Neun Jahre ist es her, dass Édouard Louis mit seinem ersten autobiographischen Roman En finir avec Eddy Bellegueule seinen Durchbruch als Schriftsteller feierte (2015 erschien die deutsche Übersetzung von Hinrich Schmidt-Henkel unter dem Titel Das Ende von Eddy im S. Fischer Verlag). Schonungslos genau und in vehementem Ton erzählte er von seinem Aufwachsen in einem Dorf in der Picardie, von einer Kindheit, die geprägt war von Armut, vom Alkoholismus der Väter, Brüder und Ehemänner, von Gewalt und Aggression, Homophobie und Rassismus. Die Erzählung liest sich wie eine Abrechnung, wie ein performativer Befreiungsschlag und endet, als sich für den jungen Eddy eine Möglichkeit zur Flucht auftut: Er verlässt sein Dorf nach der Mittelstufe und besucht ein Gymnasium in Amiens.
Wie aber hat er es in so kurzer Zeit – Louis ist erst 21, als En finir avec Eddy Bellegueule in Frankreich erscheint – in den Kreis der intellektuellen Elite und zum jungen Starautor geschafft? Wie sah der Weg vom marginalisierten Rand der französischen Gesellschaft in deren kulturelles Zentrum aus? Wie wurde Eddy Bellegueule zu Édouard Louis? Darauf gibt sein neustes, inzwischen fünftes autobiographisches Buch nun eine ausführliche Antwort.
J’ai vingt-six ans et quelques mois, la plupart des gens diraient que ma vie est devant moi, que rien n’a commencé encore et pourtant je vis depuis longtemps déjà avec l’impression d’avoir trop vécu ; j’imagine que c’est à cause de ça que le besoin d’écrire est si profond, comme une manière de fixer le passé dans l’écrit, et par là je suppose, de s’en débarrasser ; ou peut-être, au contraire, que le passé est tellement ancré en moi maintenant qu’il m’impose de parler de lui, à tous les instants, à chaque occasion, qu’il a gagné sur moi et qu’en croyant m’en débarrasser je ne fais que renforcer son existence et son empire sur ma vie, peut-être que je suis pris au piège – je ne sais pas.
Ich bin sechsundzwanzig Jahre und ein paar Monate alt, die meisten Menschen würden sagen, ich hätte das Leben noch vor mir, noch hätte nichts richtig angefangen, aber ich habe seit Langem das Gefühl, dass ich schon zu viel erlebt habe; vermutlich habe ich deshalb ein so großes Bedürfnis zu schreiben, das Schreiben ist für mich eine Möglichkeit, die Vergangenheit zu fixieren und mich so vielleicht von ihr zu befreien; vielleicht ist die Vergangenheit aber auch so tief in mir verankert, dass ich nicht anders kann, als von ihr zu erzählen, jederzeit, bei jeder Gelegenheit, vielleicht tue ich in dem Glauben, mich von ihr zu befreien, nichts anderes, als ihre Anwesenheit zu stärken und ihre Macht über mich zu vergrößern, vielleicht sitze ich in der Falle – ich weiß es nicht.
Schon in den ersten Zeilen von Anleitung ein anderer zu werden (Originaltitel: Changer : méthode), erschienen im Aufbau Verlag in der Übersetzung von Sonja Finck, wird klar: Der Erzähler kann sich nicht vollständig von seiner Vergangenheit befreien – und muss wieder und wieder darüber schreiben. Wie in Das Ende von Eddy hat dieses Schreiben eine gewisse Dringlichkeit, will genau hinschauen, verstehen und verwandeln. Dabei vermisst man – bereits im Original − ein wenig den mitreißenden Rhythmus des ersten Romans, dafür nähert sich Louis seinem Gegenstand jetzt mit mehr analytischer Distanz.
Anleitung ein anderer zu werden schließt chronologisch direkt an Das Ende von Eddy an. Es geht nun nicht mehr um den scheiternden Versuch der Anpassung an ein Milieu, das „alles ablehnte, was ich war“, sondern um das Bedürfnis, „ein anderer zu werden“ und dem Umfeld der Herkunft zu entkommen. Motor dieser Transformation ist der Wunsch nach Rache für die Gewalt und die Unfreiheit, die er erfahren hat, sowie nach Anerkennung in der Welt, die er so sehr begehrt. Zunächst ist das die bildungsbürgerliche Welt seiner Schulfreundin Elena in Amiens. Er bewundert Elena und versucht, ihr so ähnlich zu werden wie möglich. Auch seine Transformation, seine Flucht, ist also eine Form der Anpassung.
Die größte Stärke des Buches ist die Genauigkeit, mit der Louis die Ambivalenz und die Schwierigkeiten dieser Transformation beschreibt
Ce que j’avais été était inscrit dans ma chair, dans ma voix, dans mes mouvements, et j’ai décidé de tout transformer en moi. Je me suis promis d’éradiquer toutes les marques de ce que j’avais été ; je me suis souvenu de la première semaine à Amiens, quand une fille avait ri en m’entendant parler dans les couloirs du lycée, à cause de mon accent du Nord. Alors je me suis entraîné. Tous les jours, je m’entraînais à prononcer les mots sans accent ; je répétais les mots en marchant dans la rue, le soir avant d’aller me coucher, je m’acharnais à contrôler les mouvements et les contractions de mes lèvres, de ma langue, de ma gorge quand je m’adressais à Nadya et Elena, il fallait rester concentré à chaque mot pour ne pas flancher, j’essayais d’imiter les accents de la bourgeoisie dans les films que je voyais au cinéma avec elles (certains se rendaient compte de cette transformation au lycée, comme Étienne, un nouvel ami. Il me disait Mais pourquoi tu parles avec cet accent de bourge ridicule maintenant ? – alors que lui avait cet accent, comme si l’avoir acquis par sa famille était légitime mais que l’avoir acquis par choix et par l’apprentissage était illégitime et condamné au ridicule).
Meine Herkunft war mir in den Leib geschrieben, in die Stimme, in jede Bewegung, also beschloss ich, alles an mir zu verändern. Ich nahm mir vor, sämtliche Spuren des Menschen, der ich bisher gewesen war, auszulöschen; mir fiel die erste Woche in Amiens ein, als ein Mädchen auf dem Flur des Gymnasiums über meinen nordfranzösischen Dialekt gelacht hatte. Also begann ich zu üben. Jeden Tag übte ich meine Aussprache; ich murmelte die Wörter vor mich hin, während ich durch die Stadt lief und abends vor dem Einschlafen im Bett, und wenn ich mich mit Nadya oder Elena unterhielt, versuchte ich verbissen, meine Lippenbewegungen, meine Zunge, meine Halsmuskeln zu kontrollieren, ich konzentrierte mich auf jedes einzelne Wort, um keinen Fehler zu machen, ich ahmte die bourgeoise Sprechweise aus den Filmen nach, die ich mit Nadya und Elena im Kino sah (auf dem Gymnasium bemerkten manche Leute meine Veränderung, Étienne zum Beispiel, ein neuer Freund. Er sagte, Warum redest du neuerdings mit so einem lächerlichen Akzent? – dabei hatte er denselben Akzent. Als wäre es legitim, wenn man den albernen Akzent von klein auf gelernt hatte, aber illegitim und albern, wenn man sich bewusst dafür entschieden hatte, ihn zu lernen.)
Eddy muss sich nicht nur jede Menge Wissen aneignen, sondern auch eine neue Art sich zu bewegen, zu essen, zu lachen und zu sprechen. Er lässt sich den Haaransatz korrigieren, die Zähne machen und sogar Vor- und Nachnamen amtlich ändern. Und je mehr er sich verändert, desto mehr wird ihm bewusst, wie stark seine soziale Herkunft allen Ebenen seines Seins eingeschrieben ist, wie mächtig die Mechanismen sozialer Reproduktion sind und wie schwer es ist, sich ihrem Zugriff zu entziehen. Die Transformation des Habitus erfordert eiserne Disziplin, absolute Entschlossenheit − und eine „méthode“, ein methodisches Vorgehen. Ob sich dieses durch eine „Anleitung“ vermitteln lässt, die für alle umsetzbar wäre, wie der Titel der deutschen Übersetzung nahelegt, ist fraglich.
Vor einem kann diese „Anleitung“, wenn sie denn eine ist, ohnehin nur warnen: Je mehr die Klassenflucht gelingt, desto unüberbrückbarer wird die Distanz zur Herkunft. So erzählt der Text auch von der doppelten Scham, in der Louis gefangen ist: In seinem bürgerlichen Umfeld schämt er sich für seine Herkunft, schämt sich aber zugleich für diese Scham, die einem Verrat gleichzukommen scheint, und die Verachtung, die in wohlhabenden Kreisen den unteren Schichten entgegengebracht wird. Und nicht zuletzt geht es auch um den Schmerz, der dadurch entsteht, dass der Klassenflüchtling auf seinem Weg vertraute Menschen zurücklässt. Der Roman ist daher als eine Art Bekenntnis, der Versuch einer fiktiven „Aussprache“ angelegt: zunächst mit dem Vater, dann mit Elena.
Est-ce que je dois te raconter le début de l’histoire encore une fois ? J’ai grandi dans un monde qui rejetait tout ce que j’étais, et je le vivais comme une injustice parce que – c’est ce que je me répétais, des centaines de fois par jour, jusqu’à la nausée −, je le vivais comme une injustice parce que je n’avais pas choisi ce que j’étais.
Je l’ai déjà raconté mais je dois tout reprendre dans l’ordre, je me suis promis de le faire […].
Muss ich dir den Anfang der Geschichte noch einmal erzählen? Ich wuchs in einer Welt auf, die alles ablehnte, was ich war, und ich empfand es als Ungerechtigkeit – das dachte ich immer wieder, hundertmal am Tag, bis zum Erbrechen – ich empfand es als Ungerechtigkeit, weil ich es mir nicht ausgesucht hatte.
Ich habe die Geschichte schon einmal erzählt, aber ich muss es noch einmal von vorne tun, das habe ich mir fest vorgenommen […].
Spätestens hier wird deutlich, dass die Übersetzung − trotz des im Vergleich zu Louis’ erstem Roman etwas konventionelleren Erzählton − alles andere als eine einfache Angelegenheit ist. Sie verlangt ein ausgeprägtes Bewusstsein für das, was der Roman selbst so deutlich werden lässt: Sprache ist kein objektiv gegebenes Mittel zur Kommunikation. In ihr materialisiert sich eine spezifisch sozial situierte Erfahrung und die Wirkmächtigkeit gewaltvoller und subjektkonstituierender Klassenverhältnisse. Nur mit einer großen Sensibilität für Ungleichheiten sowie einem entsprechend reichen Wortschatz lässt sich die nuancierte Erzählung übertragen.
Mit Anleitung ein anderer zu werden hat nun erstmals Sonja Finck einen Text von Louis ins Deutsche gebracht. Seit 2017 übersetzt Finck für den Suhrkamp Verlag die Romane von Annie Ernaux, die, wie Louis selbst erklärt, zentrales Vorbild für sein Schreiben ist. (Ironischerweise verdankt das deutsche Lesepublikum in umgekehrter Reihenfolge die Übersetzungen von Didier Eribons Rückkehr nach Reims und den Erzählungen Annie Ernaux’ dem durchschlagenden Erfolg von Louis’ erstem Roman.) Ernaux’ Vorbildrolle merkt man Anleitung ein anderer zu werden auch deutlich an: Wie Ernaux’ Texte ist auch Louis’ Roman fragmentarisch aufgebaut. Wie Ernaux thematisiert auch er in selbstreflexiven Einschüben den Prozess des Erinnerns selbst.
Und auch für das Dilemma, jetzt als Teil einer privilegierten kulturellen Elite über Angehörige eines sozial abgehängten Milieus zu schreiben, liefert Annie Ernaux einen möglichen Umgang: In einem Interview mit der Soziologin Isabelle Charpentier erklärte sie 2005 in Bezug auf diese schwierige Position, sie versuche, eine einfache, möglichst unliterarische Sprache für ihre Erzählungen zu finden, die auch ihr Vater verstehen könne. Und sie lässt in ihrem Schreiben über ein bestimmtes soziales Milieu dessen Ausdrucksweise selbst sprechen.
Auch Louis verwendet spezifische Sprechweisen sozialer Gruppen, integriert zum Beispiel Worte seiner Eltern in den Text und kontrastiert sie oft mit Ausdrücken anderer, sozial besser gestellten Personen. Die Wiedergabe dieser sprachlichen Versatzstücke auf Deutsch ist vielleicht die größte Herausforderung für die Übersetzung. Schließlich gilt es, ihre soziale und historische Situiertheit beizubehalten, ohne dabei stereotyp zu klingen. In Sonja Fincks Übersetzung gelingt das ausgesprochen gut:
Un soir à la fin du repas j’avais dit à ma mère, Je vais boire le thé tu en veux un ? – je n’avais pas dit boire du thé mais boire le thé, comme Elena. Je l’avais fait pour montrer la nouvelle personne que je croyais être. Ma mère m’a regardé, et elle a ri, Attention il joue au Monsieur celui-là maintenant, il est noble, il boit LE thé. Elle avait fait semblant de rire mais j’avais vu la blessure dans sa voix et sur son visage.
Toi tu ne disais rien. Tu regardais la télévision, en silence, comme toujours, et je ne sais pas ce que tu pensais de ma transformation.
Einmal sagte ich nach dem Abendessen zu meiner Mutter, Ich gieße mir einen Tee auf, möchtest du auch einen? – ich sagte aufgießen, wie Elena, statt ich mache mir einen Tee. Damit wollte ich zum Ausdruck bringen, dass ich ein neuer Mensch war. Meine Mutter sah mich an und lachte, Oha, er spielt den feinen Herrn, er hält sich wohl für was Besseres, Monsieur GIESST SICH EINEN TEE AUF. Sie tat so, als fände sie das lustig, aber ich hörte die Verletzung in ihrer Stimme, sah die Kränkung in ihrem Gesicht.
Du sagtest nichts. Du sahst weiter schweigend fern, wie immer, und ich weiß bis heute nicht, was du dachtest.
Aber auch die Schlichtheit der Erzählstimme ist alles andere als leicht zu übertragen. Auf lexikalischer Ebene gelingt es der Übersetzerin souverän, das richtige Register zu treffen. Lediglich die Unterschiede zwischen dem französischen und dem deutschen Tempussystem sorgen im ersten, an den Vater gerichteten Teil der Erzählung, stellenweise für ein paar kleine Stolperer. Louis verzichtet in diesem Teil fast vollständig auf das literarische Tempus des passé simple, wodurch das französische Original hier alltagssprachlicher, mündlicher klingt als das Deutsche, das um das Präteritum nicht herumkommt. Sonja Finck entscheidet sich dafür, diesen Abschnitt der Erzählung überwiegend im Präteritum zu halten und den Ton stellenweise durch Einsatz des Perfekts zu setzen. Das funktioniert insgesamt betrachtet sehr gut; lediglich dann, wenn der Vater direkt angesprochen ist, wirkt das Präteritum doch ein wenig unauthentisch − oder markiert die Distanz zwischen Sohn und Vater zumindest ein wenig stärker:
Au fond, qu’est-ce que tu savais ? Qu’est-ce que tu ignorais, qu’est-ce que tu avais choisi d’ignorer ? Est-ce que tu devinais ma vie ? Est-ce que tu t’interrogeais ?
Was wusstest du? Was beschlossest du zu ignorieren? Ahntest du, wie mein Leben aussah? Stelltest du dir überhaupt solche Fragen?
Allerdings ist auch im französischen Original die Ansprache an den Vater ein wenig halbherzig umgesetzt und wirkt etwas gezwungen.
Trotzdem überzeugt die erste Hälfte des Romans mehr als die zweite. Die Bewunderung für Eribon und der Weg vom Studentenleben in Amiens an die École Normale Supérieure in Paris sind etwas langatmig, stellenweise fast melodramatisch erzählt. Gleichzeitig empfindet man vielleicht aber auch ein gewisses Unbehagen bei der Lektüre angesichts des unbedingten Aufstiegswillens, und das ist durchaus im Sinne der Erzählung, denn gegen Ende wird auch beim Erzähler ein kritischer Blick auf sein Begehren/seinen Drang nach sozialem Aufstieg und sozialer Anerkennung spürbar.
Spannend in diesem Teil ist zudem, wie sich soziales mit sexuellem Begehren vermischt. Anleitung ein anderer zu werden erzählt nämlich auch von der Befreiung von einer internalisierten Homophobie. Der Erzähler beginnt, immer reichere Männer zu daten, bis er schließlich bei den Reichsten der Reichen zu Gast ist – und in einer markanten Szene bemerkt, wem seine Solidarität eigentlich gilt: nicht den geladenen Gästen, sondern der Bediensteten, die vor aller Augen vom Hausherrn getadelt und gedemütigt wird. Die Scham darüber, sie in dieser Situation nicht verteidigt zu haben, sich nicht mit ihr solidarisiert zu haben, wird dann zum Motor für einen weitere einschneidende Veränderung.
Und dann beginnt er zu schreiben. Schreibt, um ein anderer zu werden. Kehrt aber schreibend immer wieder auch an seine Herkunft zurück. Dabei wiederholt sich vieles aus den vorherigen Büchern. Es wird aber auch klar: Die Wiederholung ist notwendig, die Geschichte noch nicht auserzählt. Die Lektüre lohnt sich also, auch und vielleicht vor allem für all diejenigen, die schon 2015 von Das Ende von Eddy begeistert waren. Anleitung ein anderer zu werden, in der überaus gelungenen Übersetzung von Sonja Finck, wird für sie vielleicht in mancher Hinsicht ernüchternd, vor allem aber ausgesprochen erkenntnisreich sein.