Es scheint kaum möglich zu sein, die beiden von Verena Reichel und Ursel Allenstein ins Deutsche übersetzten Romane von Linda Boström Knausgård zu lesen, ohne deren Mann und erfolgreichen Autor Karl Ove Knausgård im Hinterkopf zu haben, ohne sie einander gegenüberstellen und irgendein Urteil treffen zu wollen – sei es, wer von den beiden am besten schreibt, oder wer denn nun schuld an der zerbrochenen Ehe ist.
Mich erinnert es an den alten russischen Klassiker Lev Tolstoj, der in seinen Büchern pedantisch-allwissende Einblicke in das weibliche Geschlechtsleben gab und in seiner späteren Erzählung, Die Kreutzersonate (Крейцерова соната, 1889), adligen Frauen die Verantwortung für alle gesellschaftlichen Missstände der Zeit zuschrieb. Seine Ehefrau Sofja Tolstaja, die achtundvierzig Jahre lang die Funktion einer Haushälterin, Sekretärin usw. übernahm und dreizehn Kinder zur Welt brachte, verfasste daraufhin eine Erzählung mit dem Titel Wessen Schuld? (Чья вина?) – die erst rund hundert Jahre später in einer Zeitschrift veröffentlicht und mit einem Kommentar über die „Unerfahrenheit“ der Autorin versehen wurde. Zum Glück ändern sich die Zeiten, kaum eine Schriftstellerin bezeichnet sich noch als die Ehefrau ihres Mannes und Literaturwissenschaftler sprechen seltener von starken Frauen hinter genialen Männern. Wie kommt es aber überhaupt dazu, dass eine Schriftstellerin und ein Schriftsteller verglichen werden, weil sie eine Ehe geführt, gemeinsame Kinder gehabt und über das Familienleben geschrieben haben? Ist es für die Rezeption literarischer Texte tatsächlich von Relevanz, welches Verhältnis ihre Autoren miteinander pflegten, und vor allem – bewegen wir uns da nicht auf dem schaulustigen Niveau von Prince-Harry-Lesern und Bild-Abonnenten? Gleichzeitig sagt dieser Vergleich etwas Wichtiges in Bezug auf den Literaturbetrieb und seine Chancengleichheiten aus, weist ungewollt auf die Schwierigkeiten in der Genese und Rezeption der von Frauen geschriebenen Texte hin, die etwa für mich als Autorin mit Kind tagtäglich von Bedeutung sind.
„Ich war zu diesem Zeitpunkt Schriftstellerin“, sagt in Linda Boström Knausgårds Oktoberkind die Ich-Erzählerin, die sich in einer psychiatrischen Abteilung wiederfindet und durch Stromschläge von ihrer schweren Depression geheilt werden soll: „In meiner Kindheit schrieb ich mehr als jetzt. Ich habe nichts zu sagen. Außerdem befinde ich mich in einer Art Krise. Es liegt nicht nur an den Behandlungen, den Tagen, an denen ich auf dem Korridor auf und ab laufe. Ich bin vollkommen schutzlos. Ich bin allein mit mir selbst. Ich habe keine Freunde in der Stadt, in der ich wohne, und mein Mann hat mich verlassen.“ Ursel Allensteins Übersetzung gibt mithilfe solcher lakonischen Feststellungen der Erzählerin deren hoffnungslose Einsamkeit wieder.
Die Klinik allerdings ist ein relativ harmloser Ort, jedenfalls keine düstere Folterkammer, „nicht mehr so wie in den alten Filmen“, nur die umstrittene elektrische Therapie birgt die Nebenwirkung von Gedächtnisverlusten. Der behandelnde Arzt sieht darin kein Problem: „Sie können sich ja immer etwas ausdenken. Machen Schriftstellerinnen das nicht sowieso?“ Daraufhin greift ihn die Erzählerin körperlich an. Überhaupt weiß sie sich zu wehren und ist gut darin, sich und ihre Kinder in verschiedenen Situationen zu beschützen, in die Offensive überzugehen, was ihrem Mann stets peinlich ist. Mithilfe einer engagierten Krankenschwester beginnt die Erzählerin ein „Gedächtnistraining“, in dem sie ihre Erinnerungen über ihre Ehe, die eigene Kindheit, ihren alkoholkranken Vater hervorholt, sortiert, zur Sprache bringt und allmählich aus dem „Raum des Todes“ tritt. In Allensteins Übersetzung wird unheimlich viel Zärtlichkeit und stille Freude deutlich, mit der die Erzählerin von ihren Kindern spricht, von ihnen träumt: „Sie waren so unerhört viele, und ich war nur eine. Plötzlich würden sie alle gleichzeitig aufwachen, und ich würde mit Essen und Anziehsachen hin- und herrennen. Sie wurden immer mehr und mehr, und sie waren alle so wunderbar, und ich fotografierte sie abends, wenn sie auf dem Boden saßen und fernsahen.“
Selbst diese eigentlich unheimliche Fantasie von einer riesigen Kinderschar hat etwas Komisches und Rührendes, mit der vervielfachten Arbeit steigt auch das Entzücken über die kleinen Menschen, die ihre Wünsche durchsetzen können (wahrscheinlich kennen alle Eltern die Ruhe, die plötzlich eingekehrt, sobald der Fernseher angeschaltet ist). Nie gibt die Erzählerin etwas preis, was gegen die Entscheidung sprechen könnte, Kinder bekommen zu haben. Überhaupt ist das Buch von Wertschätzung gegenüber den nahestehenden erzählten Figuren, den Kindern und dem Mann, durchzogen – Wertschätzung im Sinne von zuerkannter Würde. Dabei gibt es auch amüsante Stellen, etwa wie sie bei einem Elternabend das Klassenzimmer ihres Sohnes nicht findet oder nachts nicht weiß, welches Kind gerade zu wimmern anfängt. Nur an einer Stelle deutet sie die Belastung an: „Die Kinder, eins nach dem anderen, in einem Rhythmus, dass ich an ihrem ersten Geburtstag stets wieder schwanger war.“ Dabei müssten vier nacheinander folgende Schwangerschaften, der permanente körperliche Ausnahmezustand samt hormoneller Umbrüche und chronischem Schlafmangel zumindest teils zur Entwicklung der Depression beigetragen haben – jedenfalls versucht die Erzählerin zu Beginn ihrer letzten Schwangerschaft, sich mit Tabletten das Leben zu nehmen.
Im Laufe der Erzählung wird die Relevanz von allerlei eigenen und geteilten, selbst- und fremdbestimmten Räumen deutlich, die das schwierige Familienleben strukturieren. Die Erzählerin beginnt wieder zu schreiben, nachdem ihr drittes Kind in die Betreuung geht, gibt dann aber ihren Schreibtisch „in einem geteilten Zimmer in einer Bürogemeinschaft“ auf, bringt daraufhin kaum etwas an Text zustande, während ihr Mann sein „Schreibhaus“ verteidigt und darauf beharrt, bei der Arbeit nicht gestört zu werden. Es hat ja auch einen Grund: seine Bücher verkaufen sich gut und die ganze Familie kann davon leben (ein Teufelskreis, der so oft ungebrochen bleibt). Sie kaufen ein Landhaus und eigentlich ist der Erzählerin der Garten zugeteilt, den sie anstelle des Schreibens pflegen soll: „Das Paar, das vor uns hier wohnte, hatte alles im Griff gehabt. Die Frau habe regelmäßig im Garten gearbeitet, erzählten unsere Nachbarn. Damals sei das hier das Paradies gewesen.“
Sie weigert sich, aber wieder braucht es jemanden, der auf die Kinder aufpasst, damit auch sie zum Schreiben kommen kann. Nachdem sich die Depression verschlimmert und sie zwangseingeliefert wird, sich mit allen Kräften gegen die Hoheit der Ärzte zu wehren versucht, entfaltet sich ausgerechnet die Klinik, die geschlossene Anstalt, zu einem geborgenen Ort, an dem sie sich eine Gitarre kauft und wieder zum Schreiben findet. „Als er seine Zeit im Gefängnis abgesessen hat“, sagt sie über Charlie Chaplin in Modern Times, „will er es gar nicht mehr verlassen.“ Die Erzählerin stellt sich ein friedliches, eigenes und gleichzeitig furchtbar isoliertes Zuhause, einen Room of One’s Own ohne die Kinder vor: „Ich sah mich selbst mit einem Schlüssel in der Hand. Ich hatte eine kleine Wohnung gekauft, ohne sie vorher zu besichtigen. […] Ein kleiner Schreibtisch am Fenster.“ Gleichzeitig will sie zu ihren Kindern zurück, die schwer aushaltbare Dissonanz von Freiheit und Einsamkeit, Selbstbestimmtheit und Todessehnsucht zieht sich durch die Erinnerungen.
Meist sind es kurze, teils abgehackte Sätze, die nah an natürlicher, gesprochener Rede stehen, schlichte Aussagen, Fragen, Ausrufe, ein Gedanke folgt dem anderen; zum Lesen braucht es kein Wörterbuch oder Lexikon. Allensteins Übersetzung stellt die depressive Stimmungslage mithilfe repetitiver, oft nicht über das Feststellen hinausgehender Äußerungen dar, sodass jede noch so kleine Entwicklung beim Lesen als Fortschritt empfunden und eine Spannung auf Mikroebene aufgebaut wird.
Die Rede der Erzählerin wirkt dadurch mal verkrampft und in sich gekehrt, mal selbstbewusst und trotzig („Das waren unsere Lehrer: Choleriker, Alkoholiker, Idioten.“). Manchmal fließt eigene und fremde, durch keine Anführungszeichen getrennte Rede organisch ineinander über und ermöglicht einen gewissen dialogischen Bewusstseinsstrom, markiert vorsichtige Nähe, etwa zu einem Krankenpfleger auf der Station, der die Erzählerin zum Laufen überredet:
Wenn du so weitermachst, werde ich nicht mehr mit dir rennen.
Ich blieb stehen. Es war deine Idee, sagte ich und ging davon. Muhammed holte mich ein.
Halt den Mund, sagte er und fing wieder an zu rennen. […]
Wenn du stehen bleibst, zerstörst du jede Möglichkeit zur Heilung, sagte er.
An manchen Stellen ist das eigene und fremde Wort stilistisch gar nicht voneinander zu unterscheiden, so wird offenbar der Rat einer Krankenschwester („Du solltest noch ein bisschen weiterschlafen.“) zur Selbstanrede der Erzählerin und geht zur Aufforderung zu sterben über („Schlaf noch ein bisschen. Schlaf und wach nie wieder auf.“). Auch hier baut Allensteins Übersetzung geschickt diese Übergänge nach und zeigt die Verletzlichkeit der Erzählerin gegenüber Äußerungen anderer Menschen. Zahlreiche Motive aus der Kindheit und Jugend ziehen sich bis zur Gegenwart fort, so bedeutet ein gewonnenes Schachspiel in der Klinik nicht nur, einem Krankenpfleger und der „Fabrik“, also dem Überwachungssystem, überlegen zu sein, sondern gewissermaßen auch eine Loslösung vom Vater, an dessen frühem Tod sich die Erzählerin schuldig fühlt.
Am Ende wird die Erzählerin tatsächlich entlassen und findet sich in einem Haus wieder, in dem sie offenbar nach der Trennung mit ihrem Mann lebt. Sie betritt langsam nacheinander die Räume:
Ich sehe in Olivias Zimmer aus dem Fenster. […] Ich knipse die Nachttischlampe an, gehe ins nächste Zimmer. Ich richte Annas Bett und öffne das Fenster. […] Ich gehe weiter in Josefs Zimmer. […] Ich bleibe mit der Hand auf der Klinke zu meinem und zu Saras Zimmer stehen.
Lauter gleich gebaute Parataxen lassen die Handlungen symbolisch wirken; das „Ich“ (ähnlich wie in der fantasierten eigenen Wohnung zuvor) wird endlich zum real handelnden Subjekt, zum Zentrum der Erzählung. Zwar steht der Erzählerin nur für eine Nacht ein eigenes Zimmer zur Verfügung (ein Vorrecht, das alle älteren Kinder in Anspruch nehmen), aber erst dort setzt die friedliche Trauer ein:
Ich ziehe mich aus und lasse die Kleidungsstücke auf den Boden fallen.
Ich lege mich ins Bett und weine zum ersten Mal seit Jahren. Ich weine um alles. Um die Kinder, die morgen zum Kaffee kommen. Sie werden Sachen mitbringen, die sie hier haben wollen. Ich weine um mich und um dich.
Ich sage die Namen der Kinder laut in den Raum hinein. Ich sage Anna, Olivia, Josef und Sara.
Wie gut ist denn dieses Ende! In kurzen, rhythmischen Sätzen und Worten des Alltagsgebrauchs geht das Ich von Handlungen (ziehe – lasse – lege) zur emotionalen Bewältigung (weine – weine – weine) über. Die Namen der Kinder (sage – sage) werden zu Beschwörungsformeln, zu Hoffnungsträgern, und diese Fähigkeit, Kompliziertes einfach auszudrücken, zeichnet generell das Buch und die Übersetzung aus.
Es ist keine nachgestellte „weibliche Antwort auf die männliche Version“ (Abendblatt), „die Version von Linda“ (NZZ), der „erste[] Schritt“ zur Emanzipation (taz) und lauter anderes Zeug. Es geht, im Gegensatz zu Sofja Tolstaja, auch überhaupt nicht um die Darstellung einer idealen, fürsorgenden, geduldig erleidenden Weiblichkeit oder um die Frage nach Schuld und die Herstellung der eigenen Ehre. Vielmehr stehen die Ungleichheiten im Vordergrund, die sich aus der einseitigen körperlichen Gebundenheit an Kinder und den sozialen Erwartungen an Mütterlichkeit ergeben, und trotz dessen die Möglichkeit einer zutiefst persönlichen, dabei stets klaren, pointierten und respektvollen Art des Erzählens. Anstelle aufopferungsvoll geleistete Care-Arbeit oder ihre Unersetzlichkeit für die Kinder zu betonen, gibt die Erzählerin zu, selbst auf das Miteinander angewiesen zu sein und daran zugleich zu leiden. Es ist ein Buch über Depression und Liebe ohne jegliches Pathos. Es ist stilistisch kohärent, inhaltlich packend, und die Übersetzung von Ursel Allenstein ermöglicht ein nachdenkliches, elegantes Lesevergnügen.