Als das Theaterstück Cyrano de Bergerac von Edmond Rostand (1868–1918) im Dezember 1897 erstmals auf die Bühne kam, war das Pariser Publikum hellauf begeistert. Bis März 1899 wurde es 400-mal aufgeführt und von dem gedruckten Text verkauften sich in kurzer Zeit 150.000 Exemplare. Zum großen Erfolg auf der Bühne trug der Star-Schauspieler Coquelin in der Titelrolle bei. Darüber hinaus wird die Wirkung des Stücks heute damit erklärt, dass der kämpfende Cyrano den Wunsch des französischen Publikums nach Rache verkörperte. Die Niederlage von 1871 gegen Bismarcks preußisch-deutsche Allianz und der Verlust von Elsass-Lothringen lagen noch nicht lange zurück, der Stolz der Nation war verletzt.
Die erste Übersetzung in die Sprache des „Erbfeinds“ ließ nicht lange auf sich warten: Bereits 1898 erschien eine deutsche Fassung von Ludwig Fulda, der selbst ein bekannter Bühnenautor war. Bis in unser Jahrhundert hinein wurde sie vielfach neu aufgelegt. Nicht zu ermitteln ist der Entstehungszeitpunkt der Übersetzung von Arthur Luther, der vor allem russische Literatur ins Deutsche übertrug. Der Katalog der Deutschen Nationalbibliothek gibt als Erscheinungsjahr 1969 an, Luther starb jedoch bereits 1955. Aus dem Jahr 1969 stammt auch ein nicht für den Verkauf bestimmtes Bühnenmanuskript, eine deutsche Fassung von Rainer Kirsch nach einer Interlinearübersetzung von Gisela Naumann. Die Zeit war also reif für eine deutsche Neuübersetzung. Frank Günther (1947–2020) hatte sich der Aufgabe angenommen, die Lücke zu schließen, nun können wir das im Verlag ars vivendi erschienene Ergebnis endlich lesen.
Jürgen Ritte bezeichnet Rostand in seinem Nachwort zu Günthers Übersetzung als „letzten Romantiker des französischen Theaters“. Der Stoff ist in Europa bis heute sehr populär und wurde vielfach verfilmt. Bekannt ist Gérard Depardieus Verkörperung des Titelhelden unter der Regie von Jean-Paul Rappenau aus dem Jahr 1990. In Deutschland diente die Geschichte vor einigen Jahren als Vorlage für Das schönste Mädchen der Welt von Aron Lehmann; hier sind die Hauptpersonen Jugendliche und es wird gerappt statt gedichtet.
Die Handlung des Originals spielt im 17. Jahrhundert, die auftretenden Personen gehen auf reale Vorbilder zurück. Der echte Cyrano de Bergerac wurde 1619 geboren, war Dichter und Astronom und nahm 1640 während des Französisch-Spanischen Krieges an der Belagerung von Arras teil. In Rostands Stück zeichnet er sich äußerlich durch ein ganz bestimmtes Merkmal aus: seine übergroße Nase. „Cyrano leidet, weil er nicht schön ist, und kompensiert diesen Makel dadurch, dass er seinen Intellekt übermäßig in den Vordergrund stellt“, schreibt Matthieu Baumier in seinem Vorwort zu einer französischen Textausgabe von 2005. Cyrano gehört zum Regiment der Gascogner Kadetten und geht im Alltag keiner Auseinandersetzung aus dem Weg, wobei er stets gewinnt. Auch Sprache verwendet er als Waffe, in Bezug auf Eloquenz kann es niemand mit ihm aufnehmen. Cyrano ist unbeugsam und unbestechlich, große Gesten bedeuten ihm mehr als Geld. Sein literarisches Talent in den Dienst eines Förderers zu stellen, bei dem er sich anbiedern müsste, lehnt er ab. Er hat keine Angst davor, sich Feinde zu machen. Einzig Spott und Lächerlichkeit fürchtet er und scheut sich daher, seiner Angebeteten Roxane seine Gefühle zu gestehen. Stattdessen schreibt er ihr Briefe im Namen des etwas einfältigen Schönlings Christian, der ebenfalls in Roxane verliebt ist.
Da es im Cyrano um die Kraft des Wortes geht und der Titelheld in jeder Situation sofort die passende Entgegnung auf der Zunge hat, ist eine gute Übersetzung hier besonders wichtig. Frank Günther, der sich der Herausforderung stellte, wurde im Laufe seines Lebens mit diversen Preisen ausgezeichnet und war 2007/08 August-Wilhelm-von-Schlegel-Gastprofessor für Poetik der Übersetzung an der FU Berlin. Die Arbeit am Theater brachte ihn zum Übersetzen, sein Name wird vor allem mit William Shakespeare in Verbindung gebracht, dessen vollständiges Werk er ins Deutsche übertrug. Ein Nachruf rühmt sein gegenwartsnahes Deutsch, in dem sich verschiedene Register mischen; die Sprache ist mal gehoben, mal locker. Die Shakespeare-Übersetzungen sind allesamt mit ausführlichen Berichten aus der Übersetzerwerkstatt versehen. Bei der postum veröffentlichten deutschen Fassung von Rostands Theaterstück fehlen diese leider.
Rostand verfasste sein Stück in klassischen Alexandrinern, also Versen mit zwölf bzw. dreizehn Silben (bei Betonung der vorletzten Silbe). Der Übersetzer gibt dies größtenteils mit sechshebigen Jamben wieder, weicht von diesem Metrum aber auch gelegentlich ab. Im Französischen wie im Deutschen wird durchgängig der Paarreim verwendet. Frank Günther greift öfter auf Alliterationen und Binnenreime zurück, die im Original nicht vorhanden sind. Dies verstärkt die komische Wirkung. Ein Beispiel aus I, 4:
CYRANO […] Qu’en ferraillant je vais – hop ! – à l’improvisade,
Vous composer une ballade.
LE VICOMTE Une ballade ?
CYRANO Vous ne vous doutez pas de ce que c’est, je crois ?
CYRANO: Da dicht ich – sonst wird mir die Fechterei zu fade –
Kämpfend im Stegreif für Sie ’ne Ballade!
VALVERT: Eine Ballade?
CYRANO: Eine Ballade. Schade – Balladen kennen Sie wohl nicht?
Die angekündigte Ballade, auf Französisch mit „Ballade du duel qu’en l’hôtel bourguignon / Monsieur de Bergerac eut avec un bélître“ betitelt, heißt dann in der deutschen Fassung „Ballade vom Duell, in dem das Dichtgenie / Des Cyrano auf einen tumben Tölpel trifft.“
Cyrano de Bergerac stammt, ebenso wie alle anderen Mitglieder seines Regiments, aus der Gascogne, was im Stück an verschiedenen Stellen betont wird – auch durch sprachliche Besonderheiten der betreffenden Personen. Die Gascogne ist eine Region im Südwesten Frankreichs, die historisch zum okzitanischen Sprachgebiet gehört, und der gascognische Dialekt nimmt innerhalb des Okzitanischen eine Sonderstellung ein. Die draufgängerischen Kadetten führen gern Ausrufe wie „Mordious“ und „Capdedious“ im Munde, wobei das „-dious“ für „Gott“ steht. Frank Günther verwendet Ausdrücke wie „Kreuzdonner“ und „Gottverdammt“, also eine blasphemisch-derbe Sprache, die aber keinem bestimmten deutschen Dialekt entspricht.
Ein Mann im Regiment ist den anderen suspekt, seine gascognische Identität wird angezweifelt, da er sich nicht entsprechend verhält (er legt viel Wert auf sein Äußeres und auf ein vernünftiges Benehmen). Es handelt sich um den Grafen De Guiche, der ebenso wie Cyrano und Christian an Roxane interessiert ist, von ihr aber abgelehnt und von den anderen beiden Herren verachtet wird. Angesichts der Gefahr während der Belagerung von Arras solidarisiert er sich mit den anderen und beginnt, wie sie zu sprechen – zumindest in der französischen Originalfassung. Auf seine Aussage „Je vais me battre à jeun !“ (IV, 7) hin jubelt einer der Kadetten: „À jeung ! il vient d’avoir l’accent !“ und der Verbrüderung steht nichts mehr im Wege. Eine vom Standard abweichende Aussprache der Nasalvokale ist noch heute typisch für den südfranzösischen Akzent. Der deutsche Übersetzer musste hier eine andere Lösung finden und hat sich für „Nüchtern kämpf ich, wie’n Gascogner Stier!“ entschieden. „Er ist ein Landsmann!“, verkündet daraufhin der Kadett. Der Stier passt zum blindwütigen Kampfgeist der Gascogner und eignet sich daher als Erkennungszeichen, die Lösung des Übersetzers ist angemessen, wenn auch weniger subtil.
In der zehnten und letzten Szene des vierten Akts stürzt sich Cyrano ins Getümmel eines Kampfs, den er und sein Regiment der Wahrscheinlichkeit nach nicht gewinnen können. Er ist bereit zu sterben. In dieser Situation ruft er den Kadetten erst „Hardi ! Reculès pas, drollos !“ (wörtlich etwa: „Tapfer! Weicht nicht zurück, Jungs!“ und dann „Toumbé dèssus ! Escrasas lous !“ („Stürzt euch drauf! Zerquetscht sie!“) zu. In der deutschen Fassung lesen wir „Drauf! Wankt und weicht nicht!“ sowie „Und drauf! Und kämpft! Und stürmt!“. Die von Günther gern verwendete Alliteration und die Anapher wirken hier im Munde eines Mannes, der emotional aufgewühlt sein Leben riskiert, vielleicht etwas zu feierlich.
Immer wieder wird im Theaterstück Cyranos Nase thematisiert und fordert die Kreativität des Übersetzers heraus, vor allem in der langen vierten Szene des ersten Akts. Der Titelheld fühlt sich provoziert, weil jemand ihm (angeblich) zu lange ins Gesicht geschaut hat. „[…] je m’enorgueillis d’un pareil appendice“, prahlt er und spricht einige Verse später von seinem „milieu de visage“. Vielfältige Synonyme für die Nase fand auch Frank Günther, der Cyrano von seinem „Gesichtsvorbau“ und seiner „Nasenzier“ sprechen lässt. Seine verbale Überlegenheit allen Anwesenden gegenüber demonstriert Cyrano anschließend in einem längeren Monolog, in dem er aufzählt, mit welchen Worten andere theoretisch seine Nase beleidigen könnten, wenn sie denn ausreichend geistreich wären. Ein wahres Feuerwerk an Eloquenz zündet er und das funktioniert auch im Deutschen. Eine kleine Kostprobe:
GRACIEUX : Aimez-vous à ce point les oiseaux
Que paternellement vous vous préoccupâtes
De tendre ce perchoir à leurs petites pattes ?
TRUCULENT : Ça, Monsieur, lorsque vous pétunez,
La vapeur du tabac vous sort-elle du nez
Sans qu’un voisin ne crie au feu de cheminée ?
GALANT: Die Vögel sind gewiss Ihr Studium,
Und um sie ganz aus nächster Nähe zu betrachten,
Kam’s, dass Sie diesen Nistplatz sich erdachten!
GROBSCHLÄCHTIG: Herr, wenn Sie rauchend auf dem Divan liegen,
Und Stinkewolken diesem Instrument entfliegen,
Kommt’s nicht oft vor, dass man zusammenrennt
Und alles schreit: O Gott, der Schornstein brennt?
In dieser Szene finden wir im Deutschen insgesamt mehr Nasen-Synonyme als im Original, wobei die vielleicht schönste Idee des Übersetzers das „Gesichtsmalheur“ ist.
Einige der von Cyrano in Christians Namen verfassten Briefe erinnern an die mittelalterliche Liebesdichtung: Von einem Tausch der Herzen und den „Nattern Stolz und Zweifel“ („les deux serpents Orgueil et Doute“) ist da die Rede. Später wird klar, dass er sich dieses Registers nur widerwillig bedient hat. In der berühmten Balkonszene im dritten Akt steht oben die Dame, unten stehen die beiden Herren. Cyrano spricht an Christians Stelle, vergisst aber über seinen eigenen Gefühlen seine Rolle. In dieser Situation fragt Roxane, wo denn der Esprit bleibe. Cyrano antwortet „Je le hais, dans l’amour“, auf Deutsch „Ein Feind der Liebe“. Dass er die gängige Rhetorik beherrscht, aber verachtet, wird in der Übersetzung noch stärker betont als im Original: „Ah ! si loin des carquois, des torches et des flèches, / On se sauvait un peu vers des choses… plus fraîches !“ wird zu „Ach! Fort den Kram, fort ‚Amors Pfeil und Liebesschlingen‘, / Ich kenn doch ein paar Verse mehr mit … wahren Dingen!“. Kurz davor heißt es: „Je pars pour décrocher l’étoile, et je m’arrête / Par peur du ridicule, à cueillir la fleurette !“, von Frank Günther wiedergegeben mit „Ich geh und möcht vom Himmelszelt die Sterne pflücken, / Und muss mich dann aus Angst nach Floskelblümchen bücken.“ Blumen werden im Französischen wie im Deutschen erwähnt, doch der Sinn ist ein anderer. „Conter fleurette“ (wörtlich „Blümchen erzählen“) entspricht etwa unserem „Süßholz raspeln“. „Floskelblümchen“ ist im Grunde eine Tautologie, da „Floskel“ sich vom lateinischen flosculus, „Blümchen“, herleitet, aber dies alles stört nicht. Die Übersetzung ist treffend, da sowohl das französische „fleurette“ als auch das deutsche „Blümchen“ Verkleinerungsformen sind, die banal und harmlos klingen. Cyranos Liebe geht weit über das Nette, Süßliche hinaus.
Mindestens 68 Jahre alt ist die jüngste allgemein zugängliche deutsche Fassung von Edmond Rostands Theaterstück. Eine Neuübersetzung war überfällig, dabei lag die Messlatte des Originals sehr hoch. Frank Günther fesselt den Leser (oder die Zuschauerin im Theater) ebenso wie der französische Verfasser. Seine Lösungen stehen dem sprachgewaltigen Original fast in nichts nach, die komische wie die tragische Wirkung bleiben erhalten. Dabei klingt seine Sprache weder zu altertümlich noch zu modern. Freuen wir uns, dass Günthers Übersetzung endlich erschienen ist und Cyranos Federbusch wieder frisch erstrahlt.