Neu­er Name, neu­es Leben, neue Stimme

Édouard Louis’ neuer Roman erzählt von der Metamorphose des jungen Eddy Bellegueule zum weltweit gefeierten Schriftsteller – und erhält mit Sonja Finck eine neue deutsche Stimme. Von

Édouard Louis Roman Anleitung ein anderer zu werden, erschienen beim Aufbau Verlag. Hintergrundbild: Paul Blenkhorn via Unsplash

Neun Jah­re ist es her, dass Édouard Lou­is mit sei­nem ers­ten auto­bio­gra­phi­schen Roman En finir avec Eddy Bel­le­gueu­le sei­nen Durch­bruch als Schrift­stel­ler fei­er­te (2015 erschien die deut­sche Über­set­zung von Hin­rich Schmidt-Hen­kel unter dem Titel Das Ende von Eddy im S. Fischer Ver­lag). Scho­nungs­los genau und in vehe­men­tem Ton erzähl­te er von sei­nem Auf­wach­sen in einem Dorf in der Picar­die, von einer Kind­heit, die geprägt war von Armut, vom Alko­ho­lis­mus der Väter, Brü­der und Ehe­män­ner, von Gewalt und Aggres­si­on, Homo­pho­bie und Ras­sis­mus. Die Erzäh­lung liest sich wie eine Abrech­nung, wie ein per­for­ma­ti­ver Befrei­ungs­schlag und endet, als sich für den jun­gen Eddy eine Mög­lich­keit zur Flucht auf­tut: Er ver­lässt sein Dorf nach der Mit­tel­stu­fe und besucht ein Gym­na­si­um in Amiens.

Wie aber hat er es in so kur­zer Zeit – Lou­is ist erst 21, als En finir avec Eddy Bel­le­gueu­le in Frank­reich erscheint – in den Kreis der intel­lek­tu­el­len Eli­te und zum jun­gen Star­au­tor geschafft? Wie sah der Weg vom mar­gi­na­li­sier­ten Rand der fran­zö­si­schen Gesell­schaft in deren kul­tu­rel­les Zen­trum aus? Wie wur­de Eddy Bel­le­gueu­le zu Édouard Lou­is? Dar­auf gibt sein neus­tes, inzwi­schen fünf­tes auto­bio­gra­phi­sches Buch nun eine aus­führ­li­che Antwort.

J’ai vingt-six ans et quel­ques mois, la plu­part des gens dirai­ent que ma vie est devant moi, que rien n’a com­men­cé enco­re et pour­tant je vis depuis long­temps déjà avec l’impression d’avoir trop vécu ; j’imagine que c’est à cau­se de ça que le beso­in d’écrire est si pro­fond, com­me une maniè­re de fixer le pas­sé dans l’écrit, et par là je sup­po­se, de s’en débar­ras­ser ; ou peut-être, au con­trai­re, que le pas­sé est tel­lement ancré en moi main­ten­ant qu’il m’impose de par­ler de lui, à tous les instants, à chaque occa­si­on, qu’il a gag­né sur moi et qu’en croyant m’en débar­ras­ser je ne fais que ren­forcer son exis­tence et son empire sur ma vie, peut-être que je suis pris au piè­ge – je ne sais pas.

Ich bin sechs­und­zwan­zig Jah­re und ein paar Mona­te alt, die meis­ten Men­schen wür­den sagen, ich hät­te das Leben noch vor mir, noch hät­te nichts rich­tig ange­fan­gen, aber ich habe seit Lan­gem das Gefühl, dass ich schon zu viel erlebt habe; ver­mut­lich habe ich des­halb ein so gro­ßes Bedürf­nis zu schrei­ben, das Schrei­ben ist für mich eine Mög­lich­keit, die Ver­gan­gen­heit zu fixie­ren und mich so viel­leicht von ihr zu befrei­en; viel­leicht ist die Ver­gan­gen­heit aber auch so tief in mir ver­an­kert, dass ich nicht anders kann, als von ihr zu erzäh­len, jeder­zeit, bei jeder Gele­gen­heit, viel­leicht tue ich in dem Glau­ben, mich von ihr zu befrei­en, nichts ande­res, als ihre Anwe­sen­heit zu stär­ken und ihre Macht über mich zu ver­grö­ßern, viel­leicht sit­ze ich in der Fal­le – ich weiß es nicht.

Schon in den ers­ten Zei­len von Anlei­tung ein ande­rer zu wer­den (Ori­gi­nal­ti­tel: Chan­ger : métho­de), erschie­nen im Auf­bau Ver­lag in der Über­set­zung von Son­ja Finck, wird klar: Der Erzäh­ler kann sich nicht voll­stän­dig von sei­ner Ver­gan­gen­heit befrei­en – und muss wie­der und wie­der dar­über schrei­ben. Wie in Das Ende von Eddy hat die­ses Schrei­ben eine gewis­se Dring­lich­keit, will genau hin­schau­en, ver­ste­hen und ver­wan­deln. Dabei ver­misst man – bereits im Ori­gi­nal − ein wenig den mit­rei­ßen­den Rhyth­mus des ers­ten Romans, dafür nähert sich Lou­is sei­nem Gegen­stand jetzt mit mehr ana­ly­ti­scher Distanz.

Anlei­tung ein ande­rer zu wer­den schließt chro­no­lo­gisch direkt an Das Ende von Eddy an. Es geht nun nicht mehr um den schei­tern­den Ver­such der Anpas­sung an ein Milieu, das „alles ablehn­te, was ich war“, son­dern um das Bedürf­nis, „ein ande­rer zu wer­den“ und dem Umfeld der Her­kunft zu ent­kom­men. Motor die­ser Trans­for­ma­ti­on ist der Wunsch nach Rache für die Gewalt und die Unfrei­heit, die er erfah­ren hat, sowie nach Aner­ken­nung in der Welt, die er so sehr begehrt. Zunächst ist das die bil­dungs­bür­ger­li­che Welt sei­ner Schul­freun­din Ele­na in Ami­ens. Er bewun­dert Ele­na und ver­sucht, ihr so ähn­lich zu wer­den wie mög­lich. Auch sei­ne Trans­for­ma­ti­on, sei­ne Flucht, ist also eine Form der Anpassung.

Die größ­te Stär­ke des Buches ist die Genau­ig­keit, mit der Lou­is die Ambi­va­lenz und die Schwie­rig­kei­ten die­ser Trans­for­ma­ti­on beschreibt

Ce que j’avais été était inscrit dans ma chair, dans ma voix, dans mes mou­ve­ments, et j’ai déci­dé de tout trans­for­mer en moi. Je me suis pro­mis d’éradiquer tou­tes les mar­ques de ce que j’avais été ; je me suis sou­venu de la pre­miè­re semaine à Ami­ens, quand une fil­le avait ri en m’entendant par­ler dans les cou­loirs du lycée, à cau­se de mon accent du Nord. Alors je me suis ent­raî­né. Tous les jours, je m’entraînais à pro­non­cer les mots sans accent ; je répé­tais les mots en mar­chant dans la rue, le soir avant d’aller me couch­er, je m’acharnais à con­trô­ler les mou­ve­ments et les con­trac­tions de mes lèv­res, de ma lan­gue, de ma gor­ge quand je m’adressais à Nadya et Ele­na, il fall­ait res­ter con­cen­tré à chaque mot pour ne pas flan­cher, j’essayais d’imiter les accents de la bour­geoi­sie dans les films que je voy­a­is au ciné­ma avec elles (cer­ta­ins se ren­dai­ent comp­te de cet­te trans­for­ma­ti­on au lycée, com­me Éti­en­ne, un nou­vel ami. Il me dis­ait Mais pour­quoi tu parles avec cet accent de bour­ge ridi­cu­le main­ten­ant ? – alors que lui avait cet accent, com­me si l’avoir acquis par sa famil­le était légiti­me mais que l’avoir acquis par choix et par l’apprentissage était illé­giti­me et con­dam­né au ridicule).

Mei­ne Her­kunft war mir in den Leib geschrie­ben, in die Stim­me, in jede Bewe­gung, also beschloss ich, alles an mir zu ver­än­dern. Ich nahm mir vor, sämt­li­che Spu­ren des Men­schen, der ich bis­her gewe­sen war, aus­zu­lö­schen; mir fiel die ers­te Woche in Ami­ens ein, als ein Mäd­chen auf dem Flur des Gym­na­si­ums über mei­nen nord­fran­zö­si­schen Dia­lekt gelacht hat­te. Also begann ich zu üben. Jeden Tag übte ich mei­ne Aus­spra­che; ich mur­mel­te die Wör­ter vor mich hin, wäh­rend ich durch die Stadt lief und abends vor dem Ein­schla­fen im Bett, und wenn ich mich mit Nadya oder Ele­na unter­hielt, ver­such­te ich ver­bis­sen, mei­ne Lip­pen­be­we­gun­gen, mei­ne Zun­ge, mei­ne Hals­mus­keln zu kon­trol­lie­ren, ich kon­zen­trier­te mich auf jedes ein­zel­ne Wort, um kei­nen Feh­ler zu  machen, ich ahm­te die bour­geoi­se Sprech­wei­se aus den Fil­men nach, die ich mit Nadya und Ele­na im Kino sah (auf dem Gym­na­si­um bemerk­ten man­che Leu­te mei­ne Ver­än­de­rung, Éti­en­ne zum Bei­spiel, ein neu­er Freund. Er sag­te, War­um redest du neu­er­dings mit so einem lächer­li­chen Akzent? – dabei hat­te er den­sel­ben Akzent. Als wäre es legi­tim, wenn man den alber­nen Akzent von klein auf gelernt hat­te, aber ille­gi­tim und albern, wenn man sich bewusst dafür ent­schie­den hat­te, ihn zu lernen.)

Eddy muss sich nicht nur jede Men­ge Wis­sen aneig­nen, son­dern auch eine neue Art sich zu bewe­gen, zu essen, zu lachen und zu spre­chen. Er lässt sich den Haar­an­satz kor­ri­gie­ren, die Zäh­ne machen und sogar Vor- und Nach­na­men amt­lich ändern. Und je mehr er sich ver­än­dert, des­to mehr wird ihm bewusst, wie stark sei­ne sozia­le Her­kunft allen Ebe­nen sei­nes Seins ein­ge­schrie­ben ist, wie mäch­tig die Mecha­nis­men sozia­ler Repro­duk­ti­on sind und wie schwer es ist, sich ihrem Zugriff zu ent­zie­hen. Die Trans­for­ma­ti­on des Habi­tus erfor­dert eiser­ne Dis­zi­plin, abso­lu­te Ent­schlos­sen­heit − und eine „métho­de“, ein metho­di­sches Vor­ge­hen. Ob sich die­ses durch eine „Anlei­tung“ ver­mit­teln lässt, die für alle umsetz­bar wäre, wie der Titel der deut­schen Über­set­zung nahe­legt, ist fraglich.

Vor einem kann die­se „Anlei­tung“, wenn sie denn eine ist, ohne­hin nur war­nen: Je mehr die Klas­sen­flucht gelingt, des­to unüber­brück­ba­rer wird die Distanz zur Her­kunft. So erzählt der Text auch von der dop­pel­ten Scham, in der Lou­is gefan­gen ist: In sei­nem bür­ger­li­chen Umfeld schämt er sich für sei­ne Her­kunft, schämt sich aber zugleich für die­se Scham, die einem Ver­rat gleich­zu­kom­men scheint, und die Ver­ach­tung, die in wohl­ha­ben­den Krei­sen den unte­ren Schich­ten ent­ge­gen­ge­bracht wird. Und nicht zuletzt geht es auch um den Schmerz, der dadurch ent­steht, dass der Klas­sen­flücht­ling auf sei­nem Weg ver­trau­te Men­schen zurück­lässt. Der Roman ist daher als eine Art Bekennt­nis, der Ver­such einer fik­ti­ven „Aus­spra­che“ ange­legt: zunächst mit dem Vater, dann mit Elena.

Est-ce que je dois te racon­ter le début de l’histoire enco­re une fois ? J’ai gran­di dans un mon­de qui reje­t­ait tout ce que j’étais, et je le vivais com­me une inju­s­ti­ce par­ce que – c’est ce que je me répé­tais, des cen­tai­nes de fois par jour, jusqu’à la nau­sée −, je le vivais com­me une inju­s­ti­ce par­ce que je n’avais pas choi­si ce que j’étais. 
Je l’ai déjà racon­té mais je dois tout reprend­re dans l’ordre, je me suis pro­mis de le faire […].

Muss ich dir den Anfang der Geschich­te noch ein­mal erzäh­len? Ich wuchs in einer Welt auf, die alles ablehn­te, was ich war, und ich emp­fand es als Unge­rech­tig­keit – das dach­te ich immer wie­der, hun­dert­mal am Tag, bis zum Erbre­chen – ich emp­fand es als Unge­rech­tig­keit, weil ich es mir nicht aus­ge­sucht hat­te.
Ich habe die Geschich­te schon ein­mal erzählt, aber ich muss es noch ein­mal von vor­ne tun, das habe ich mir fest vorgenommen […].

Spä­tes­tens hier wird deut­lich, dass die Über­set­zung − trotz des im Ver­gleich zu Lou­is’ ers­tem Roman etwas kon­ven­tio­nel­le­ren Erzähl­ton − alles ande­re als eine ein­fa­che Ange­le­gen­heit ist. Sie ver­langt ein aus­ge­präg­tes Bewusst­sein für das, was der Roman selbst so deut­lich wer­den lässt: Spra­che ist kein objek­tiv gege­be­nes Mit­tel zur Kom­mu­ni­ka­ti­on. In ihr mate­ria­li­siert sich eine spe­zi­fisch sozi­al situ­ier­te Erfah­rung und die Wirk­mäch­tig­keit gewalt­vol­ler und sub­jekt­kon­sti­tu­ie­ren­der Klas­sen­ver­hält­nis­se. Nur mit einer gro­ßen Sen­si­bi­li­tät für Ungleich­hei­ten sowie einem ent­spre­chend rei­chen Wort­schatz lässt sich die nuan­cier­te Erzäh­lung übertragen.

Mit Anlei­tung ein ande­rer zu wer­den hat nun erst­mals Son­ja Finck einen Text von Lou­is ins Deut­sche gebracht. Seit 2017 über­setzt Finck für den Suhr­kamp Ver­lag die Roma­ne von Annie Ernaux, die, wie Lou­is selbst erklärt, zen­tra­les Vor­bild für sein Schrei­ben ist. (Iro­ni­scher­wei­se ver­dankt das deut­sche Lese­pu­bli­kum in umge­kehr­ter Rei­hen­fol­ge die Über­set­zun­gen von Didier Eri­bons Rück­kehr nach Reims und den Erzäh­lun­gen Annie Ernaux’ dem durch­schla­gen­den Erfolg von Lou­is’ ers­tem Roman.) Ernaux’ Vor­bild­rol­le merkt man Anlei­tung ein ande­rer zu wer­den auch deut­lich an: Wie Ernaux’ Tex­te ist auch Lou­is’ Roman frag­men­ta­risch auf­ge­baut. Wie Ernaux the­ma­ti­siert auch er in selbst­re­fle­xi­ven Ein­schü­ben den Pro­zess des Erin­nerns selbst.

Und auch für das Dilem­ma, jetzt als Teil einer pri­vi­le­gier­ten kul­tu­rel­len Eli­te über Ange­hö­ri­ge eines sozi­al abge­häng­ten Milieus zu schrei­ben, lie­fert Annie Ernaux einen mög­li­chen Umgang: In einem Inter­view mit der Sozio­lo­gin Isa­bel­le Char­pen­tier erklär­te sie 2005 in Bezug auf die­se schwie­ri­ge Posi­ti­on, sie ver­su­che, eine ein­fa­che, mög­lichst unli­te­ra­ri­sche Spra­che für ihre Erzäh­lun­gen zu fin­den, die auch ihr Vater ver­ste­hen kön­ne. Und sie lässt in ihrem Schrei­ben über ein bestimm­tes sozia­les Milieu des­sen Aus­drucks­wei­se selbst sprechen.

Auch Lou­is ver­wen­det spe­zi­fi­sche Sprech­wei­sen sozia­ler Grup­pen, inte­griert zum Bei­spiel Wor­te sei­ner Eltern in den Text und kon­tras­tiert sie oft mit Aus­drü­cken ande­rer, sozi­al bes­ser gestell­ten Per­so­nen. Die Wie­der­ga­be die­ser sprach­li­chen Ver­satz­stü­cke auf Deutsch ist viel­leicht die größ­te Her­aus­for­de­rung für die Über­set­zung. Schließ­lich gilt es, ihre sozia­le und his­to­ri­sche Situ­iert­heit bei­zu­be­hal­ten, ohne dabei ste­reo­typ zu klin­gen. In Son­ja Fincks Über­set­zung gelingt das aus­ge­spro­chen gut:

Un soir à la fin du repas j’avais dit à ma mère, Je vais boi­re le thé tu en veux un ? – je n’avais pas dit boi­re du thé mais boi­re le thé, com­me Ele­na. Je l’avais fait pour mon­trer la nou­vel­le per­son­ne que je croya­is être. Ma mère m’a regar­dé, et elle a ri, Atten­ti­on il joue au Mon­sieur celui-là main­ten­ant, il est noble, il boit LE thé. Elle avait fait sem­blant de rire mais j’avais vu la bles­su­re dans sa voix et sur son visa­ge.
Toi tu ne dis­ais rien. Tu regar­dais la télé­vi­si­on, en silence, com­me tou­jours, et je ne sais pas ce que tu pen­sais de ma transformation.

Ein­mal sag­te ich nach dem Abend­essen zu mei­ner Mut­ter, Ich gie­ße mir einen Tee auf, möch­test du auch einen? – ich sag­te auf­gie­ßen, wie Ele­na, statt ich mache mir einen Tee. Damit woll­te ich zum Aus­druck brin­gen, dass ich ein neu­er Mensch war. Mei­ne Mut­ter sah mich an und lach­te, Oha, er spielt den fei­nen Herrn, er hält sich wohl für was Bes­se­res, Mon­sieur GIESST SICH EINEN TEE AUF. Sie tat so, als fän­de sie das lus­tig, aber ich hör­te die Ver­let­zung in ihrer Stim­me, sah die Krän­kung in ihrem Gesicht.
Du sag­test nichts. Du sahst wei­ter schwei­gend fern, wie immer, und ich weiß bis heu­te nicht, was du dachtest.

Aber auch die Schlicht­heit der Erzähl­stim­me ist alles ande­re als leicht zu über­tra­gen. Auf lexi­ka­li­scher Ebe­ne gelingt es der Über­set­ze­rin sou­ve­rän, das rich­ti­ge Regis­ter zu tref­fen. Ledig­lich die Unter­schie­de zwi­schen dem fran­zö­si­schen und dem deut­schen Tem­pus­sys­tem sor­gen im ers­ten, an den Vater gerich­te­ten Teil der Erzäh­lung, stel­len­wei­se für ein paar klei­ne Stol­pe­rer. Lou­is ver­zich­tet in die­sem Teil fast voll­stän­dig auf das lite­ra­ri­sche Tem­pus des pas­sé simp­le, wodurch das fran­zö­si­sche Ori­gi­nal hier all­tags­sprach­li­cher, münd­li­cher klingt als das Deut­sche, das um das Prä­ter­itum nicht her­um­kommt. Son­ja Finck ent­schei­det sich dafür, die­sen Abschnitt der Erzäh­lung über­wie­gend im Prä­ter­itum zu hal­ten und den Ton stel­len­wei­se durch Ein­satz des Per­fekts zu set­zen. Das funk­tio­niert ins­ge­samt betrach­tet sehr gut; ledig­lich dann, wenn der Vater direkt ange­spro­chen ist, wirkt das Prä­ter­itum doch ein wenig unau­then­tisch − oder mar­kiert die Distanz zwi­schen Sohn und Vater zumin­dest ein wenig stärker:

Au fond, qu’est-ce que tu savais ? Qu’est-ce que tu igno­rais, qu’est-ce que tu avais choi­si d’ignorer ? Est-ce que tu devin­ais ma vie ? Est-ce que tu t’interrogeais ?

Was wuss­test du? Was beschlos­sest du zu igno­rie­ren? Ahn­test du, wie mein Leben aus­sah? Stell­test du dir über­haupt sol­che Fragen?

Aller­dings ist auch im fran­zö­si­schen Ori­gi­nal die Anspra­che an den Vater ein wenig halb­her­zig umge­setzt und wirkt etwas gezwungen.

Trotz­dem über­zeugt die ers­te Hälf­te des Romans mehr als die zwei­te. Die Bewun­de­rung für Eri­bon und der Weg vom Stu­den­ten­le­ben in Ami­ens an die Éco­le Nor­ma­le Supé­ri­eu­re in Paris sind etwas lang­at­mig, stel­len­wei­se fast melo­dra­ma­tisch erzählt. Gleich­zei­tig emp­fin­det man viel­leicht aber auch ein gewis­ses Unbe­ha­gen bei der Lek­tü­re ange­sichts des unbe­ding­ten Auf­stiegs­wil­lens, und das ist durch­aus im Sin­ne der Erzäh­lung, denn gegen Ende wird auch beim Erzäh­ler ein kri­ti­scher Blick auf sein Begehren/seinen Drang nach sozia­lem Auf­stieg und sozia­ler Aner­ken­nung spürbar.

Span­nend in die­sem Teil ist zudem, wie sich sozia­les mit sexu­el­lem Begeh­ren ver­mischt. Anlei­tung ein ande­rer zu wer­den erzählt näm­lich auch von der Befrei­ung von einer inter­na­li­sier­ten Homo­pho­bie. Der Erzäh­ler beginnt, immer rei­che­re Män­ner zu daten, bis er schließ­lich bei den Reichs­ten der Rei­chen zu Gast ist – und in einer mar­kan­ten Sze­ne bemerkt, wem sei­ne Soli­da­ri­tät eigent­lich gilt: nicht den gela­de­nen Gäs­ten, son­dern der Bediens­te­ten, die vor aller Augen vom Haus­herrn geta­delt und gede­mü­tigt wird. Die Scham dar­über, sie in die­ser Situa­ti­on nicht ver­tei­digt zu haben, sich nicht mit ihr soli­da­ri­siert zu haben, wird dann zum Motor für einen wei­te­re ein­schnei­den­de Veränderung.

Und dann beginnt er zu schrei­ben. Schreibt, um ein ande­rer zu wer­den. Kehrt aber schrei­bend immer wie­der auch an sei­ne Her­kunft zurück. Dabei wie­der­holt sich vie­les aus den vor­he­ri­gen Büchern. Es wird aber auch klar: Die Wie­der­ho­lung ist not­wen­dig, die Geschich­te noch nicht aus­er­zählt. Die Lek­tü­re lohnt sich also, auch und viel­leicht vor allem für all die­je­ni­gen, die schon 2015 von Das Ende von Eddy begeis­tert waren. Anlei­tung ein ande­rer zu wer­den, in der über­aus gelun­ge­nen Über­set­zung von Son­ja Finck, wird für sie viel­leicht in man­cher Hin­sicht ernüch­ternd, vor allem aber aus­ge­spro­chen erkennt­nis­reich sein.



Édouard Lou­is | Son­ja Finck

Anlei­tung ein ande­rer zu werden


Auf­bau Ver­lag 2022 ⋅ 272 Sei­ten ⋅ 24 Euro



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