„Wozu nutz­los das Blut vergießen?“

Àxel Sanjosé hat die Gedichte des katalanischen Dichters Joan Maragall neu ins Deutsche gebracht. Von seiner Herangehensweise kann man viel über das Übersetzen von Lyrik lernen. Von

Bild: Anand Thakur bei Unsplash.

Joan Mara­gall (1860–1911) zählt zu den ein­fluss­reichs­ten Dich­tern der kata­la­ni­schen Moder­ne. Zu Leb­zei­ten ver­öf­fent­lich­te er fünf Lyrik­bän­de und eini­ge ver­streu­te Gedich­te. Von eini­gen spo­ra­di­schen Publi­ka­tio­nen abge­se­hen, ist er im deutsch­spra­chi­gen Raum bis­lang aller­dings unbe­kannt. Das ist erstaun­lich, denn er bemüh­te sich zeit sei­nes Lebens um einen Dia­log zwi­schen der deut­schen und der kata­la­ni­schen Lite­ra­tur und über­setz­te unter ande­rem Goe­the. Sein Schat­ten­da­sein hier­zu­lan­de ist aber kei­ne Über­ra­schung, wenn man bedenkt, dass Spa­ni­en im Lau­fe sei­ner Geschich­te das Kata­la­ni­sche oft zuguns­ten des Kas­ti­li­schen ver­drängt hat. Erst durch die renai­xen­ça, die „Wie­der­ge­burt“ im spä­ten 19. Jahr­hun­dert, kam ein neu­es Inter­es­se an der kata­la­ni­schen Spra­che auf und zugleich ein gestei­ger­tes Inter­es­se an Übersetzungen.

Joan Mara­gall bewegt sich in die­sem kul­tur­his­to­ri­schen Kon­text, wenn sein Werk aus lite­ra­tur­his­to­ri­scher Sicht auch zum moder­nis­me gehört. Modern sind nicht die The­men sei­ner Gedich­te (oft Lie­bes- und Natur­ge­dich­te mit Beschrei­bun­gen länd­li­cher Sze­nen), son­dern ihre Aus­ar­bei­tung. Denn Mara­gall schreibt so, wie das Volk spricht, und ori­en­tiert sich dabei an Beob­ach­tun­gen des All­tags, an Sagen­stof­fen oder popu­lä­ren Lie­dern, aber auch an der wech­sel­vol­len poli­ti­schen Bezie­hung zwi­schen Kata­lo­ni­en und Spa­ni­en: Stof­fe, die sozu­sa­gen auf der Stra­ße liegen.

Die Inno­va­ti­vi­tät von Mara­galls Gedich­ten liegt also vor allem auf der metri­schen Ebe­ne. Denn er ver­wen­det vie­le unter­schied­li­che For­men, klas­si­sche wie moder­ne, und löst die star­ren Struk­tu­ren des Ver­ses nach und nach auf. Der kata­la­ni­sche Vers unter­schei­det sich aller­dings erheb­lich vom deut­schen. Roma­ni­sche Spra­chen ken­nen nur eine fest­ge­leg­te Sil­ben­zahl pro Vers – wobei je nach Form­vor­la­ge Akzen­te an ver­schie­de­nen Stel­len gesetzt wer­den kön­nen, bei­spiels­wei­se in der Mit­te oder am Ende des Ver­ses –, ger­ma­ni­sche nur regel­mä­ßi­ge Abfol­gen beton­ter und unbe­ton­ter Sil­ben, aus denen sich ein metri­sches Mus­ter ergibt, z. B. ein Jam­bus. Ver­se wer­den im Kata­la­ni­schen dem­entspre­chend meist nach der Anzahl ihrer Sil­ben benannt: decasíl·lab (Zehn­sil­ber), enneasil·lab (Neun­sil­ber), octosíl·lab (Acht­sil­ber), heptasíl·lab (Sie­ben­sil­ber), hexasíl·lab (Sechs­sil­ber), pentasíl·lab (Fünf­sil­ber) usw. Für den Trans­fer vom kata­la­ni­schen Sys­tem ins ger­ma­ni­sche kom­men meh­re­re Lösun­gen in Fra­ge: Man kann ver­su­chen, das Vers­maß so genau wie mög­lich zu kopie­ren, die Vor­la­ge in Pro­sa über­tra­gen oder sie nach­dich­ten, wobei man die for­ma­len Vor­ga­ben nicht all­zu schul­meis­ter­lich über­nimmt und Raum für freie­re Deu­tun­gen lässt, etwa rhyth­mi­sier­te Pro­sa mit fes­ten metri­schen Struk­tu­ren kombiniert.

Die Schwie­rig­kei­ten bei der Über­tra­gung eines roma­ni­schen Vers­ma­ßes spie­len natür­lich auch für die deut­sche Mara­gall-Rezep­ti­on eine wich­ti­ge Rol­le. Zwar zählt der Über­set­zer Ramon Far­rés in einem Arti­kel ins­ge­samt 27 deut­sche Fas­sun­gen von Mara­galls Gedich­ten, weist jedoch auf gro­ße qua­li­ta­ti­ve Unter­schie­de hin. Schaut man sich eini­ge die­ser Tex­te an, merkt man schnell, wie kom­plex Lyrik­über­set­zun­gen sein kön­nen und wie die Übersetzer:innen ihre Her­aus­for­de­run­gen meis­tern: Die einen ver­su­chen, eine mög­lichst exak­te Ent­spre­chung für das Vers­maß zu fin­den, man­che fokus­sie­ren sich nur auf den Inhalt. Ande­re hin­ge­gen sind in Fest­schrif­ten für Pro­fes­so­ren erschie­nen oder wur­den in Mar­ke­ting­kam­pa­gnen der kata­la­ni­schen Regio­nal­re­gie­rung für das euro­päi­sche Aus­land ver­wen­det. Sol­che Über­set­zun­gen sind aller­dings oft nur inter­li­ne­ar und sagen rein gar nichts über die lite­ra­ri­sche Qua­li­tät ihrer Vor­la­ge aus.

Der Lyri­ker Àxel San­jo­sé hat nun mit Der Pini­en Grün, des Him­mels Blau in der Stif­tung Lyrik Kabi­nett eine Antho­lo­gie vor­ge­legt, die einen Ein­blick in ver­schie­de­ne Stu­fen von Mara­galls Werk gewährt. Die gro­ßen Klas­si­ker, die in Kata­lo­ni­en einen ähn­li­chen Rang genie­ßen wie hier­zu­lan­de Goe­thes bekann­tes­te Tex­te, sind dar­in genau­so ent­hal­ten wie laut eige­ner Aus­sa­ge so man­cher Lieb­ling des Über­set­zers. Auch las­sen die aus­ge­wähl­ten Tex­te Rück­schlüs­se auf typi­sche Moti­ve und For­men von Mara­galls Dich­tung zu. Bei sei­ner Über­tra­gung folgt San­jo­sé einem Prin­zip, das er im Nach­wort als „Rhyth­mus für Reim“ bezeich­net. Metri­sche Struk­tu­ren belässt er nach Mög­lich­keit nah am kata­la­ni­schen Text, nimmt für einen decasíl·lab etwa einen Blank­vers, und ver­zich­tet auf den Reim, da roma­ni­sche Spra­chen eine grö­ße­re Viel­falt an Gleich­klän­gen ken­nen als germanische. 

Das hat den gro­ßen Vor­teil, dass er den Ziel­text weder inhalt­lich noch rhyth­misch zurecht­bie­gen muss, nur um ihn in ein bestimm­tes Sche­ma zu pres­sen. Aber auch bei San­jo­sé geht Rhyth­mus nicht vor Inhalt. Wenn ein Wort vom Vers­maß her nicht passt, aber die Vor­la­ge genau­er wie­der­gibt als das aus metri­scher Sicht zutref­fen­de­re, schließt er es nicht aus. Wür­de San­jo­sé sich all­zu skla­visch ans Metrum hal­ten, könn­te er Mara­galls all­tags­na­he Spra­che nicht als sol­che wie­der­ge­ben, schlimms­ten­falls klän­ge sei­ne Über­set­zung sogar so alt­ba­cken und pseu­do­poe­tisch wie frü­he­re Ver­su­che. Stur in Pro­sa über­trägt er jedoch kei­nes­falls, son­dern er dich­tet nach: San­jo­sé ver­wen­det Jam­ben, Tro­chä­en, Dak­ty­len usw., er baut Asso­nan­zen und Bin­nen­rei­me ein und arbei­tet gezielt an der Wort­wahl, etwa, um einen volks­lied­haf­ten oder mär­chen­haf­ten Ein­druck zu erzeu­gen. Wie stark sich sei­ne Metho­de in Metrik, phi­lo­lo­gi­scher Genau­ig­keit und Ton von einem Vor­gän­ger mit einer ähn­li­chen Arbeits­wei­se unter­schei­det, wird aber erst bei einem Ver­gleich mit zwei frü­he­ren Über­set­zun­gen klar.

La vaca cega ist eines von Mara­galls bekann­tes­ten Gedich­ten und erzählt von einer Kuh, die – nach dem Stein­wurf eines Knechts erblin­det – über ihre Wei­de zur Trän­ke läuft. Das Gedicht wur­de erst­mals 1923 von Rudolf Groß­mann übersetzt: 

previous arrow
Slide

Topant de cap en una i alt­ra soca,
avan­çant d’esma pel camí de l’aigua,
se’n ve la vaca tota sola. És cega.
D’un cop de roc llan­çat amb mas­sa traça,
el vai­let va bui­dar-li un ull, i en l’altre
se li ha posat un tel. La vaca és cega.
Ve a abe­urar-se a la font com ans solia,
mes no amb el ferm posat d’altres vegades
ni amb ses com­panyes, no: ve tota sola.
Ses com­panyes, pels cin­gles, per les comes,
pel silen­ci dels prats i en la ribera,
fan dring­ar l’esquellot mentres pasturen
l’herba fre­s­ca a l’atzar… Ella cauria.
Topa de mor­ro en l’esmolada pica
i recu­la afron­ta­da… Però torna
i abaixa el cap a l’aigua i beu calmosa.
Beu poc, sens gai­re set… Després aixeca
al cel, enor­me, l’embanyada testa
amb un gran gesto trà­gic; parpelleja
damunt les mor­tes nines, i se’n torna
orfe de llum sota del sol que crema,
vacil·lant pels camins inoblidables,
bran­dant làn­gui­da­ment la llar­ga cua.

Slide

Die blin­de Kuh

Die Hör­ner hie und da an Bäu­me stoßend
Und wie im Traum zur Was­ser­stel­le wandelnd,
Stapft ein­sam ihres Wegs die Kuh – die blinde.
Ein Stein, vom Vieh­knecht all­zu­gut geworfen,
Schlug ihr ein Auge aus, indes das andre
Ein Schlei­er trüb­te, bis sie blind geworden.
Nach dem gewohn­ten Quell zur Trän­ke geht sie,
Doch nicht so fes­ten Schritts wie wohl vorzeiten,
Auch nicht mit den Gefähr­tin­nen. Nein, einsam
Die Schwes­tern las­sen über Schlucht und Halde,
Am Ufer­rand und durch der Trif­ten Frieden
Die Glo­cken klin­gen, wäh­rend sie nach Laune
Am Gras sich güt­lich tun: sie wür­de straucheln.
Da stößt ihr Maul sich am zer­wa­sch­nen Kübel,
Sie prallt ent­setzt zurück, kehrt den­noch wieder,
Taucht in den Trog den Kopf und trinkt bedächtig.
Trinkt wenig, ohne Durst. Dar­nach erhebt sie
Das rie­si­ge gehörn­te Haupt gen Himmel
Mit furcht­sam-schmerz­li­cher Gebär­de, zwinkert
Aus toten Augen­ster­nen und ent­fernt sich,
Des Lich­tes Stief­kind trotz glüh­hei­ßer Sonne,
Auf ein­präg­sa­men Wegen hilf­los irre,
Den lan­gen Schweif ent­kräf­tet um sich schlagend.

(Rudolf Groß­mann, 1923)

Slide

Die erblin­de­te Kuh

Den Kopf an die­sen, jenen Baum­stamm stoßend,
aus altem Trieb auf ihrem Weg zum Wasser
kommt eine Kuh, allein. Das Tier ist blind.
Mit einem all­zu gut geworf­nen Stein
leer­te ein Jun­ge einst ihr Aug. Das andre
trübt nun ein Schlei­er ein. Die Kuh ist blind.
Zur Trän­ke kommt sie eben­so wie früher,
doch nicht mehr mit dem sich­ren Schritt von damals
noch mit der Her­de: Nein, sie kommt allein.
Auf stil­len Wie­sen und an Baches Ufer,
auf Fel­sen, Hügeln las­sen ihre Glocken
erklin­gen die Gefähr­tin­nen und weiden
aufs Gera­te­wohl … Sie wür­de stürzen.
Das Maul stößt unsanft an die har­te Tränke,
sie setzt gekränkt zurück … kehrt jedoch wieder
und neigt den Kopf zum Was­ser, trinkt gemächlich.
Nur wenig trinkt sie, ohne Durst … Dann hebt sie
ihren gehörn­ten Kopf zum wei­ten Himmel
mit tra­gisch gro­ßer Ges­te, regt die Lider
über den toten Pupil­len und geht dann,
an Licht ver­waist unter sen­gen­der Sonne,
geht zögernd auf den unver­gess­nen Pfaden,
bewegt den Schwanz nur trä­ge hin und her.

(Àxel San­jo­sé, 2022)

next arrow

Schon beim Titel muss man auf­pas­sen. Groß­mann scheint die Neben­be­deu­tung der „Blin­den Kuh“ im Deut­schen nicht bedacht zu haben, wohin­ge­gen San­jo­sé die irre­füh­ren­de Asso­zia­ti­on mit dem Kin­der­spiel, das in Kata­lo­ni­en „Blin­des Huhn“ heißt, ele­gant umschifft. Zudem ver­wen­det Mara­gall decasíl·labs: „To|pant |de| cap| en| u|na i| alt|ra| so|ca“, wobei im vor­lie­gen­den Fall die Beto­nung auf der vor­letz­ten Sil­be liegt und „una i“ eine Syn­a­loi­phe ist, die End- und Anfangs­sil­be zwei­er Wör­ter, die auf einen Vokal enden bzw. begin­nen, also zusam­men­ge­zo­gen und als eine ein­zi­ge Sil­be aus­ge­spro­chen wer­den. Daher hat die ers­te Zei­le des Gedich­tes elf Sil­ben und nicht zwölf. Ger­ma­ni­sche Spra­chen ken­nen zwar kei­nen decasíl·lab, aber dafür einen Vers, der eben­falls elf (oder, je nach Ver­sen­dung, zehn) und ins­ge­samt fünf beton­te Sil­ben auf­weist: den Blank­vers. Eben­je­nen set­zen sowohl Groß­mann als auch San­jo­sé in ihrer Über­set­zung ein: „Den| Kopf| an| die|sen,| je|nen| Baum|stamm| sto|ßend“ (San­jo­sé), „Die| Hör|ner| hie| und| da| an| Bäu|me| sto|ßend“ (Groß­mann). Soviel zu den Gemein­sam­kei­ten. Sonst bestechen bei­de Fas­sun­gen aber vor allem durch ihre Unterschiede.

In den ers­ten bei­den Ver­sen ist noch nicht klar, wer hier aus wel­chem Grund was genau tut. Ohne dass sie es zunächst ahnen, neh­men die Leser:innen also die Per­spek­ti­ve der Kuh ein, sie sehen genau­so wenig wie sie. Dann, im drit­ten Vers, wird das Sub­jekt benannt, und plötz­lich wird klar, was hier eigent­lich gespielt wird. Zu Zwe­cken der Lese­füh­rung soll­te das auch in der Über­set­zung so blei­ben, und sowohl Groß­mann als auch San­jo­sé zei­gen, dass das im Deut­schen ohne wei­te­res klappt. Nur ist Groß­manns Lösung weni­ger gelun­gen als San­jo­sés. Die ent­schei­den­de Infor­ma­ti­on, näm­lich dass die Kuh blind ist, klap­pert wie ein unwill­kom­me­ner Schweif am Satz­en­de. Groß­mann fasst die bei­den Sät­ze der ers­ten drei Ver­se, die bei Mara­gall so klar sind, zu einem ein­zi­gen zusam­men. Der fügt sich zwar locker in die gewähl­te Vers­struk­tur ein, lei­ert wegen des nach­ge­scho­be­nen Adjek­tivs jedoch vor sich hin. San­jo­sé hin­ge­gen bleibt näher am Text: Er ver­zich­tet auf Groß­manns wort­rei­chen Bom­bast, der einem schlich­ten, an der All­ge­mein­spra­che gehal­te­nen Blank­vers nicht wirk­lich gut­tut („Stapft ein­sam ihres Wegs“) und ent­schei­det sich für eine schmuck­lo­se­re Lösung: „kommt eine Kuh, allein“. Dar­an lässt sich Mara­galls lako­ni­sches „És cega.“ naht­los in den Blank­vers fügen: „Das Tier ist blind“. In San­jo­sés Über­set­zung geht nichts ver­lo­ren, weder aus inhalt­li­cher noch aus poe­ti­scher Sicht.

Das ist in den nächs­ten bei­den Ver­sen augen­schein­lich anders, denn San­jo­sé erlaubt sich hier eine klei­ne Frei­heit: „leer­te ein Jun­ge einst ihr Aug“ steht da. Ein Blank­vers, der mit einem Tro­chä­us ein­setzt, ist erst ein­mal unge­wöhn­lich, ja sicher auch dilet­tan­tisch, aber hier die ein­zi­ge geschei­te Mög­lich­keit, Mara­galls Verb „bui­dar“ wie­der­zu­ge­ben (das er wört­lich als „lee­ren“ über­setzt). Eine selt­sa­me, ja viel­leicht sogar fal­sche Wort­wahl, denn wie kann ein Stein etwas lee­ren? Zwar ist Groß­manns Über­set­zung aus metri­scher und inhalt­li­cher Sicht kor­rekt („Ein Stein, vom Vieh­knecht all­zu­gut gewor­fen, / Schlug ihr ein Auge aus“), aber er tauscht nicht nur Mara­galls „unsach­ge­mä­ßen“ gegen den idio­ma­tisch kor­rek­ten Aus­druck ein, son­dern ver­zich­tet – anders als San­jo­sé – auch auf die Zeit­an­ga­be: näm­lich wann genau der Knecht den Stein gewor­fen hat. Das muss, obwohl hier kein Plus­quam­per­fekt steht, zu einem nicht näher benann­ten Zeit­punkt in der (Vor-)Vergangenheit pas­siert sein, so viel kann man sich aus Groß­manns Ver­si­on erschlie­ßen, aber San­jo­sés „leer­te einst“ gibt Mara­galls „va bui­dar“ deut­lich tref­fen­der wie­der. Zwar mag Groß­manns Fas­sung die metri­schen Vor­ga­ben des Blank­ver­ses bes­ser ein­hal­ten als San­jo­sés, sie unter­schlägt jedoch Mara­galls eigen­tüm­li­che, eben nicht am Stan­dard­vo­ka­bu­lar ori­en­tier­te Wort­wahl und die kla­re Tren­nung der bei­den Zeitebenen.

Auch in den fol­gen­den andert­halb Ver­sen erwei­sen sich San­jo­sés Lösun­gen als tref­fen­der. Wie­der fasst Groß­mann zwei durch Punk­te von­ein­an­der getrenn­te Sät­ze zu einem zusam­men: „indes das and­re / Ein Schlei­er trüb­te, bis sie blind gewor­den“, wohin­ge­gen sich San­jo­sé enger an die ein­fa­che Spra­che und Struk­tur der Vor­la­ge hält: Aus Mara­galls „i en l’altre / se li ha posat un tel. La vaca és cega“ macht er „Das and­re / trübt nun ein Schlei­er ein. Die Kuh ist blind.“ Groß­manns Text wirkt auch des­halb so alt­ba­cken, weil die Lösung mit dem weg­ge­las­se­nen Hilfs­verb („blind gewor­den“) ein­zig und allein dem Blank­vers geschul­det ist, der ein­ge­hal­ten wer­den will. „Nach dem gewohn­ten Quell zur Trän­ke geht sie“, schreibt Groß­mann. Die alter­tü­meln­de Dativ­form „Nach dem … Quell“ klingt mit ein­hun­dert Jah­ren Abstand etwas schräg, hin­zu­kommt die Syn­tax, die nicht der Münd­lich­keit der Vor­la­ge ent­spricht, son­dern zuguns­ten der Metrik zurecht­ge­drech­selt wur­de. Groß­manns Vers klap­pert unan­ge­nehm, San­jo­sé hin­ge­gen ent­schei­det sich für eine prä­gnan­te­re Lösung: „Zur Trän­ke kommt sie eben­so wie frü­her“ – was nicht nur des­halb funk­tio­niert, weil der Satz unge­fähr so klingt, als wür­de man ihn gespro­chen hören, son­dern auch, weil er Mara­gall „com ans solia“ (wört­lich: „wie sie es frü­her zu tun pfleg­te“) mit einem lapi­da­ren „eben­so wie frü­her“ wie­der­gibt. Ganz neben­bei baut San­jo­sé über meh­re­re Zei­len hin­weg noch ein paar simp­le, aber sub­ti­le Klang­ef­fek­te ein. Sie geben sei­ner Über­set­zung einen beschwing­ten Klang, der gut zum leb­haf­ten     Plau­der­ton des kata­la­ni­schen Tex­tes passt: „Stein“, „ein“, „nein“, „allein“. Auch aus San­jo­sés Über­set­zung gewinnt man den Ein­druck, hier erzäh­le jemand dem Dich­ter von einer erblin­de­ten Kuh, die er auf einer Wei­de beob­ach­tet hat. Dage­gen wirkt Groß­manns Über­set­zung recht schwer­fü­ßig und oft schwer­mü­ti­ger als die Vor­la­ge erlaubt – was sicher­lich auch dar­an liegt, dass sie schon 100 Jah­re alt ist.

Ins­ge­samt ver­fes­tigt sich im Fol­gen­den der Ein­druck, dass sich die neue Fas­sung näher an den kata­la­ni­schen Text hält. „Das Maul stößt unsanft an die har­te Trän­ke“, schreibt San­jo­sé, die Trän­ke aus dem sieb­ten Vers wie­der auf­grei­fend, und Groß­mann: „Da stößt ihr Maul sich am zer­wa­sch­nen Kübel“. Wie­so der Behäl­ter, aus dem die Kuh trinkt, bei Groß­mann durch wie­der­hol­tes Waschen abge­nutzt sein soll, erschließt sich nicht, auch im Kata­la­ni­schen steht nur „esmo­la­da pica“, also ein Eimer – oder sonst irgend­ein Bot­tich –, der abge­wetzt ist. Zwar erlaubt sich San­jo­sé eine klei­ne Frei­heit – im vor­he­ri­gen Vers „Ve a abe­urar-se com ans solia“, den er mit „Zur Trän­ke kommt sie eben­so wie frü­her“ über­setzt, ist von einer Trän­ke oder einem Eimer nicht die Rede, nur vom Trin­ken an irgend­ei­ner wie auch immer gear­te­ten Quel­le –, aber sei­ne Lösung ist ins­ge­samt über­zeu­gen­der, auch, weil er in den nächs­ten Ver­sen eini­ge locke­re, dazu pas­sen­de Asso­nan­zen ein­bau­en kann („gekränkt“, „gemäch­lich“).

Nichts davon bei Groß­mann, der wie­der nur all­zu beflis­sen auf die Ein­hal­tung des Blank­ver­ses ach­tet (San­jo­sé hin­ge­gen ver­zich­tet frech auf eine unbe­ton­te Sil­be: „kehrt jedoch wie­der“). Das von Groß­mann nach­ge­scho­be­ne „Trinkt wenig, ohne Durst“ hat etwas Lako­ni­sches, das durch­aus zu Mara­galls Ton passt, aber gleich im über­nächs­ten Vers hebt das Tier „[m]it furcht­sam-schmerz­li­cher Gebär­de“ ihren Kopf in den Him­mel (Mara­gall: „un gran gesto trà­gic“). Das Adjek­tiv „furcht­sam“ ist ver­mut­lich eine Anspie­lung auf die Tra­gö­di­en­kon­zep­ti­on des Aris­to­te­les, in der „ele­os“ (Jam­mern) und „pho­bos“ eine Kathar­sis aus­lö­sen sol­len: zwei­fels­oh­ne eine Bedeu­tung, die der Über­set­zer in den Text hin­ein­ge­le­sen hat, denn bestimmt muss­te er sich über­le­gen, wie er Mara­galls Aus­druck in den Blank­vers pfer­chen konn­te. San­jo­sés „mit tra­gisch gro­ßer Ges­te“ ist hin­ge­gen so nah am Text wie nur irgend mög­lich. Auch fin­det er einen Weg, das Verb „par­pel­le­jar“ (zwin­kern) so wie­der­zu­ge­ben, dass es nicht unfrei­wil­lig komisch wirkt: Groß­manns Kuh „zwin­kert / Aus toten Augen­ster­nen“, bei San­jo­sé „regt“ sie bloß „die Lider“. Hier ist ver­mut­lich eher ein Flat­tern als ein necki­sches Zwin­kern gemeint, auch wir­ken die „Augen­ster­ne“ zu gestelzt für Mara­galls „nines“ („Pupil­len“).      

Die letz­ten drei Ver­se sind noch ein­mal schwie­rig, aber auch hier zeigt sich, dass San­jo­sé prä­zi­ser über­setzt als Groß­mann. Letz­te­rer gibt Mara­galls unge­wöhn­li­che For­mu­lie­rung „orfe de llum“ als „Des Lich­tes Stief­kind“ wie­der, was schlicht­weg falsch ist, denn ein „orfe“ ist ein Wai­sen­kind. San­jo­sés „an Licht ver­waist“ ist auch des­halb tref­fen­der, weil dar­aus nicht klar wird, von wel­chem Licht genau das Tier denn nun im Stich gelas­sen wor­den ist (von dem der Augen? der Son­ne? des Ver­stan­des?), wohin­ge­gen Groß­manns Über­set­zung nahe­legt, die Kuh wer­de von einem ganz bestimm­ten Licht allen­falls stief­müt­ter­lich oder ‑väter­lich behan­delt. Und auch im fol­gen­den Vers liegt Groß­mann leicht dane­ben: „Auf ein­präg­sa­men Pfa­den hilf­los irre“ schreibt er da für Mara­galls „vacil·lant pels camins ino­b­li­da­bles“, und San­jo­sé: „geht zögernd auf den unver­gess­nen Pfa­den“. Groß­mann unter­stellt der Kuh, sie sei – ver­mut­lich wegen ihrer Blind­heit – voll­kom­men ver­lo­ren, ja wahn­sin­nig gewor­den, wäh­rend sie in San­jo­sés Über­set­zung noch ein wenig Kon­trol­le über sich selbst behält: Sie geht lang­sam, weil sie ihren Weg erst noch fin­den muss, aber auch sie kommt vor­an! Das ist ein wei­te­res Indiz dafür, wes­halb Groß­manns Über­set­zung so sehr aus der Zeit gefal­len ist: Eine Behin­de­rung heißt nicht auto­ma­tisch, dass man „hilf­los irre“ ist – weder als Mensch noch als Tier. Für den letz­ten Vers fin­den bei­de Über­set­zer jedoch eine jeweils prä­gnan­te Lösung: „bewegt den Schwanz nur trä­ge hin und her“ (San­jo­sé), „Den lan­gen Schweif ent­kräf­tet um sich schla­gend“ (Groß­mann).

Auch wenn Groß­mann bei genaue­rem Hin­se­hen mit sei­ner Über­set­zung schei­tert, so wird doch schon bei einer ober­fläch­li­chen Lek­tü­re klar, dass er eine poe­tisch exak­te Über­tra­gung sei­ner Vor­la­ge zumin­dest ange­strebt haben muss. Der Text hat größ­ten­teils einen fei­nen Rhyth­mus, ist daher gut les­bar. San­jo­sé ver­folgt ein ähn­li­ches Ziel, erkennt jedoch an, dass das Ergeb­nis nie­mals per­fekt sein wird, und nimmt dort, wo es nötig ist, Anpas­sun­gen vor, die oft for­ma­ler Natur sind. War­um also ist Groß­manns Über­set­zung nicht gelun­gen? Sie schlägt den fal­schen Ton an, ist zu ele­gisch gera­ten. San­jo­sé dage­gen bewahrt den zärt­li­chen, ja plau­der­haf­ten Ton der Vor­la­ge. Neben Groß­manns pedan­ti­scher Kopie der metri­schen Vor­ga­ben und San­jo­sés Kom­pro­miss­be­reit­schaft gibt es aller­dings noch einen drit­ten Weg, näm­lich die rei­ne Pro­sa­über­set­zung, die auf das Vers­maß und den Reim ver­zich­tet und auf die rei­ne Ver­mitt­lung des Inhalts abzielt.

Ein Bei­spiel hier­für sind die Über­set­zun­gen des Roma­nis­ten Johan­nes Hös­le, die 1970 in einer Antho­lo­gie mit kata­la­ni­scher Lyrik erschie­nen. Gemein­sam mit sei­nem Co-Her­aus­ge­ber Anto­ni Pous ent­schied er sich für „größt­mög­li­che Text­treue“. „Bei unse­rer Aus­wahl ging es dar­um, die poli­ti­sche Ent­wick­lung Kata­lo­ni­ens im Spie­gel [von Mara­galls] Dich­tung zu zei­gen“, steht im Vor­wort. Anders als bei San­jo­sé ist die Nach­for­mung des Tex­tes und sei­ner Wir­kung in einer ande­ren Spra­che nicht der Haupt­be­weg­grund für die­se Über­set­zun­gen, sie sol­len ihrem Publi­kum – den Stu­die­ren­den der Kata­la­nis­tik – eine Ein­füh­rung in die Beschäf­ti­gung mit Kata­lo­ni­en geben. Hös­le setzt also weni­ger auf die Ästhe­tik von Mara­galls Gedich­ten als auf ihr poli­ti­sches Poten­zi­al. Bei­des muss sich jedoch nicht unbe­dingt auto­ma­tisch aus­schlie­ßen, wie ein Blick auf Oda a Espanya zeigt:

previous arrow
Slide

Escol­ta, Espanya, — la veu d’un fill
que et par­la en llen­gua — no castellana;
par­lo en la llen­gua — que m’ha donat
la ter­ra aspra:
en ’ques­ta llen­gua — pocs t’han parlat;
en l’altra, massa.

T’han par­lat mas­sa — dels saguntins
i dels qui per la pàtria moren;
les teves glòries — i els teus records,
records i glòries — només de morts:
has vis­cut trista.

Jo vull parlar-te — molt altrament.
Per què ves­sar la sang inútil?
Dins de les venes — vida és la sang,
vida pels d’ara — i pels que vindran:
vessa­da, és morta.

Mas­sa pen­sa­ves — en ton honor
i mas­sa poc en el teu viure:
trà­gi­ca duies — a mort els fills,
te satis­fei­es — d’honres mortals
i eren tes fes­tes — els funerals,
oh tris­ta Espanya!

Jo he vist els bar­cos — mar­xar replens
dels fills que duies — a que morissin:
som­ri­ents mar­x­a­ven — cap a l’atzar;
i tu can­ta­ves — vora del mar
com una folla.

On són els bar­cos? — On són els fills?
Preg­un­ta-ho al Ponent i a l’ona brava:
tot ho per­de­res, — no tens ningú.
Espanya, Espanya, — retor­na en tu,
arren­ca el plor de mare!

Slide

Hör, Spa­ni­en, die Stim­me eines Sohnes,
der mit dir eine Spra­che redet, die nicht kas­ti­lisch ist;
ich rede in der Spra­che, die mir das rau­he Land
gege­ben hat;
in die­ser Spra­che haben weni­ge mit dir geredet;
in jener ande­ren allzuviele.

Sie haben mit dir zuviel gere­det über die Saguntiner
und von jenen, die für das Vater­land sterben:
dein Ruhm, dei­ne Erinnerungen,
sind nur Erin­ne­run­gen und Ruhm von Toten:
trau­rig hast du gelebt.

Ich will zu dir ganz anders reden.
Wozu das Blut nutz­los vergießen?
In sei­nen Adern ist das Blut Leben,
Leben für die von heu­te, und für die, die kommen:
Ver­gos­se­nes Blut ist tot.

Zuviel hast du gedacht an dei­ne Ehre
und viel zu wenig an dein Leben:
in tra­gi­scher Ver­blen­dung gibst du dem Tod die Söhne,
du läßt es dir genug sein an sterb­li­chen Ehren,
und dei­ne Fes­te waren die Begräbnisse,
trau­ri­ges Spanien!

Ich sah die Schif­fe bei der Aus­fahrt voll
mit dei­nen Söh­nen die du hin­gibst – zum Sterben:
sie fah­ren lächelnd in das Ungewisse;
und du sangst am Rand des Meeres
wie eine Irre.
Wo sind die Schif­fe? Wo sind die Söhne?
Die wil­de Wel­le und den Wes­ten kannst du danach fragen:
alles ver­lorst du, kei­ner blieb dir,
Spa­ni­en, Spa­ni­en, geh in dich,
bewei­ne sie wie eine Mutter!

Denk an dein Heil, ret­te dich vor soviel Übel,
damit du durch die Trä­nen frucht­bar, leben­dig und hei­ter wirst;
denk an das Leben, das du um dich hast:
erhe­be dei­ne Stirn,

läch­le den sie­ben Far­ben in den Wol­ken zu.
Wo bist du Spa­ni­en? Ich sehe dich nirgends.
Hörst du nicht mei­ne Donnerstimme?
Ver­stehst du die­se Spra­che nicht, die in Gefah­ren sich an dich wendet?
Hast du ver­lernt, die eige­nen Kin­der zu verstehen?
Spa­ni­en, leb wohl!

(Hös­le 1970)

Slide

Hör, Spa­ni­en – die Stim­me eines Sohnes,
der mit dir spricht – in nicht-kas­ti­li­scher Sprache;
ich spre­che in der Spra­che – die mir
die rau­he Erde gab:
In die­ser Spra­che – rede­ten weni­ge mit dir,
in der and­ren all­zu viele.

Zu viel haben sie gere­det – von den Saguntern
und von jenen, die fürs Vater­land sterben;
dein Ruhm – und dei­ne Erinnerungen,
Erin­ne­run­gen und Ruhm – stam­men von Toten:
du leb­test traurig.

Ich will mit dir reden – auf ganz and­re Art.
War­um nutz­los das Blut vergießen?
In den Adern – Leben ist das Blut,
Leben für die Heu­ti­gen – und für die Kommenden:
Ver­gos­sen, ist es tot.

Zu viel dach­test du – an dei­ne Ehre
und zu wenig an dein Leben:
tra­gisch führ­test du – zum Tod die Söhne,
hat­test Gefal­len – an Totenehrungen,
und dei­ne Fes­te waren – Begräbnisse,
trau­ri­ges Spanien!

Ich sah die Schif­fe – rand­voll auslaufen
mit dei­nen Kin­dern, die du – zum Ster­ben führtest:
Sie gin­gen lächelnd – ins Ungewisse;
und du, du sangst – am Meeresufer
wie eine Irre.

Wo sind die Schif­fe? – Wo sind die Söhne?
Fra­ge den West­wind, die Sturmeswoge:
alles ver­lorst du – nie­man­den hast du.
Spa­ni­en, Spa­ni­en, kehr zurück zu dir,
brich aus in Mutterweinen!
(San­jo­sé 2022)

next arrow

Die­ses Gedicht, das vom Nie­der­gang eines Impe­ri­ums erzählt – 1898 hat­te Spa­ni­en sei­ne letz­ten Kolo­nien an die USA ver­lo­ren –, zeigt, wie Mara­gall zunächst eine Struk­tur ein­führt, um sie im wei­te­ren Ver­lauf Stück für Stück auf­zu­bre­chen. Die Ver­se bestehen aus jeweils zwei anein­an­der­ge­füg­ten Vier­sil­bern, die durch einen Gedan­ken­strich – eine Zäsur – von­ein­an­der getrennt sind. Die letz­te Sil­be des ers­ten Halb­ver­ses ist meis­tens unbe­tont, die letz­te Sil­be des zwei­ten Halb­ver­ses meis­tens betont. Jede Stro­phe ent­hält einen Paar­reim (die vor­vor­letz­te und letz­te Zei­le), die übri­gen Ver­se sind unge­reimt. Im wei­te­ren Ver­lauf erschei­nen Ver­se ohne Zäsur, eben­so wer­den die Halb­ver­se län­ger. Wie San­jo­sé in sei­nem Nach­wort schreibt, voll­zieht das Gedicht die Auf­lö­sung des Impe­ri­ums auf der metri­schen Ebe­ne nach.

Ging es bei Groß­mann noch um die mög­lichst genaue Wie­der­ga­be der Vers­struk­tur, inter­es­siert das Gedicht als sol­ches Hös­le höchs­tens noch auf der inhalt­li­chen Ebe­ne: Was bedeu­ten die Wör­ter in ihrem Kon­text? Und: Was ist dafür die mög­lichst exak­te deut­sche Ent­spre­chung? Zwar mag eine ers­te Lek­tü­re zunächst den Ein­druck erwe­cken, dass Hös­le die phi­lo­lo­gi­sche Über­set­zung gelingt, aber es gibt bereits ers­te Irri­ta­ti­ons­mo­men­te: Auf Mara­galls cha­rak­te­ris­ti­sche Gedan­ken­stri­che ver­zich­tet er voll­stän­dig, viel­leicht, weil sie in einer Pro­sa­über­tra­gung bloß stö­ren wür­den, sie sind ja ein indi­vi­du­el­les Kenn­zei­chen von Mara­galls Vers, oder schlicht­weg aus typo­gra­phi­schen Ursa­chen, weil die Zei­len sonst zu lang würden.

Wäh­rend Hös­le die metri­sche Struk­tur der Vor­la­ge igno­riert, über­setzt San­jo­sé sie auf locke­re Wei­se mit. Sei­ne Ver­se haben mal vier/sieben, vier/acht, sieben/zwei, sechs, fünf/acht und acht Sil­ben und dem­zu­fol­ge auch unter­schied­lich vie­le Beto­nun­gen. Ein tetrasíl·lab ist näm­lich noch schwie­ri­ger ins Deut­sche zu brin­gen als ein decasíl·lab, weil kata­la­ni­sche Wör­ter oft schlicht­weg kür­zer sind als deut­sche. Hin­zu­kom­men die Eigen­hei­ten der Metrik: „Es|col|ta, Es|pa|nya,| – | la |veu |d’un |fill, / que et |par|la en |llen|gua | – |no|cas|tel|la|na“. Allei­ne in den ers­ten bei­den Ver­sen ste­hen drei Wör­ter nach­ein­an­der, die jeweils auf einen Vokal enden (a/E, e/e, a/e), daher wer­den ihre letz­te und ers­te Sil­be zu jeweils einer ein­zi­gen zusam­men­ge­zo­gen. Die Über­gän­ge von Sil­be zu Sil­be klin­gen im Kata­la­ni­schen weich, im Deut­schen pral­len sie oft etwas här­ter auf­ein­an­der, da eine Syn­a­loi­phe nicht mög­lich ist: „Hör, |Spa|ni|en, | – |die |Stim|me |ei|nes |Sohnes, / der |mit |dir |spricht | – in |nicht-|kas|ti|li|scher |Sprache“ (San­jo­sé), und Hös­le: „Hör, Spa­ni­en, die Stim­me eines Soh­nes, / der mit dir eine Spra­che spricht, die nicht kas­ti­lisch ist“. Zwar kann San­jo­sé auch im ers­ten Halb­vers noch vier Sil­ben unter­brin­gen (zwei davon betont), das ist im nächs­ten aber schon gar nicht mehr mög­lich. Auch lässt er im zwei­ten zitier­ten Vers zwei unbe­ton­te Sil­ben auf­ein­an­der­fol­gen. Wäh­rend Mara­gall eine Struk­tur eta­bliert, die er nach und nach wie­der zer­schlägt, liegt sie bei San­jo­sé bereits zer­schla­gen vor. Hös­le hin­ge­gen reiht unge­schickt zwei Rela­tiv­sät­ze anein­an­der. Das bekommt San­jo­sé bes­ser hin. Der Sohn „spricht“. Und wor­in? In „nicht-kas­ti­li­scher Sprache“.

Aus der nächs­ten Stro­phe geht klar her­vor, wor­über gere­det wur­de: über Sie­ge und Nie­der­la­gen. „T’han par­lat mas­sa“, schreibt Mara­gall und spricht damit das Du (womit Spa­ni­en gemeint ist) expli­zit an, bei San­jo­sé steht jedoch (weil der Vers sonst noch län­ger wür­de?): „Zu viel haben sie gere­det“, ohne zu erwäh­nen, an wen sich die Sprech­in­stanz denn genau gewen­det hat. Hös­le hat es da mit sei­ner Pro­sa­über­set­zung deut­lich ein­fa­cher, denn durch: „Zu viel haben sie mit dir gere­det“ kann er den Text wört­lich wie­der­ge­ben. Bei­de jedoch glät­ten Mara­galls Text: „les teves glòries – i els teus records / records i glòries – només de mor­ts“, heißt es an einer Stel­le der zwei­ten Stro­phe. Zwar lässt sich der Chi­as­mus mühe­los ret­ten (nur ist bei San­jo­sé nicht klar, wie er sich in den Satz ein­fü­gen soll, denn streng genom­men käme sei­ne Fas­sung auch ohne die­se Stil­fi­gur aus), aber auf wen sich Erin­ne­run­gen und Ruhm bezie­hen, machen sowohl San­jo­sé als auch Hös­le deut­lich, indem sie ein Verb hin­zu­fü­gen, wo es im kata­la­ni­schen Text aus­ge­las­sen wird: „stam­men von Toten“ (San­jo­sé), „sind … von Toten“ (Hös­le).

Auch in den fol­gen­den fünf Ver­sen hal­ten sich bei­de Über­set­zer eng an den Text, wobei aller­dings indi­vi­du­el­le Unter­schie­de bestehen. „Per què ves­sar la sang inú­til?“, steht bei Mara­gall. Hier­aus macht Hös­le: „Wozu das Blut nutz­los ver­gie­ßen?“, und San­jo­sé: „Wozu nutz­los das Blut ver­gie­ßen?“ Die Stel­lung des Adverbs ist ent­schei­dend: Hös­les Über­set­zung sug­ge­riert, es gäbe eine nütz­li­che Art des Blut­ver­gie­ßens. Das ist aber nicht der Punkt, denn Mara­gall klagt Spa­ni­ens gewalt­tä­ti­ge Nei­gun­gen an. Aber Hös­le hat nicht nur hier eine Nuan­ce über­se­hen, er trifft auch in der vier­ten Stro­phe eine frag­wür­di­ge Wahl. Zwar über­setzt er Mara­galls „Mas­sa pen­sa­ves – en ton honor“ noch kor­rekt mit „Zu viel gedacht hast du an dei­ne Ehre“ (auch wenn man hier strei­ten könn­te, ob das Imper­fekt für den getra­gen-pathe­ti­schen Ton­fall nicht doch bes­ser wäre), bringt im Fol­gen­den jedoch Mara­galls Ver­gan­gen­heits­for­men („duies“, „te satis­fei­es“) – wie auch in der nächs­ten Stro­phe – ins Prä­sens („gibst du“, „läßt es dir genug sein“) – um am Ende dann doch wie­der ins Imper­fekt umzu­schwen­ken. San­jo­sé hin­ge­gen behält die Ver­gan­gen­heits­for­men bei. Nutzt Hös­le hier das his­to­ri­sche Prä­sens, um mög­lichst plas­tisch zu ver­deut­li­chen, wie gna­den­los und todes­be­ses­sen Spa­ni­ens Impe­ria­lis­mus ist? Das lässt sich kaum sagen. Tat­sa­che ist, dass ein his­to­ri­sches Prä­sens in Mara­galls Text nicht vor­kommt, zumal die Ankla­gen gegen Spa­ni­en – auch wenn sie eher all­ge­mei­ner Natur sind – schon ein­dring­lich genug wir­ken. Hös­le, der in sei­ner Über­set­zung „größt­mög­li­che Wort­treue“ anstrebt, greift an die­sen Stel­len also in den Text ein, wäh­rend San­jo­sé, der ja kei­ne phi­lo­lo­gi­sche Über­set­zung lie­fert, son­dern „nur“ eine Nach­dich­tung, mög­lichst nah dranbleibt.

Nicht nur in der Wort­stel­lung und den Tem­po­ra, auch in der Wort­wahl muten Hös­les Lösun­gen mit­un­ter selt­sam an. Mara­galls „Salva’t, oh!, salva’t!“ über­setzt er mit „Denk an dein Heil“, eine viel zu schwüls­ti­ge, sicher auch unan­ge­brach­te For­mu­lie­rung, wo die Stel­le doch bes­ser – wie San­jo­sé es vor­macht – wört­lich mit „Ret­te, oh ret­te dich!“ zu über­set­zen wäre. Aber auch die Mög­lich­keits­form gibt Hös­le nicht ange­mes­sen wie­der. „… que el plor et faci fecun­da, aleg­re i viva“, for­dert Mara­gall von Spa­ni­en, „damit du durch die Trä­nen frucht­bar, hei­ter und leben­dig wirst“, schreibt er. Zwar ist es durch­aus mög­lich, den sub­jun­tiu, der zumin­dest punk­tu­ell eini­ge Gemein­sam­kei­ten mit dem deut­schen Kon­junk­tiv auf­weist, im Prä­sens Indi­ka­tiv wie­der­zu­ge­ben, da hier aber ein Wunsch geäu­ßert wird, müss­te es – wie San­jo­sé kor­rekt über­setzt – fol­gen­der­ma­ßen hei­ßen: „möge das Wei­nen dich frucht­bar machen, froh und lebendig“.

Die Lek­tü­re von La vaca cega und Oda a Espanya und den jewei­li­gen deut­schen Fas­sun­gen hat gezeigt, dass Lyrik anders zu über­set­zen ist als Pro­sa. Zwar muss sich Johan­nes Hös­le in sei­ner Ode an Spa­ni­en kei­ne Sor­gen ums Metrum machen, aber der klang­li­che Aspekt geht voll­kom­men ver­lo­ren. Das jedoch ist, wie San­jo­sé in einem Inter­view mit Susan­ne Lan­ge dar­legt, eine der größ­ten Her­aus­for­de­run­gen beim Über­set­zen von Lyrik. Er hat sich für Asso­nan­zen und mit Bedacht ein­ge­setz­te Bin­nen­rei­me ent­schie­den und reizt das Spek­trum der Voka­le und Diphthon­ge groß­zü­gig aus („mit schwa­nen­schö­nem Nie­der­beu­gen“ für „amb movi­ments de cíg­nia bel­le­sa“). Oder aber er nutzt im Gedicht Roman­ze ohne Wor­te für die sprach­li­che Dar­stel­lung flie­ßen­den Was­sers gezielt Wor­te mit ver­dop­pel­tem S („Näs­se“), auf L („fließt“) und auf Sch („frisch“). Wie­der­ho­lun­gen – z. B. „semp­re, semp­re mar endins“ in Excel­si­or – ver­mit­teln den oft volks­lied­haf­ten Ton der Vor­la­ge: „immer, immer mehr­wärts fahr“. Eben­so baut er archa­isch tönen­de Wor­te ein, etwa in Der schlim­me Jäger: „gar fröh­lich ist das Urteil“ („aleg­re és la sentència“).

In sei­nem Arti­kel fragt sich Ramon Far­rés, ob man die ins­ge­samt 27 deut­schen Tex­te nicht in einer Antho­lo­gie ver­sam­meln könn­te. Zum Glück ist noch kein Ver­lag auf die­se glor­rei­che Idee gekom­men, denn es hat sich gezeigt, dass die Über­set­zun­gen bis­lang zu schlecht waren. Àxel San­jo­sé, der die schwie­ri­ge Auf­ga­be auf sich genom­men hat, die prä­gnan­tes­ten Tex­te aus Mara­galls Werk aus­zu­su­chen und nach­zu­dich­ten, bas­telt das Vers- und Reim­sche­ma nicht all­zu eif­rig nach, pro­du­ziert aber auch kei­ne rei­ne Inter­li­ne­ar­über­set­zung, son­dern fin­det einen Mit­tel­weg: Er akzep­tiert die metri­schen Her­aus­for­de­run­gen des kata­la­ni­schen Tex­tes und weicht nöti­gen­falls von ihnen ab. Damit haben deutsch­spra­chi­ge Leser:innen, die bis­lang noch nichts von die­sem Dich­ter gehört haben, end­lich Gele­gen­heit, ihn in einer lite­ra­risch anspre­chen­den deut­schen Fas­sung ken­nen­zu­ler­nen. Und auch ange­hen­de Lyrikübersetzer:innen kön­nen viel aus San­jo­sés Lösun­gen lernen.


Joan Mara­gall | Àxel San­jo­sé

Der Pini­en Grün, des Mee­res Blau


Stif­tung Lyrik Kabi­nett 2022 ⋅ 168 Sei­ten ⋅ 24 Euro


Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert