir die Übersetzung. Dem Erfolg des Romans hierzulande tat dies keinen Abbruch. Und Burger hat seitdem alle weiteren Romane von Moshfegh übersetzt.
Moshfeghs nächsten Roman Der Tod in ihren Händen (eine Art Krimi über eine Witwe, die sich auf die Suche nach einer vermeintlichen Toten im Wald begibt) kaufte ich jedoch im Original. Und auch ihr neuestes Buch Lapvona, das im Sommer 2022 erschienen ist, las ich zunächst auf Englisch. Der Roman löste in mir jedoch erneut Interesse an Burgers Übersetzungen aus. Denn Moshfegh begibt sich mit jedem neuen Buch auf unbekanntes Terrain, was sie von einigen ihrer Zeitgenossinnen unterscheidet – man denke beispielsweise an Sally Rooney, deren Romane alle von der gebildeten irisch-englischen Mittelschicht erzählen.
Inhaltlich könnten Lapvona und Mein Jahr der Ruhe und Entspannung kaum unterschiedlicher sein: Während in Letzterem die New Yorker Kunstszene und der Eskapismus Mittzwanzigjähriger vorgeführt wird, handelt der neueste Roman von dem fiktiven, mittelalterlichen Dorf Lapvona irgendwo in Europa. Der dort ansässige Fürst Villiam, kaum mehr als eine Karikatur, ist vor allem mit sich und dem für ihn von dem korrupten Pater Barnabas kuratierten Unterhaltungsprogramm beschäftigt, während die Bevölkerung Lapvonas von Krankheiten, Dürren und Räuberbanden (die Villiam dazu beauftragt hat) heimgesucht wird. In Lapvona lebt auch der Schäfer Jude mit seinem körperlich eingeschränkten Sohn Marek, den er regelmäßig verprügelt, wenn er nicht gerade seine Lämmchen füttert oder sich selbst geißelt.
Als Marek mit Jacob, dem Sohn des Fürsten, einen Hügel besteigt und aus Eifersucht einen Stein nach ihm wirft, wodurch dieser eine Klippe hinab stürzt, kommt die Geschichte erst richtig ins Rollen. Jude bringt Marek zur Bestrafung zu Villiam und überlässt ihn dort seinem Schicksal. Villiam verurteilt Marek jedoch nicht zum Tode – Jacobs Tod (der wiederum gar nicht sein leiblicher Sohn war) interessiert ihn überhaupt nicht. Er schlägt stattdessen einen Tauschhandel vor: „Ich nehme deinen Sohn, und du kannst meinen haben“, sagt er Jude. Und so verbringt Marek den Rest des Romans auf Villiams Schloss, wo ihn nicht weniger Gräueltaten als in der väterlichen Hütte erwarten.
In Lapvona bedient Moshfegh alle Werkzeuge des Grotesken. Nach welchen Gesetzmäßigkeiten Lapvona operiert, bleibt unklar. Es scheint lediglich der Zufall zu regieren. Die meisten ihrer Charaktere wirken zudem gierig und narzisstisch; sie eignen sich daher nur bedingt als Sympathieträger. Und Mord und Totschlag sind nur der Gipfel der Monstrositäten, die Moshfegh hier darstellt. Als Lapvona im Sommer von einer heftigen Dürre geplagt wird, lässt sich Jude von der Dorfältesten und Kräuterhexe Ina überreden, eine Leiche zu essen. Und als Jude wiederum Agata, die ihn direkt nach der Geburt von Marek verlassen hatte, zufällig im Wald entdeckt, wirft er sich auf sie und vergewaltigt sie.
Dank solcher und anderer Szenen, darunter beispielsweise noch ein anales Spiel mit einer Weintraube, ist der Ekelfaktor beim Lesen hoch. „Es gibt ja Komik innerhalb des Horrors“, kommentierte Moshfegh ihre Vorgehensweise neulich im Interview mit dem ZEITmagazin. Und tatsächlich sind einige Szenen in Lapvona aufgrund ihrer Absurdität unweigerlich komisch. Offensichtlich hatte die Autorin große Lust, mit diesem Roman (wie auch mit vielen ihrer anderen Texte), die Grenzen des Vor- und Darstellbaren auszutesten. Welchen höheren Sinn dieser Roman jedoch verfolgt, außer eine Schockwirkung zu erzielen, hat den englischsprachigen Kritiker:innen im vergangenen Sommer Kopfzerbrechen bereitet. Die Meinungen waren dementsprechend gespalten.
Lapvona war auch eines der seltsamsten Bücher, die ich im vergangenen Jahr gelesen habe. Viele andere Romane habe ich längst schon wieder vergessen, aber Lapvona und seine rauen Figuren hinterließen Eindruck: Ich war von dem Buch verstört, aber auch fasziniert. Allein deshalb interessierte mich die Übersetzung. Ich war mir außerdem sicher, dass die Übersetzung von Burger zwangsläufig eine andere Wirkung erzielen würde als ihre Vorherigen. Ich ging auch davon aus, dass die an einigen Stellen unmoderne Wortwahl, die mich an Mein Jahr der Ruhe und Entspannung störte, hier weniger ein Problem darstellen würde, da der Roman eben nicht im New York der Gegenwart spielt.
Beim Schreiben dieser Rezension befinde ich mich jedoch in derselben Zwickmühle wie beim letzten Mal: Weil ich Moshfeghs Original mag, will ich Burgers Übersetzung auch mögen. Ich stand der deutschen Fassung von Lapvona wohlwollend gegenüber und die Übersetzung wirkte auch auf mich zunächst gut lesbar, flüssig und an vielen Stellen so trocken wie die Vorlage. Lapvona ist kein historischer Roman. Daher hat Moshfegh gar nicht erst versucht, eine ältere, künstliche Sprache zu finden. Ihr amerikanisches Englisch ist in diesem Roman genauso präzise und zugänglich wie in den deutlich gegenwartsnäheren Vorgängern. Die unaufgeregte, distanzierte Erzählstimme (Moshfegh erzählt zum ersten Mal aus der 3. Person) bietet einen gelungenen Kontrast zu den krassen Geschehnissen des Romans. Insgesamt ist die Sprache für moderne Leser:innen gemacht, ohne hypermodernes Vokabular zu verwenden.
Die Wortwahl der deutschen Übersetzung hat mich wie erwartet tatsächlich deutlich weniger irritiert als in Mein Jahr der Ruhe und Entspannung. Doch auch in Lapvona gibt es einige Wörter, die mich beim Lesen der Übersetzung stutzig machten. Sie stechen vor allem hervor, weil sie nicht idiomatisch sind oder den Tonfall insgesamt uneben werden lassen. „[Child] of pain“ wird beispielsweise mit „du Schmerzenskind“ übersetzt und „his insistence“ mit „dieses Insistieren“. Das sind Wörter, in denen man direkt das Englische deutlich heraushört, auch ohne das Original gelesen zu haben. An anderer Stelle „fabulierten“ die Wachen – das englische „suggested“ klingt da deutlich zeitloser und neutraler. Keine zwei Seiten später befinden wir uns sprachlich direkt wieder in der Gegenwart: Villiam denkt an „eine Actionszene [mit] der Nonne, die ihm in den Magen boxte.“ („Yes, Villiam thought dreamily, an action scene. And the nun punching him in the gut.“) Ich konnte ebenso wenig mit der aus der Zeit gefallenen Bezeichnung „Bankert“ für das englische „Bastard“ anfangen, die mehrmals auftaucht, weil der Begriff Marek als Außenseiter kennzeichnet. Auch „Rotzbengel“ wirkt im Vergleich zu „a little brat“ überholt.
Spannender sind jedoch andere Unterschiede zwischen Übersetzung und Original, die der direkte Vergleich offenlegt. Die folgende Szene ereignet sich, nachdem Jacob bereits die Klippe heruntergestürzt war und Marek ihn dort zurückgelassen hatte:
Marek found a place to squat between the babes and petted their heads and cooed at them, trying to forget that he had left Jacob up on that rock. His father watched the storm through the crack in the door, looking out as if someone were coming, waving his hand behind him to hush the lambs. Marek was good. He petted the heads of the babes and hushed them some more. He was an innocent, he told himself, a child. If some stray impulse had resulted in horror—a simple rock was all it was—someone should be comforting him, in fact. A child makes mistakes, yes, but accidents are God’s purview.
Marek fand eine Ecke, in der er sich zwischen die Lämmer kauern konnte, streichelte ihnen die Köpfe, redete beruhigend auf sie ein und versuchte zu vergessen, dass er Jacob oben am Berg hatte liegen lassen. Sein Vater stand am Türspalt und sah hinaus ins Gewitter, hielt Ausschau, als wäre jemand auf dem Weg zu ihnen, winkte mit der Hand hinter sich, damit die Lämmer aufhörten, laut herumzublöken. Marek machte seine Sache gut. Er streichelte die Lämmer und brachte sie zum Schweigen. Er war selbst unschuldig wie ein Lämmchen, sagte er sich, ein Kind, ein Unschuldslamm. Eine zufällige Bewegung hatte ungewollt zu etwas Grauenhaftem geführt – es war einfach nur ein Stein gewesen, nichts weiter – im Grunde musste eigentlich jemand ihn trösten. Ein Kind macht mal einen Fehler, und Unfälle sind Gottes Zuständigkeitsbereich.
Marek plagt seit dem Vorfall, der sich kurz zuvor ereignet hat, ein schlechtes Gewissen. Und einige Seiten später wird er Jude tatsächlich gestehen, was mit Jacob passiert ist. Der Beginn des Absatzes suggeriert, dass wir die Situation aus Mareks Perspektive wahrnehmen, die durch einen Einschub wie „sagte er sich“ gelenkt wird. Marek führt ein Selbstgespräch, um die eigene Schuld von sich zu weisen, um sich selbst von seiner Unschuld zu überzeugen. In diesem Zusammenhang ergibt die Übersetzung „Marek machte seine Sache gut“ wenig Sinn. Denn um welche „Sache“ handelt es sich? Das Streicheln der Lämmer? Wohl kaum. Marek ist sich bewusst, dass er etwas Schlechtes getan hat. Das englische „Marek was good“ funktioniert daher wie eine Affirmation, genau wie das daraus später folgende „He was an innocent“. Selbst wenn man diesen Satz nicht Mareks Perspektive zuschreibt, sondern beispielsweise einer allwissenden Erzählstimme, erreicht „Marek was good“ eine Bedeutungsebene, die der Übersetzung abhandenkommt. Der kurze Satz dient auch dazu, die Leser:innen in den Gewissenskonflikt miteinzubeziehen. Wir wissen ja bereits, dass er durch seine Handlungen jemanden umgebracht hat. Darf man Marek da noch als „gut“ bezeichnen?
Im Englischen gibt es auch das deutsche „Unschuldslamm“, das Burger in dem Absatz eingefügt hat, nicht. An sich ein treffendes Wortspiel für diesen Roman, in dem die einzig wirklich Unschuldigen tatsächlich Judes Lämmer sind. Im Vergleich zum Original ist mir der Satz jedoch zu übertrieben, ein Eindruck, der vor allem auch durch den unnötigen Zusatz „unschuldig wie ein Lämmchen“ hervorgerufen wird. Die Übertreibung lässt eine Ironie anklingen, die im Original in diesem konkreten Satz nicht zu finden ist. Und wie plausibel ist es, dass ein Kind sich selbst als Unschuldslamm bezeichnet?
Auffällig sind nicht zuletzt noch zwei kleine Wörter: Das eingeschobene „yes“, das in der Übersetzung durch das „mal“ lediglich angedeutet wird, aber im Prinzip verloren geht, und das „but“, das hier seltsamerweise durch ein „und“ ersetzt wird, sodass der Gegensatz völlig abhanden kommt. Ein Kind macht lediglich Fehler, aber der Zuständige, der tatsächlich die Verantwortung trägt für das, was in Lapvona geschieht, ist in Mareks Wahrnehmung Gott. Schließlich, so geht der Gedankengang auf den nächsten Setien weiter, hat Marek nie wirklich die Absicht gehabt, dass Jacob den Berg hinunter stürzt und stirbt. Es ist also ein Freispruch, der vorgenommen wird.
Verstärkungen und Übertreibungen wie im Falle des Unschuldslammes finden sich auch in der restlichen Übersetzung. „If the Lapvonians had any sense“ wird zu „Wenn die Lapvoner nicht so strunzdumm wären“, was im Deutschen härter klingt und die Verachtung der Herrschenden gegenüber dem Volk hervorhebt. Und in Judes Forderung „And you’d better have a son of your own someday soon“ kommt plötzlich Gott ins Spiel: „Und geb’s Gott, wirst du auch bald einen Sohn haben“. An einigen Stellen wird in Sätzen ein anderes Subjekt eingefügt, um die Erzählperspektive erkenntlicher zu machen, was unter Umständen aber einer möglichen Zweideutigkeit entgegenwirken kann: „A clear blue sky was hard to take“ wird beispielsweise zu „Einen wolkenlosen blauen Himmel fand er schwierig“.
Werfen wir noch einen Blick auf ein längeres Beispiel. An der folgenden Stelle erinnert sich Jude an Agata, Mareks Mutter:
She was crying. And Jude thought, Good girl. That’s my good little girl. You are mine now. The white that dripped from his greasy penis smelled like a summer rain, iron in it, tangy. ‘I love you,’ Jude said, and sat back against the wall. Agata had cried—she was still a child, after all—and Jude took her by the arm so she could wash herself outside with water from the lambs’ trough.
Sie weinte. Und Jude dachte: So ist’s recht, mein Mädchen. Das hast du gut gemacht, meine Kleine. Jetzt gehörst du mir. Das Weiß, das aus seinem schmierigen Penis tropfte, roch wie ein Sommerregen, würzig, nach Eisen. »Ich liebe dich«, sagte Jude und lehnte sich an die Wand. Agata weinte – verständlich, sie war ja noch ein Kind –, und Jude führte sie am Arm nach draußen, damit sie sich mit Wasser aus dem Trog der Lämmer waschen konnte.
Burger schafft es hier, dass Judes Gedanken in der Übersetzung noch paternalistischer, noch unheimlicher klingen. Es wirkt an dieser Stelle so, als ob Jude mit seinen Lämmern reden würde. Interessanterweise kommentiert Jude in der Übersetzung viel deutlicher Agatas Handlungen mit „So ist’s recht, mein Mädchen. Das hast du gut gemacht“ als das Original, obgleich Agata genau wie ihr Sohn tatsächlich nichts macht, sondern die ganze Tortur stillschweigend über sich ergehen lässt.
Während diese Sätze in der Übersetzung noch funktionieren, wirkt das mit „verständlich“ übersetzte „after all“ auf mich irritierend. Auch bei diesem Einschub stellt sich nämlich die Frage: Wer spricht hier? Stammt dieser Kommentar von Jude, und inwiefern wäre dieser überhaupt in der Lage, Mitleid für Agata aufzubringen? Ihn interessieren eigentlich nur seine Lämmer. Der Einwurf könnte also ebenso von einer höheren Erzählinstanz kommen, die sich jedoch im Original weniger wertend äußert. Das vorangestellte „verständlich“ leitet den Einschub ganz anders als das englische „after all“ ein und antizipiert gewissermaßen die Reaktion der Leser:innen: Agatas Reaktion ist verständlich für alle, die nicht in der Romanwelt zu Hause sind und verstehen, was moralisches Handeln ist.
Solche Übersetzungsentscheidungen zeigen ganz deutlich, wie sehr das Übersetzen ein Akt der Interpretation ist. Aber ist diese Interpretation im Sinne des Originals und seiner Autorin? Bei Lapvona ist diese Frage nicht leicht zu beantworten. Es findet schließlich keine Verfälschung des Textes statt, sondern es handelt sich um Nuancen, die in ihrer Summe die Wirkung des Romans beeinflussen können. Im Fall von Lapvona wirkt die Übersetzung urteilender und sie lenkt stellenweise in eine andere Richtung als das Original. Wem sollen die Leser:innen des Romans ihre Empathie schenken? Da gehen die Meinung von Autorin und Übersetzerin auseinander. Sichtbar wird das bereits im ersten Absatz:
One of the bandits was injured by an ax wielded by the slain children’s mother—she smashed his left foot. Then he was restrained by neighbors and dragged to the village square, where he was beaten and put in the pillory.
Die Mutter der erschlagenen Kinder attackierte einen der Eindringlinge – sie spaltete ihm den linken Fuß mit der Axt. Die Nachbarn überwältigten den Räuber und schleppten ihn auf den Marktplatz, wo er verprügelt und an den Pranger gestellt wurde.
Während im Original im Fokus steht, was dem Räuber angetan wird, rücken in der Übersetzung die Bewohner Lapvonas in den Mittelpunkt, die sich mit Gewalt an dem Räuber rächen. Der Satz beginnt in der Übersetzung mit „Mutter der erschlagenen Kinder“ und sie ist hier diejenige, die unser Mitleid bekommen soll. Ich glaube aber, dass Moshfegh hier den Räuber bewusst zweimal an den Anfang gestellt hat. Denn es ist der Räuber, nicht die Mutter der Kinder, zu dem Marek einige Seiten später geht, um ihm auf den Kopf zu küssen und zu sagen: „Gott vergebe dir“. Damit richtet Moshfegh, wie es ganz typisch für sie ist, den Fokus auf die Figuren, die aufgrund ihres Verhaltens am schwierigsten zu mögen sind.
Das ist die Falle, die Lapvona einem stellt: Es gibt keine Moral in diesem Buch und die Figuren des Romans entwickeln sich nicht weiter. Mit Ausnahme von Grigor, der später am Esstisch von Villiam realisiert, welch unfähigen und korrupten Herrscher er da vor sich sitzen hat, haben die Figuren keine tieferen Erkenntnisse, die ihr eigenes Leben betreffen könnten. Viele werden noch nicht mal von einer inneren Motivation angetrieben, höchstens vom Drang zu überleben. „Gut“ und „schlecht“ existieren als Kategorien für menschliches Handeln in Lapvona nur bedingt und falsches Verhalten hat keine Konsequenzen. Marek ist sich zwar bewusst, dass es nicht richtig war, Jacob mit einem Stein zu töten, aber sein Verhalten bleibt ungestraft und unreflektiert, sodass sich Verbrechen immer wiederholen und Marek schließlich seinen neugeborenen Halbbruder am Ende des Romans genau so umbringt, wie er zuvor seinen Freund Jacob umgebracht hat. In Moshfeghs lakonisch-distanziertem Original ist das schwer auszuhalten, in Burgers Übersetzung fällt es leichter – dort gibt es aber auch einen Gott.