
Die Übersetzung von Romanen, die von der Sprachentwicklung eines Landes und den damit verbundenen Kontroversen nicht nur erzählen, sondern sie zum Gegenstand ihrer Gestaltung machen, ist ein schwieriges Unterfangen. Bei seiner Übertragung des norwegischen Romans Durch das Westland stand Matthias Friedrich zwar nicht vor dem Problem, in der Zielsprache Pendants für jede einzelnen Stufen einer Sprach- und Literaturgeschichte finden zu müssen (wie etwa die Übersetzer*innen des Ulysses von James Joyce), doch hielt Erlend O. Nødtvedts Roman auch ansonsten genügend Herausforderungen bereit.
Vestlandet ist von hoher Aktualität, worauf im Verlauf dieses Textes noch weiter eingegangen wird. Der Roman handelt von zwei jungen Männern, dem Maler Yngve und dem Schriftsteller Erlend, der als Ich-Erzähler von einer Reise durch die norwegische Provinz „Vestland“ berichtet. Auf ihrer Fahrt, die beide hochtrabend als „Kunst- und Kulturprojekt“, „Expedition“ oder auch „Wallfahrt“ bezeichnen, transportieren sie den Schädel des Bauernführers Anders Lysne von Bergen nach Lærdal am Sognefjord, wo jener um 1800 einen Aufstand gegen die Einberufung der örtlichen Landwirte zum Militärdienst initiierte. Den Schädel haben beide vorher aus einem Museum gestohlen, um zu verhindern, dass er in Oslo ausgestellt wird. Durch den Diebstahl soll Lysne vor erneuter Erniedrigung bewahrt werden, doch in Wahrheit geht es Yngve und Erlend weniger um die soziale Lage der Bauern gestern und heute, als darum, in Lysne endlich einen Märtyrer zu finden, der nun eine Schlüsselrolle bei ihrem Projekt der Beschreibung des dauerhaften Wesens des Westlands spielen soll. Mit anderen Worten geht es ihnen darum, einen identitätsstiftenden, reinen Mythos zu schaffen.
Erlend und Yngves verschoben-verschrobene Wahrnehmung der Dinge bringt Nødtvedt auf amüsante Art zum Ausdruck. So wird zu Anfang des Romans ein Zusammentreffen der beiden Hauptfiguren mit einem Hotelbesitzer geschildert, der die Anzeige einer stehen gebliebenen Uhr mit Blick auf ein Handy ohne Empfang prüft und sich gegen saisonales Hochwasser wappnet, indem er den Bach einfach direkt durch den Keller seines Hauses leitet. Diesen Pragmatismus feiern Erlend und Yngve ein ums andere Mal als typisch westländisch.
Sie selbst verfahren sich gerne in den zahlreichen Tunneln der Region, ohne dass dies bei ihnen zu der Erkenntnis führte, dass sie es sind, die möglicherweise etwas grundsätzlich verkehrt machen. Vielmehr erklären sie ihre Not zu einer Tugend und behaupten, mit Blick auf den heroischen „Bergstraßenbauern“ Anders Lysne, dieser wäre ganz gewiss genauso an den neuzeitlichen Tunnel verzweifelt wie sie.
Yngve und Erlend sind ebenso sehr auf stete Alkoholika-Zufuhr bedacht wie auf das Auftun regionaler „Reliquien“, und ihre Vorstellung von westnorwegischer Identität trägt die gleichen obsessiv-paranoiden Züge. Ihr Ideal vom Westland funktioniert beinahe ausschließlich über die negative Kontrastfolie Ostland, das für sie der Hort von Rationalität, Effektivität und Kommerz schlechthin ist und im Roman pars pro toto für das moderne Europa steht. Widersprüche scheint es für sie weder hier noch dort zu geben; ihr binärer Reduktionismus lässt keinen Raum für eine weitere, dritte Position, wodurch ihre Aufklärungskritik blind wird.
Erlend und Yngves stetes Bemühen um ihr universales Feindbild wirkt phasenweise eher komisch, etwa wenn sie behaupten, die Bäume in ‚ihrer‘ Region nähmen sich im Vergleich mit den kümmerlichen Fichten des Ostlands noch einmal großartiger aus, oder wenn sie jedes unschöne Bauwerk, auf das sie im vermeintlich urigen Westland stoßen, der instrumentellen Ostland-Vernunft in die Schuhe schieben. Das Lachen bleibt einem allerdings im Halse stecken, wenn gegen Ende des Romans die ‚wahren Westländer‘ anfangen, in jedem anders sprechenden Mitmenschen den „Ostmann“ zu erkennen und diesen buchstäblich hinter jeder Ecke mit seinen sinistren Machenschaften am Werke sehen.
Am Ende des Romans wächst sich die Sturmfront Vegard zu einer wirklichen Bedrohung aus, die ganze Landesteile unter Wasser setzt und hunderte Menschen das Leben kostet; Yngve und Erlend sind aber zu sehr mit ihrem ‚Kulturprojekt‘ beschäftigt, um diese Vorgänge richtig einordnen zu können. Ersterer befindet, der starke Gegenwind zeige eben an, dass sie auf ihrer Wallfahrt ins „Herz des Westlands“ auf dem richtigen Weg seien, während es letzterem mitten im Sturm vor allem darauf ankommt, endlich seine persönliche Konsequenz aus ihrer Expedition zu ziehen: der Übergang von einem Schriftsprachenstandard des Norwegischen zum anderen. Entsprechend schreibt Erlend auf den letzten Seiten des Romans nicht mehr Bokmål, das noch mehr dem Dänischen ähnelt, sondern Nynorsk und damit jenen Schriftstandart, der v.a. im Westen Norwegens gebräuchlich ist. Diese Transformation bleibt auch deutschen Leser*innen des Romans dank Matthias Friedrichs Übersetzung nicht verborgen.
[…] dette språket duger ikke lenger, jeg kan ikke lenger skrive embedsmennenes språk, kan ikke lenger bruke dette reklamespråket, dette gjennomfalske maktspråket, dette språket som umerkelig inntvinger alt under den instrumentelle østlandsfornuft, dette heslige bokmålet, nei, det går ikkje lenger og blir avbroten av ein underlig lyd, ein klaprande serie av stein som knusast, og eg forstår med ein gong kva det er, det er takhellene som fyk av vestlandshuset, det er storemannen som pitlar heller frå taket som blad frå ein kortstokk, og det fyrste vindkastet går gjennom det uisolerte huset, eit durabeleg stormkast, inn i stova, og eg ser på Yngve, og Yngve ser på meg, og me tenkjer det same, hovudskallen, Anders Lysne, me må opp mot Filefjell, me må opp dit no, med ein gong.
[…] diese Sprache taugt nichts mehr, ich kann nicht mehr in der Sprache der Amtmänner schreiben, kann diese Reklamesprache, diese durch und durch falsche Sprache der Macht, diese Sprache, die alles unmerklich der instrumentellen Ostlandvernunft unterordnet, diese grottenerbärmliche Amtssprache nicht mehr benutzen, nein, es geht nicht mehr, vnd ein wunderliches klappern, steine, die in die brueche gehen, laesst mich aufschrekken, vnd was da izzt vom westlandhavse fegt, das sind, izzt weiss ich es, die dachschindeln, das ist der allmoegende, der da schindeln vom dache pikkt wie blaetter von einem stapel karten, da savst avch schon die erste boe durch das undichte havs, eine savsichte sturmboe, ich werfe yngve einen blikk zu vnd er mir, wir fassen beyde den gleichen gedanken, der totenkopf, ab zum filefjell, aber mit karacho, wir muessen da hoch, vnd das am besten gleich.
Gegen Ende des Romans zeigt Erlend O. Nødtvedt somit auf, wie seine ‚Helden‘ den im Kontext der Klimakrise ja durchaus bedenkenswerten Spruch „global denken, lokal handeln“ ad absurdum führen, reicht Yngves und Erlends Horizont doch kaum über den Sognefjord hinaus. Der in dem Text karikierte Regionaldünkel und die hier ebenfalls verballhornten Kulturkämpfe um die richtige Literatur bzw. Literatursprache des Westlands mögen deutschen Leser*innen weit entfernt vorkommen, was jedoch nur auf den ersten Blick der Fall ist, da sich für die meisten der von Nødtvedt in diesem Kontext aufgebrachten Motive schnell Entsprechungen im deutschsprachigen Raum finden lassen. So wecken die von Erlend und Yngve gelebten Männlichkeitsklischees zwischen Dosenbier und Bädern im eiskalten norwegischen Fjord unangenehme Assoziationen mit postmodernen Bärenhäuter-Zeitschriften wie „beaf“ oder „der Griller“. Auch fallen einem im Hinblick auf die hiesigen Gestade schnell Künstler*innen ein, die eine ähnlich selbstbesoffene Versenkung in die eigene Heimatregion an den Tag legen.
Vor diesem Hintergrund ist es ein Verdienst des Übersetzers Matthias Friedrich, dass er durch seine Übersetzung einem deutschsprachigen Publikum den Zugang zu Vestlandet eröffnet hat, zumal diese, wie eingangs erwähnt, ein schwieriges Unterfangen darstellt. Dies fängt bereits bei den Westland-Texten an, die Nødtvedts Roman direkt zitiert. Sie entstammen diversen geschichtlichen Epochen und sozio-kulturellen Orten, was im Endeffekt dazu führt, dass in Vestlandet recht unterschiedliche Formen des Norwegischen Eingang gefunden haben, deren Übertragung in die Zielsprache auf Seiten der Übersetzenden gute stilistische Fähigkeiten erfordert. Diese brachte Friedrich, der der Problematik von Übersetzungen aus dem dialektreichen Norwegischen erst kürzlich in einer Rezension nachgegangen ist, mit. Dies lässt sich etwa anhand der Übertragung eines Dokuments zeigen, das in der Amtssprache der dänischen Autoritäten von Beginn des 19. Jahrhunderts abgefasst ist. Hier findet Friedrich überzeugende Lösungen, um den Grad der Abweichungen gegenüber dem heutigen Norwegischen, die u.a. die Orthographie (beispielsweise „aa“ anstelle von „å“) betreffen, im Deutschen nachzuvollziehen (etwa wenn „ey“ statt „ei“ geschrieben wird).
[…] jeg tror, jeg forteller historien fra begynnelsen, og for mitt indre ruller Anders Lysne plakaten ut på ny og leser slutten på forordningen av 12. juli 1799: Skulde, imod Formodning, nogen udeblive fra anførte Commissioner, uden at have lovligt Forfald, da i Fald den, der ikke møder, er ungt Mandskap, andsees han som tjenstdygtig og anføres saaledes i den befalede Fortegnelse; men er det nogen af de andres bliver han allerunderdanigst forestillet til en passende Mulct for hans modvillige Udeblivelse […].
[…] ich glaube, ich erzähle die Geschichte von Anfang an, vor meinem inneren Auge rollt Anders Lysne erneut das Plakat aus und trägt die letzten Zeilen der Verordnung vom 12. Juli 1799 vor: Sollte jemand, ohne daß ihm das Recht diese Verabsäumung gestatte, wider aller Erwarten, den angeführeten Beauftragungen fernbleyben, und dies insonders, wenn der nicht Antretende im Soldatenalter sich befindet, kommt er als diensttüchtig in Anschlag und wird mithin im genannten Register aufgeführet, doch handelt es sich hierbey um einen der andern, so ist ihm alleruntherthänigst eine seinem aufsäßigen Fernbleyben gemäße Geldstrafe aufzuerlegen […].
Wie sich anhand dieser Textstelle außerdem feststellen lässt, arbeitet Friedrich bei seiner Übersetzung so nah am norwegischen Original wie möglich, gestattet sich jedoch Abweichungen wo nötig, was etwa Syntax und Wortwahl betrifft. Sie erfolgen dabei v.a. zu dem Zweck, den satirisch überzeichneten, weihevollen und zugleich lockeren, Pointen heischenden Stil der Erzählstimme auch in der deutschen Fassung abzubilden. So wird aus dem deutschen Wort „Nachspiel“, mit dem der Ich-Erzähler im norwegischen Original seinen Schabernack treibt, in der Übersetzung ein „Nachglühen“, da „Nachspiel“ im Deutschen zwar auch im übertragenen Sinne gebraucht wird, dabei aber nicht immer die Fortsetzung eines Vergnügens meint, sondern oft das gerade Gegenteil (wenn etwas ein Nachspiel hat).
Jeg må ha sovet rundt, for når jeg våkner, er der fremdeles vestlandsk sommernatt í Fjærland. Jeg blir liggende en lang stund og bare se på luften, så stofflig, før jeg går tilbake mot bygden, ør og uthvilt, på et jorde ser jeg flammer. Duggen væter bukseleggene, og jeg slutter meg til et slags nachspiel der ute på marken, en fem-seks skikkelser ved bålet, en flaske som går rundt, en rolig stemning. Jeg kommer inn i det igjen etter noen dype slurker, og etter hvert finner jeg meg i samtale med en antikvar fra Fjærland, jeg klarer ikke å se ansiktet hennes, men hun er ung, strålende vakker, vi snakker om restopplagene til de to første diktsamlingene til Olav Nygard som gikk tapt i Bergensbrannen i 1916, om hvor antikvarene får de hvite bomullshanskene sine fra, før nachspielsyndromet mitt slår inn, jeg kommer inn på sporet der det er hakk i platen og holder monologen – jeg rabler i vei om Anders Lysne, Vestlandsmartyren, […]. (Kursivierungen J.B.)
Ich habe wohl früher und auch länger geschlafen als sonst, als ich aufwache, ist in Fjærland noch immer westländische Sommernacht. Lange bleibe ich liegen und schaue in die sehr stoffliche Luft, bevor ich, wacklig auf den Beinen und ausgeruht, zurück ins Dorf gehe, auf einem Feld erblicke ich Flammen. Der Tau benetzt die Hosenwaden, ich schließe mich einer Art Nachglühen auf der Waldweide an, um die fünf, sechs Gestalten um das Lagerfeuer herum, eine Flasche macht die Runde, lockere Stimmung. Nach ein paar tüchtigen Schlucken finde ich wieder rein, mit der Zeit fange ich ein Gespräch mit einer Antiquarin aus Fjærland an, ich kann ihr Gesicht nicht erkennen, aber sie ist jung und strahlend schön, wir reden über die Restauflage der beiden ersten Gedichtbände von Olav Nygard, die 1916 beim großen Stadtbrand von Bergen verlustig ging, und bevor mein Nachglühsyndrom voll reinhaut, unterhalten wir uns darüber, wo Antiquare ihre weißen Baumwollhandschuhe herkriegen, ich erwische den Track, wo die ganze Platte eine Sprung hat, und halte meinen Monolog über Anders Lysne, dem Westlandmärtyrer […]. (Kursivierungen J.B.)
Freiheiten nimmt sich Friedrich insbesondere dort heraus, wo es um die Übertragung idiomatischer Ausdrücke in den Dialogen geht, die in dem Text schon deswegen so zahlreich anfallen, da Yngve und Erlend in dem Roman keine Gelegenheit auslassen, sich über solche Sprüche bei westländischen Dialektsprecher*innen anzubiedern, und außerdem untereinander viel Slang reden. Die meisten dieser Wendungen lassen sich kaum wortwörtlich ins Deutsche übersetzen, doch findet Friedrich überzeugende Lösungen auch zu ihrer Übertragung, sodass der deutsche Ausdruck dem norwegischen, sowohl seine Bedeutung als auch das Stilniveau betreffend, zumeist recht gut entspricht. Dies betrifft etwa den Lieblingsausdruck Yngves und Erlends „La oss koke det!“, den Friedrich als „Ran an die Buletten!“ wiedergibt. Auch bei der Übertragung der Dialoge selbst gelingt es ihm vorzüglich das Tempo und den Witz des Originals zu bewahren.
– Kor dei Karane er på veg då? For ein nydelig bil de køyrer.
– Mange takk! Vi er faktisk på vei til Lærdal.
– Til Lærdal? Jeg må berre få gratulere med dagen. Retningssans som vassliket til ein tysk turist
Yngve trekker på skuldrene og ser på meg.
– Hva skal vi si, av og til må man bare kjøre rundt, rett og slett då.
– Eg ville absolutt ikkje prøvd fjellet i dag. De har kanskje ikkje høyrt om en tass ved namn Vegard? Han er nemlig på veg, og han er forbanna.
Yngve trekker igjen på skuldrene.
– Tror meg, vi vet alt om han der Vegard. Men vi må rekke Lærdalsmarknaden for enhver pris.
– Lærdalsmarknaden? Eg trudde det var i september.
– Ja? Det er vel noe sånt nå?
„Wohin sind die Herrschaften denn unterwegs? Was für einen hinreißenden Wagen ihr da fahrt.“
„Vielen Dank. Na, wir wollen nach Lærdal.“
„Nach Lærdal? Da muss ich euch aber gratulieren. Ihr habt einen Orientierungssinn wie die Wasserleiche eines deutschen Touristen.“
Yngve zuckt mit den Schultern und schaut mich an.
„Was sollen wir sagen, ab und zu muss man mal durch die Lande kutschieren, is‘ halt einfach so?“
„An den Berg hätte ich mich heute absolut nicht rangetraut. Von diesem Knirps namens Vegard habt ihr wohl noch nichts gehört? Der ist nämlich unterwegs und mächtig geladen.“
Erneut zuckt Yngve mit den Schultern.
„Glaub mir, über diesen Vegard wissen wir alles. Aber wir müssen es auf jeden Fall noch bis zum Markt in Lærdal schaffen.
„Den Markt in Lærdal? Ich dachte, der wäre im September.“
„Ja? Das ist doch wohl jetzt so um den Dreh?“
Die hier zitierte Stelle ist typisch für die Situationskomik von Vestlandet, die auch in der Übersetzung erhalten bleibt, weswegen man an dem Roman schnell Gefallen findet und nie versucht ist, ihn wegzulegen. Dagegen dauert es eine Weile, ehe sich einem der durchaus ernste Hintergrund des Romans erschließt, doch insgesamt nimmt Erlend O. Nødtvedt in Vestlandet eine Form der Selbstbezüglichkeit aufs Korn, die aktuell nicht nur in Skandinavien, sondern an vielen anderen Orten in Europa um sich greift, und die sich durch Aggressivität gegenüber dem Anderen und Ignoranz gegenüber den Herausforderungen der Gegenwart auszeichnet. Schon deswegen ist sein Roman nicht nur für ein norwegisches Publikum von Interesse und sein Erscheinen in deutscher Übersetzung unbedingt zu begrüßen.