Zwi­schen den Stimmen

Mohamed Mbougar Sarrs prämierter Roman „Die geheimsten Erinnerungen der Menschen“ ist in aller Munde. Welchen Anteil tragen daran seine Übersetzer:innen Holger Fock und Sabine Müller? Von

Mohamed Mbougar Sarrs Roman Die geheimste Erinnerung der Menschen, erschienen beim Hanser Verlag. Hintergrundbild: Jasmin Ne via Unsplash

Ein Autor (Moha­med Mbou­gar Sarr) schreibt über einen Autor (Dié­ga­ne Latyr Faye), der einen Autor sucht (T. C. Elima­ne). Mit so einer Situa­ti­on ist der*die Leser*in von Mbou­gar Sarrs Roman Die geheims­te Erin­ne­rung der Men­schen (La plus secré­te mémoi­re des hom­mes) kon­fron­tiert, der im Novem­ber 2021 mit dem Prix Gon­court, dem renom­mier­tes­ten Lite­ra­tur­preis Frank­reichs, aus­ge­zeich­net wur­de und nun in der deut­schen Über­set­zung von Hol­ger Fock und Sabi­ne Mül­ler vor­liegt. Dies ist das vier­te Buch des 32-jäh­ri­gen Schrift­stel­lers, aber das ers­te, das ins Deut­sche über­setzt wur­de. Han­del­ten Mbou­gar Sarrs frü­he­re Bücher von bri­san­ten sozia­len und poli­ti­schen The­men wie dem Ter­ro­ris­mus bzw. Dschi­ha­dis­mus in der Sahel­zo­ne in Afri­ka (in Terre cein­te, 2015), der Migra­ti­on nach Sizi­li­en (in Silence du chœur, 2017) und der Homo­pho­bie im Sene­gal (in De purs hom­mes, 2018), wid­met sich der Autor in Die geheims­te Erin­ne­rung der Men­schen nun der Lite­ra­tur selbst: der Pro­duk­ti­on von Lite­ra­tur und der Wahr­neh­mung von Lite­ra­tur, der im Buch eine lebens­ver­än­dern­de Funk­ti­on zukommt. Das heißt aber nicht, dass sich die lite­ra­ri­sche Spu­ren­su­che, auf die sich Dié­ga­ne, der Ich-Erzäh­ler des Buches, begibt, in einer pri­va­ten, von den Tur­bu­len­zen der Gesell­schaft und der Poli­tik geschon­ten Sphä­re abspielt. Ganz im Gegen­teil: In sei­nem Ver­such, das Leben und Werk des ver­schol­le­nen, enig­ma­ti­schen (fik­ti­ven) Autors T.C. Elima­ne zu rekon­stru­ie­ren, der in Frank­reich der drei­ßi­ger Jah­re mit sei­nem Debüt Das Laby­rinth des Unmensch­li­chen zuerst einen gro­ßen Sog erzeug­te und als „schwar­zer Rim­baud“ gefei­ert  wur­de, anschlie­ßend aber durch Pla­gi­ats­vor­wür­fe besei­tigt wur­de, stößt Dié­ga­ne auf das blu­ti­ge Erbe des Kolo­nia­lis­mus, auf ras­sis­ti­sche Dis­kur­se, Kli­schees und Gewalt­struk­tu­ren, die bis in die Gegen­wart hineinwirken. 

Über­set­zungs­tech­nisch hält Die geheims­te Erin­ne­rung der Men­schen eine Rei­he von Her­aus­for­de­run­gen bereit, die das Über­set­zer­duo Hol­ger Fock und Sabi­ne Mül­ler auf bewun­derns­wer­te Wei­se gemeis­tert hat. Die bei­den Übersetzer*innen über­set­zen seit fast 30 Jah­ren zusam­men fran­zö­si­sche Lite­ra­tur und wur­den 2011 mit dem Eugen-Helm­lé-Über­set­zer­preis aus­ge­zeich­net. 2017 waren sie mit Kom­pass von Mathi­as Énard für den Preis der Leip­zi­ger Buch­mes­se nomi­niert. Im Fall von Die geheims­te Erin­ne­rung der Men­schen hat­ten sie zual­ler­erst mit einer gro­ßen sprach­li­chen und sti­lis­ti­schen Viel­falt zu kämp­fen, denn Mbou­gar Sarrs Roman umfasst ver­schie­de­ne Text­sor­ten wie zum Bei­spiel Tage­buch, Brief, Bericht, Bio­gra­fie, Repor­ta­ge, Inter­view und Rezen­si­on, die in den Erzähl­fluss ein­ge­bet­tet sind und ihn unter­bre­chen und erweitern. 

Um die­ser Viel­falt gerecht zu wer­den, müs­sen die Übersetzer*innen eine hohe sprach­li­che Fle­xi­bi­li­tät auf­wei­sen, also zwi­schen ver­schie­de­nen Sprach­re­gis­tern und Ton­la­gen chan­gie­ren und auf unter­schied­li­che Stil­mit­tel zurück­grei­fen kön­nen. Der Schwie­rig­keits­grad wird dadurch erhöht, dass man­che die­ser ein­ge­füg­ten Pas­sa­gen als Fund­stü­cke agie­ren, die angeb­lich aus einer älte­ren Zeit aus­ge­gra­ben wer­den (so z. B. die Rezen­sio­nen und Arti­kel zu Elima­nes Buch aus dem Jahr 1938), wäh­rend der Haupt­er­zähl­strang der Geschich­te acht­zig Jah­re spä­ter spielt – ein zeit­li­cher Unter­schied, der sich nicht nur in der His­to­ri­zi­tät der Spra­che nie­der­schlägt, son­dern auch in ihrer Wir­kung. In vie­len die­ser Pas­sa­gen wird näm­lich eine ras­sis­ti­sche Spra­che ein­ge­setzt, deren Über­tra­gung eine beson­de­re Her­aus­for­de­rung für Fock und Mül­ler dar­stellt, wie die fol­gen­den Bei­spie­le deut­lich zeigen:

Soyons francs: on se deman­de si cet­te œuvre n’est pas cel­le d’un écri­vain fran­çais dégu­i­sé. On veut bien que la colo­ni­sa­ti­on ait fait des mira­cles d’instruction dans les colo­nies d’Afrique. Cepen­dant, com­ment cro­i­re qu’un Afri­cain ait pu écr­i­re com­me cela en fran­çais? […] Il res­te main­ten­ant à décou­vr­ir qui se cache der­riè­re cet étran­ge nom: T.C. Elima­ne. S’il s’agit, impro­ba­blem­ent, d’un des nègres de nos colo­nies, il y aurait là de quoi com­men­cer à cro­i­re à la puis­san­te magie qu’ on leur prête.

Offen gestan­den: Man fragt sich, ob die­ses Werk nicht aus der Feder eines fran­zö­si­schen Schrift­stel­lers stammt, der sich hin­ter einem Pseud­onym ver­steckt. Ger­ne räu­men wir ein, dass die Kolo­nia­li­sie­rung eini­ge Bil­dungs­wun­der in den Kolo­nien Afri­kas voll­bracht hat. Aber wer glaubt, dass ein Afri­ka­ner imstan­de sein könn­te, ein Buch wie die­ses auf Fran­zö­sisch zu schrei­ben? […] Bleibt noch her­aus­zu­fin­den, wer sich hin­ter die­sem selt­sa­men Namen ver­birgt: T. C. Elima­ne. Wenn es sich, was unwahr­schein­lich ist, um einen Neger aus unse­ren Kolo­nien han­delt, hät­te man allen Grund, an den mäch­ti­gen Zau­ber zu glau­ben, den man ihnen nachsagt.

Ce liv­re est la bave d’un sau­va­ge qui, se pren­ant pour le maît­re-arti­fi­ci­er d’une lan­gue dont il ne domi­ne qu’insuffisamment le feu sub­til, finit par s’y brû­ler les ailes. […] La bar­ba­rie des Afri­cains n’est pas qu’imaginaire […]. Tou­tes ces pages sans grâce mont­rent que la civi­li­sa­ti­on n’a pas enco­re péne­tré les vei­nes de ces négril­lons, qui ne sont bons qu’à pil­ler, ripail­ler, trous­ser, brû­ler, s’enivrer, for­ni­quer, idôla­trer des arbus­tes, tuer […] 

Das Buch ist der Gei­fer eines Wil­den, der sich für den Pyro­tech­ni­ker einer Spra­che hält, deren sub­ti­les Feu­er er nur unzu­rei­chend beherrscht, und der sich am Ende die Flü­gel dar­an ver­brennt. […] Die Bar­ba­rei der Afri­ka­ner ist nicht nur eine Annah­me […]. All die­se erbar­mungs­lo­sen Sei­ten zei­gen, dass noch kei­ne Kul­tur in den Adern die­ser Neger­lein fließt, die zu nichts tau­gen als zu Plün­de­rung, Völ­le­rei, Wei­ber­jagd, Brand­schat­zung, Trun­ken­heit, Unzucht, Anbe­tung von Sträu­chern, Tötung […] 

In bei­den Zita­ten kommt eine unver­hoh­len ras­sis­ti­sche Ein­stel­lung einer­seits ganz offen­sicht­lich durch das N‑Wort und ande­rer­seits durch eine geho­be­ne, ela­bo­rier­te Spra­che zum Aus­druck, die auf zwei­er­lei Wei­se funk­tio­niert: Im ers­ten Bei­spiel wird Bewun­de­rung für das Buch aus­ge­drückt, wobei die Iden­ti­tät des Autors in Fra­ge gestellt wird (denn ein schwar­zer Autor kön­ne nicht, so der Redak­teur des Arti­kels, imstan­de sein, ein sol­ches Buch zu schrei­ben). Im zwei­ten Bei­spiel wer­den dage­gen die schrift­stel­le­ri­schen Fähig­kei­ten des Autors höh­nisch denun­ziert und mit einer äußerst abwer­ten­den, kli­schee­haf­ten Sicht auf Schwar­ze Men­schen ver­knüpft. In der deut­schen Über­set­zung wer­den die sti­lis­ti­schen Merk­ma­le des Ori­gi­nal­tex­tes noch wei­ter zuge­spitzt. Zum einen wird der pseu­do-intel­lek­tu­el­le Ton der Spra­che noch mehr betont, wie zum Bei­spiel am Anfang des ers­ten Zitats: Im deut­schen Text steht hier „ob die­ses Werk nicht aus der Feder eines fran­zö­si­schen Schrift­stel­lers stammt, der sich hin­ter einem Pseud­onym ver­steckt“, wobei an der glei­chen Stel­le der fran­zö­si­sche Text knap­per und weni­ger elo­quent for­mu­liert ist: „si cet­te œuvre n’est pas cel­le d’un écri­vain fran­çais dégu­i­sé“, was bei einer wort­wört­li­chen Über­tra­gung so viel wie „ob es sich bei die­sem Werk nicht um das eines verkleideten/versteckten fran­zö­si­schen Schrift­stel­lers han­delt“ hei­ßen wür­de. Zum ande­ren wer­den die ras­sis­ti­schen For­mu­lie­run­gen akku­rat ins Deut­sche über­tra­gen, an man­chen Stel­len ist der Impact der ras­sis­ti­schen Spra­che im deut­schen Text sogar hef­ti­ger als im Fran­zö­si­schen. Ein gutes Bei­spiel dafür lie­fert das Ende des zwei­ten Zitats, wo die Erset­zung der Infi­ni­ti­ve („pil­ler, ripail­ler, trous­ser, brû­ler, s’enivrer, for­ni­quer, idôla­trer des arbus­tes, tuer“) durch Sub­stan­ti­ve („Plün­de­rung, Völ­le­rei, Wei­ber­jagd, Brand­schat­zung, Trun­ken­heit, Unzucht, Anbe­tung von Sträu­chern, Tötung“) und die geziel­te Wort­wahl einen stren­ge­ren und dafür stär­ker abwer­ten­den Ton im Deut­schen produziert.

Nicht zuletzt wird die ras­sis­ti­sche Wir­kung der Spra­che in der deut­schen Über­set­zung durch die Ver­wen­dung – ana­log zum fran­zö­si­schen Ori­gi­nal – des N‑Worts aus­ge­löst, das im Buch nicht nur an die­sen bei­den Stel­len, son­dern mehr­fach vor­kommt. Wie die bei­den Übersetzer*innen bei einer Ver­an­stal­tung am 24.11.2022 im Lite­ra­ri­schen Col­lo­qui­um Ber­lin (eine Auf­zeich­nung der Ver­an­stal­tung ist hier online ver­füg­bar) erklärt haben, hat­ten sie sich im Kon­text der hef­ti­gen öffent­li­chen Dis­kus­sio­nen der letz­ten Jah­re in Abspra­che mit dem Autor dafür ent­schie­den, das N‑Wort in der deut­schen Über­set­zung nur dann bei­zu­be­hal­ten, wenn es his­to­risch ver­wen­det wird – wie es zum Bei­spiel in den oben zitier­ten Aus­zü­gen aus den Kri­ti­ken von 1938 der Fall ist. (Eine Aus­nah­me hier bil­det „Rim­baud nég­re“, das von Fock und Mül­ler mit „schwar­zer Rim­baud“ über­setzt wird.) Das scheint des­we­gen eine total sinn­vol­le Ent­schei­dung zu sein, weil in die­sen Fäl­len gera­de die ras­sis­ti­sche Per­for­manz der Spra­che the­ma­ti­siert wird.

Neben all die­sen (fik­ti­ven) „his­to­ri­schen Quel­len“ ent­hält der Roman von Mbou­gar Sarr zahl­rei­che offe­ne oder ver­steck­te Zita­te und Ver­wei­se auf eine Rei­he von Autoren (von Hugo und Mall­ar­mé bis hin zu Bola­ño und Kun­de­ra), die eine inten­si­ve Recher­che­ar­beit sei­tens der Übersetzer*innen erfor­dert, wie man aus der Nach­weis­lis­te schlie­ßen kann, die Fock und Mül­ler erstellt haben und die am Ende des Buches abge­druckt ist. Dass die Erzäh­lung in Die geheims­te Erin­ne­rung der Men­schen trotz all die­ser Unter­bre­chun­gen so gut fließt, ist zwei­fel­los eine Errun­gen­schaft von Mbou­gar Sarr, der es schafft, eine tief­grün­di­ge Refle­xi­on über Lite­ra­tur und Iden­ti­tät, über Schreib- und Lese­ob­ses­sio­nen und ras­sis­ti­sche Zuschrei­bun­gen mit einer fes­seln­den Kri­mi-Geschich­te zu ver­bin­den, die sich auf drei Kon­ti­nen­ten abspielt – und die eine*n auf den ers­ten Blick an die zwei legen­dä­ren Roma­ne von Rober­to Bola­ño erin­nern mag: Die wil­den Detek­ti­ve und 2666. Der eigent­li­che Ein­fluss von Bola­ño auf Mbou­gar Sarr soll­te aber nicht in der Hand­lung oder der Struk­tur gesucht wer­den, denn er fin­det viel­mehr auf einer tie­fe­ren Ebe­ne statt: In der Art und Wei­se, wie sich Lite­ra­tur und Leben zu einer explo­si­ven Mischung zusam­men­fü­gen, die eine Pro­sa her­vor­bringt, die sich durch ihren Humor, ihre über­ra­schen­de Leben­dig­keit und ihre Klar­heit aus­zeich­net, die völ­lig in der Rea­li­tät ver­wur­zelt ist und sie doch tran­szen­diert, die anspruchs­voll und doch unter­halt­sam ist. Die­se fei­ne Balan­ce zwi­schen Ein­fach­heit und Kom­ple­xi­tät, zwi­schen Refle­xi­on und unge­hin­der­tem Erzähl­fluss spie­gelt sich sowohl im Gro­ßen (im gesam­ten Anlie­gen und in der Gesamt­kon­struk­ti­on des Buches) als auch im Klei­nen wider: im Rhyth­mus von Mbou­gar Sarrs Pro­sa sowie in der Art und Wei­se, wie er sei­ne Sät­ze und Absät­ze aufbaut.

Dem aus­ge­präg­ten Sprach­ge­fühl und der sorg­fäl­ti­gen Arbeit von Fock und Mül­ler ist zu ver­dan­ken, dass die­se Balan­ce (die natür­lich inner­halb eines Span­nungs­felds erfolgt) in der deut­schen Über­set­zung des Buches erhal­ten bleibt. Der Balan­ce­akt bedeu­tet manch­mal, zwi­schen zwei Polen oszil­lie­ren zu müs­sen, das heißt, gele­gent­lich einen Spa­gat aus­zu­füh­ren, bei­spiels­wei­se zwi­schen einem Satz, der sich in man­chen Fäl­len über meh­re­re Sei­ten aus­streckt, und der Knapp­heit einer SMS.

Fol­gen­der Aus­zug, der einem ein­zi­gen, drei Sei­ten lan­gen Satz ent­nom­men ist, der die lei­den­schaft­li­che Dis­kus­si­on zwi­schen dem Prot­ago­nis­ten Dié­ga­ne und einem mit ihm befreun­de­ten Autor über  die fran­ko­pho­nen afri­ka­ni­schen Autor*innen der frü­he­ren Gene­ra­tio­nen wie­der­gibt, ver­deut­licht eini­ge der oben genann­ten Ele­men­te des Schreib­stils von Mbou­gar Sarr und unter­streicht zugleich die Qua­li­tät der Übersetzungsleistung:

(…) nous les ten­ions pour respons­ables du mal qui nous frap­pait: le sen­ti­ment d’être inca­pa­bles ou de n’avoir pas le droit (s’était pareil) de dire d’où nous ven­ions; puis nous les accu­si­ons de s’être lais­sé enfer­mer dans le regard des aut­res, regard-guê­pier, regard-filet, regard-maré­ca­ge, regard-guet apens qui exi­ge­ait d’eux, à la fois, qu’ils fus­sent authen­ti­ques – c’est-à-dire dif­fér­ents – et pour­tant simi­lai­res – c’est-à-dire com­pré­hen­si­bles (autre­ment dit, enco­re: com­mer­cia­li­sables dans l’environnement occi­den­tal où ils évo­luai­ent); not­re lan­cée cri­tique était bon­ne, c’est-à-dire impi­toya­ble, et nous ne devi­ons pas nous arrê­ter en si bon che­min, donc nous déplo­ri­ons que cer­ta­ins d’entre nos anci­ens aient ver­sé dans les négre­ries de l’exotisme com­plaisant et d’autres dans les auto­fic­tions où ils n’arrivaient pas à tran­s­cen­der leur peti­te exis­tence, eux qu’ on som­mait d’être afri­cains mais de ne l être pas trop et qui, pour obé­ir à ces deux impé­ra­tifs aus­si absur­des l’un gue l’autre, oubli­ai­ent d’être des écri­vains, ce qui était une fau­te capitale (…)

(…) außer­dem beschul­dig­ten wir sie, sie hät­ten sich ein­fan­gen las­sen im Blick der ande­ren, im Wes­pen­nest­blick, Reu­sen­blick, Sumpf­blick, Fal­len­stel­ler­blick, der von ihnen ver­lang­te, dass sie zugleich authen­tisch — das heißt anders — und den­noch ähn­lich — das heißt ver­ständ­lich — waren (bes­ser gesagt, dass sie in der wei­ten west­li­chen Welt, in der sie sich beweg­ten, noch ver­mark­tet wer­den konn­ten); unse­re kri­ti­sche Ver­ve war gut, das heißt gna­den­los, und da wir so gut unter­wegs waren, durf­ten wir nicht auf hal­bem Weg ste­hen blei­ben, des­halb beklag­ten wir, dass eini­ge unse­rer Vor­gän­ger in die Négre­ries eines gefäl­li­gen Exo­tis­mus ver­fal­len waren, ande­re in Auto­fik­tio­nen, ohne dass es ihnen gelun­gen wäre, sich über ihre klei­ne Exis­tenz hin­weg­zu­set­zen, und dass sie sich in die Kate­go­rie »afri­ka­nisch« hat­ten ein­rei­hen las­sen, obgleich sie es nicht all­zu sehr waren, dass sie, um die­sen bei­den glei­cher­ma­ßen absur­den Anfor­de­run­gen zu genü­gen, ver­ges­sen hat­ten, dass sie Schrift­stel­ler waren, ein grund­le­gen­der Fehler (…).

Wie im fran­zö­si­schen Ori­gi­nal wird auch in der deut­schen Über­set­zung die kom­ple­xe Satz­kon­struk­ti­on der Pas­sa­ge durch die gro­ße sprach­li­che Prä­zi­si­on, die gute Orga­ni­sa­ti­on des sprach­li­chen Mate­ri­als und die Ver­knüp­fung der ein­zel­nen Satz­tei­le aus­ge­gli­chen. Bewahrt wird auch der schwung­vol­le Rhyth­mus des Ori­gi­nal­tex­tes, der trotz der vie­len ein­ge­klam­mer­ten oder zwi­schen dop­pel­ten Gedan­ken­stri­chen ein­ge­füg­ten Zusät­ze für einen unun­ter­bro­che­nen Erzähl­fluss sorgt. Eine Mischung aus geho­be­ner („kri­ti­sche Ver­ve“) und all­täg­li­cher Spra­che („da wir so gut unter­wegs waren“) repro­du­ziert den cha­rak­te­ris­ti­schen, leicht selbst­iro­ni­schen Ton des Ori­gi­nals. Auch bei der Bil­dung der Neo­lo­gis­men am Anfang des Zitats bewei­sen Fock und Mül­ler ihr geschärf­tes Sprach­ge­fühl und ihren Ein­falls­reich­tum: „Wes­pen­nest­blick“ und „Sumpf­blick“ geben buch­stäb­lich die fran­zö­si­schen „regard-guê­pier“ bzw. „regard-maré­ca­ge“ wie­der, wobei „Reu­sen­blick“ und „Fal­len­stel­ler­blick“ eben­so treue, aber freie­re und auf Deutsch wirk­sa­me­re Lösun­gen für „regard-filet“ (filet=Netz) bzw. „regard-guet apens“ (guet apens=Hinterhalt) sind.

Eine wei­te­re Beson­der­heit des Schreib­stils des Autors und des Auf­baus des Buches besteht in der Ein­bet­tung von Geschich­ten in Geschich­ten, von Erzäh­lun­gen in Erzäh­lun­gen: Eine Figur erzählt, was ihr eine zwei­te Figur einst erzähl­te, die wie­der­um die Erzäh­lung einer drit­ten Figur nach­er­zähl­te. Man braucht nicht extra zu beto­nen, was für eine Auf­merk­sam­keit die­se Tech­nik von den Übersetzer*innen erfor­dert, die dafür sor­gen müs­sen, die Stim­men und deren Erzähl­ton von­ein­an­der zu unter­schei­den oder auch auf die manch­mal bewusst dif­fu­sen Über­gän­ge zwi­schen direk­ter und indi­rek­ter Rede und die unkla­ren Zwi­schen­zo­nen zu ach­ten. Die­ses Stim­men­ge­wirr wird vom Prot­ago­nis­ten Dié­ga­ne fol­gen­der­ma­ßen thematisiert:

Je fer­nai les yeux. Une voix se mit à par­ler. Je ne sus si c’était cel­le de Siga D. ou cel­le de son père qui, du cana­pé, vou­lait racon­ter lui-même sa pro­pre his­toire. Je ne sus si nous éti­ons tou­jours dans le salon de la pre­miè­re, à Ams­ter­dam, ou dans la chambre puan­te du second. Mais pour­quoi fall­ait-il que nous soyons néces­saire­ment dans un lieu pré­cis, où une voix iden­ti­fiée nous par­lerait, à un moment clai­re­ment défi­ni? Nous nous trou­vons tou­jours, dans un récit – mais peut- être, plus géné­ra­le­ment, à tout moment de not­re exis­tence – ent­re les voix et les lieux, ent­re le pré­sent, le pas­sé, le futur.

Ich schloss die Augen. Eine Stim­me begann zu spre­chen. Ich wuss­te nicht, ob es die Stim­me Siga D.’s oder die ihres Vaters war, der vom Sofa aus sei­ne Geschich­te selbst erzäh­len woll­te. Ich wuss­te nicht, ob wir noch in Siga D.’s Wohn­zim­mer in Ams­ter­dam oder im stin­ken­den Schlaf­zim­mer ihres Vaters waren. Aber muss­ten wir denn unbe­dingt an einem bestimm­ten Ort sein, wo zu einem fest­ge­leg­ten Zeit­punkt eine nament­lich aus­ge­wie­se­ne Stim­me zu uns sprach? In einer Erzäh­lung befin­den wir uns immer — aber viel­leicht, all­ge­mei­ner, auch zu jedem Zeit­punkt unse­rer Exis­tenz — zwi­schen den Stim­men und den Orten, zwi­schen Gegen­wart, Ver­gan­gen­heit und Zukunft.

Inspi­riert vom Fall des Autors Yam­bo Ouo­lo­guem (1940–2017) aus Mali, der 1968 sei­nen Debüt­ro­man Le devoir de vio­lence (Das Gebot der Gewalt) in Frank­reich vor­leg­te und dafür den Prix Renau­dot gewann, sich nach Pla­gi­ats­vor­wür­fen aber nach Mali zurück­zog und kei­ne Zei­le mehr schrieb, und dem Die geheims­te Erin­ne­rung der Men­schen gewid­met ist, zeigt Moha­med Mbou­gar Sarr in sei­nem Buch, wie ras­sis­ti­sche Spra­che ein­ge­setzt wird, um einen Men­schen und eine*n Künstler*in zu ent­wür­di­gen und letzt­end­lich mund­tot zu machen. Oder, wie die Ver­le­ge­rin Thé­rè­se Jacob, die zusam­men mit ihrem Part­ner Charles Ellen­stein 1938 das umstrit­te­ne Buch Das Laby­rinth des Unmensch­li­chen von T.C. Elima­ne her­aus­brach­te, Jah­re spä­ter in einem Gespräch mit der Lite­ra­tur­kri­ti­ke­rin Bri­git­te Bolè­me auf den Punkt bringt:

Même aujourd’hui, dix ans après, vous ne com­pre­nez pas. Ce qui l’a chag­ri­né, c’est que vous ne l’ayez pas vu com­me écri­vain, mais com­me phé­nomè­ne média­tique, com­me nèg­re d’exception, com­me champ de batail­le idéo­lo­gi­que. Dans vos artic­les, peu ont paré du tex­te, de son écri­tu­re, de sa créa­ti­on. (…) Vous l’avez expo­sé; pas com­me un écri­vain talen­tuex, mais com­me on expo­se un hom­me dans un zoo humain. Com­me l’objet d’une avi­lis­san­te curio­si­té. C’est aus­si pour ça qu’il ne pou­vait pas se mon­trer. Vous l’avez tué.

Selbst heu­te, zehn Jah­re spä­ter, ver­steht ihr ihn nicht. Betrübt hat ihn vor allem, dass ihr ihn nicht als einen Schrift­stel­ler, son­dern als ein Medi­en­er­eig­nis, einen Aus­nah­me-Schwar­zen, als ein ideo­lo­gi­sches Kampf­feld gese­hen habt. Weni­ge schrie­ben über den Text, sei­ne Schreib­wei­se, sei­nen schöp­fe­ri­schen Inhalt. (…) Ihr habt ihn nicht als talen­tier­ten Schrift­stel­ler prä­sen­tiert, son­dern wie ein Aus­stel­lungs­ob­jekt in einem Men­schen­zoo. Her­ab­ge­wür­digt zu einer Kurio­si­tät. Auch des­halb konn­te er sich nicht zei­gen. Ihr habt ihn erledigt.

Trotz der auf­ein­an­der­fol­gen­den Ent­hül­lun­gen und Ent­de­ckun­gen sei­tens des Prot­ago­nis­ten bleibt T.C. Elima­ne, der Autor, der ihn bei der ers­ten Lek­tü­re so sehr in sei­nen Bann zog und ihn seit­dem nicht mehr los­ließ, nicht greif­bar. Sehr greif­bar ist dage­gen die Übersetzer*innen-Leistung: Hol­ger Fock und Sabi­ne Mül­ler haben es geschafft, die ver­schie­de­nen Schwie­rig­kei­ten die­ses sprach­lich sehr anspruchs­vol­len Romans zu über­win­den, sei­ner Viel­falt gerecht zu wer­den und einen lite­ra­risch wirk­sa­men, mit­rei­ßen­den deut­schen Text zu liefern.


Moha­med Mbou­gar Sarr | Hol­ger Fock & Sabi­ne Mül­ler

Die geheims­te Erin­ne­rung der Menschen


Han­ser Ver­lag 2022 ⋅ 448 Sei­ten ⋅ 27 Euro


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