Am 27. April werden die Preise der Leipziger Buchmesse vergeben, unter anderem in der Kategorie Übersetzung. Auf TraLaLit stellen wir die Nominierten vor. Alle Beiträge der Reihe sind hier zu finden.
Das Buch
Die Ich-Erzählerin Yuna ist eine begabte Kunststudentin aus ärmlichen Verhältnissen, die in den 30er- und 40er-Jahren des vergangenen Jahrhunderts in La Plata, Argentinien, lebt. Sie gilt als „minderbemittelt“ und trotz ihres Erfolgs als Künstlerin bestimmt sie nicht über ihr eigenes Leben. Yuna, aber auch ihre schwerbehinderte Schwester Betina und die Cousinen Carina und Petra, sind mächtigeren und teils gewalttätigen Menschen um sich herum regelrecht ausgeliefert. Mit der Zeit lernt die junge Erzählerin aber, sich in einer Welt voller Ungerechtigkeiten zu wehren und für sich selbst einzustehen.
Aurora Venturini (1922–2015) erzählt eine Geschichte über Gewalt, Abtreibung, Tod und Bevormundung, aber auch Kreativität und Emanzipation einer jungen Frau mithilfe von Sprache. Die Cousinen ist der erste ihrer Romane, der auf Deutsch erscheint. Venturini war eine in Kulturkreisen gut vernetzte argentinische Schriftstellerin und Übersetzerin, deren Erfolg spät eintrat, als sie 2007 im Alter von über achtzig Jahren den renommierten Premio Nueva Novela gewann. International wird ihr Werk erst jetzt entdeckt und für die stilistische Kreativität und zeitlosen Inhalte gelobt.
Yunas bevorzugtes Ausdrucksmittel, um ihre gewaltvollen Lebensumstände zu dokumentieren und zu verarbeiten, ist die bildende Kunst. Doch sie verspürt auch den Drang, sich in Worten auszudrücken, was ihr aufgrund von nicht genauer definierten kognitiven Beeinträchtigungen schwerfällt. Im Laufe des Romans übt sie sich stets darin, das Wirrwarr in ihrem Kopf zu Papier zu bringen. Ihr Sprachgebrauch ist dabei eigenartig, sie erzählt in langen Bandwurmsätzen und erklärt wiederholt, dass Zeichensetzung sie ermüde. Im Laufe des Romans lernt sie jedoch, mit Punkten und Kommas umzugehen, was den anfangs sperrigen Stil zunehmend leichter zu lesen macht. Außerdem drückt sie sich immer präziser aus und erweitert ihren Wortschatz mithilfe eines Wörterbuchs und ihrer Cousine Petra, einer kleinwüchsigen Prostituierten, die ihr die Welt erklärt.
Während der gesamten Erzählung bleibt das Gefühl, dass Yuna etwas Wichtiges auszudrücken versucht. Sie betont immer und immer wieder, wie schwer ihr der Umgang mit Sprache falle und wie anstrengend es für sie sei, ihre Geschichte zu erzählen, fährt aber trotzdem Kapitel für Kapitel fort und findet schlussendlich auch einen Weg aus der Armut und der häuslichen Gewalt. In gewisser Weise ist das Schreiben für sie ein Mittel, um sich ihre Erfahrungen von der Seele zu reden, aber auch, um sich von ihnen zu befreien, sie zu „löschen.“ Im letzten Kapitel heißt es:
Y pasó diciembre, enero, febrero, en marzo comencé las clases. Me sentía recién nacida, conseguí nivelarme, exponer, viajar.
Borré. Borré. Borré todo.
Una enorme melancolía invadió mis pinturas y las valorizó porque la gente al verse reflejada en la pena puede consolarse algo.
Und Dezember, Januar, Februar verstrichen, im März begann das Schuljahr. Ich fühlte mich wie neugeboren und konnte mein Gleichgewicht finden, ausstellen, reisen.
Ich löschte, löschte, löschte alles aus.
Eine enorme Melancholie drang in meine Bilder und hob ihren Wert denn die Menschen erkennen sich wieder im Leid und ziehen Trost daraus.
Die Jury-Begründung
Die Art-brut-Künstlerin Yuna schreibt sich mit Hilfe eines Wörterbuches aus ihrer, wie sie selbst sagt, „Minderbemitteltheit“ heraus und findet dabei zunehmend eine Sprache für die von Dumpfheit, Armut und Missbrauch geprägten Familienverhältnisse. Dieser harte, dabei aber niemals zynische Roman braucht die kongeniale Übersetzung, weil er die Aufklärung in der sprachlichen Entwicklung der Erzählerin bis in die Kommasetzung hinein konkret vorführt.
Die Übersetzung
Ein so stilistisch eigenartiger und besonderer Text ist in der Übersetzung natürlich eine Herausforderung, der Johanna Schwering sich auf beeindruckende Weise gestellt hat. Vor allem galt es, den Tonfall und die überaus präsente Stimme der Erzählerin ins Deutsche zu übertragen: Ihre Beschreibungen sind gnadenlos ehrlich, stellenweise grotesk und immer wieder (vermeintlich ungewollt) komisch. Gleichzeitig handelt es sich um ein Kind – die Erzählerin ist zu Beginn erst zwölf Jahre alt – und später eine Jugendliche mit beschränktem Wortschatz, die sich dennoch oft gehoben ausdrückt, weil sie Wörter aus dem Wörterbuch benutzt oder Erwachsene in ihrem Umfeld nachahmt.
Die Erzählerin spricht Lesende direkt an und schafft dadurch eine besondere Nähe. Es scheint ihr wichtig, dass die Lesenden ihrer Geschichte glauben. Sie entschuldigt sich regelmäßig für den Stil und die ausgelassenen Satzzeichen und erinnert immer wieder daran, dass sie versuche, ehrlich zu sein. Gewisse Aspekte betont sie vor allem anfangs beinahe zwanghaft, wie etwa Verwandtschaftsverhältnisse, die den Lesenden zu dem Zeitpunkt eigentlich bekannt sind. In den ersten Kapiteln wirkt der Text – vermutlich gewollt – daher etwas überkompliziert. Die Zeichensetzung scheint willkürlich und erst einige Kapitel später erklärt die Erzählerin (und wiederholt danach immer und immer wieder), was es damit auf sich hat: Die Satzzeichen bereiten ihr Kopfschmerzen und sie hatnoch nicht richtig gelernt, mit ihnen umzugehen.
Creo que el diccionario me benefica, creo que salvaré dificultades que antes creí insalvables y no cuento lo que guardo in mente y es que si algo del todo de mis minusvalías iré a vivir sola porque tanta gente cansa y yo veo en profundo tanto como hablo en superficial y lo que veo en profundo no me gusta y desde lejos me dolerá menos o no me importará porque cada minuto me alejo más y más de lo que llaman familia y cada minuto me tengo más en cuenta.
Ich glaube das Wörterbuch kommt mir zugute, ich glaube ich werde Schwierigkeiten überwinden die mir unüberwindbar schienen aber was ich im Sinn habe, sage ich nicht, nämlich dass ich allein leben werde wenn ich meine Minderbemittelung komplett überwinden kann denn all die Menschen ermüden mich und ich blicke so sehr in die Tiefe wie ich an der Oberfläche spreche und was ich in der Tiefe sehe gefällt mir nicht und aus der Ferne wird es mir weniger wehtun oder mich nicht mehr kümmern denn ich entferne mich mehr und mehr von dem was Familie genannt wird und achte immer mehr auf mich selbst.
Die fehlenden Kommas beeinträchtigen im Deutschen den Rhythmus, weil man die Sätze oft mehrmals lesen muss, um sie richtig zu betonen und einzuordnen. Eine grundsätzliche Schwierigkeit der Übersetzung ist, dass sich die Regeln der Kommasetzung in den beiden Sprachen stark unterscheiden. Während Kommas im Deutschen wesentlich für die Struktur eines Textes sind, sollen sie im Spanischen vor allem Sprechpausen signalisieren. Daher ist ein Text wie dieser in der Übersetzung etwas undankbar, denn durch fehlende Kommas können ungewollt Mehrdeutigkeiten entstehen und der Effekt ist ein anderer als im Spanischen. Die Übersetzerin hat diese Schwierigkeit aber gekonnt gemeistert und einen Text geschaffen, der im Deutschen gut lesbar ist und trotzdem die stilistischen Eigenheiten des Originals berücksichtigt. Irgendwann stören die fehlenden Satzzeichen nicht mehr, weil der Text nach etwas Gewöhnung auch ohne Kommas fließt. Je mehr Yuna ihre Stimme findet, desto rhythmischer und flüssiger wird die Übersetzung. Angesichts der Länge der Sätze und der kontrollierten Auslassung vieler Satzzeichen ist das eine beeindruckende Leistung.
Gerade bei einem Text wie diesem wäre ein erklärendes Nachwort der Übersetzerin aufschlussreich gewesen, denn die Erzählerin bezieht sich immer wieder auf den mündlichen Aspekt der Kommas im Spanischen. Außerdem wäre es interessant gewesen, welche bewussten übersetzerischen Entscheidungen nötig waren, um einen Text wie diesen überhaupt zu übertragen. So hätten alle Lesenden, auch jene, die sich nicht mit Übersetzungen beschäftigen, die Arbeit der Übersetzerin und ihre Leistung besser nachvollziehen und entsprechend würdigen können.
Dass die Erzählerin erst im Laufe des Buches lernt, richtig mit der Sprache umzugehen, zeigt sich auch in der Lexik. Während anfangs Wortschöpfungen wie „rummrummrunden“ an Kindersprache erinnern, benutzt sie zunehmend sehr komplexe Begriffe, die sie – wie sie an einer Stelle zugibt – selbst nicht immer ganz versteht oder direkt aus dem Wörterbuch nimmt. Diese Wörterbuchwörter, die sie im Text auch kennzeichnet, sieht sie als Weg, ihre „Minderbemittelung“ zu überwinden und unabhängig zu werden.
Estoy tratando de que al puntar o poner coma no me haga ruido por dentro la cabeza, el cerebro y creo que a fuerza de voluntad lo voy consiguiendo y si los ejercicios que hago leyendo un texto especialado en casos como el que padecemos en mayor o menor minusvalía casi todos en la familia, solucionaré estas molestias que deben entorpecer la lectura de lo que escribo y a usted lector a quien pido mil perdones y que si es creyente me perdonará porque dice el cura perdona para que dios perdone y todavía no manejo las mayúsculas a causa de escollos de voluntad todo es posible y usted se dará cuenta de que me explayo porque lo que ocurriría durante la reunión no se en qué va a terminar y en el fondo de mí, siento miedo.
Ich versuche bei Punkt und Komma kein Getöse innen im Kopf zu bekommen, im Hirn, und ich glaube, dass mein Wille stark genug ist das zu schaffen und wenn die Übungen Früchte tragen die ich mit einem Text mache der extra für Fälle wie die Minderbemittelung ist die uns in der Familie mehr oder weniger alle betrifft dann werde ich diese Störungen überwinden die bestimmt die Lektüre meines Geschriebenen erschweren und ich bitte euch liebe Leser vielfach um Vergebung und wenn ihr gläubig seid werdet ihr mir vergeben denn der Pastor sagt, vergib, damit Gott vergibt und die Stolpersteine der Punkte und Kommas sind noch herausfordernd für mich wie so viel anderes aber ich wiederhole, dass der Wille alles möglich macht und ihr werdet merken, dass ich abschweife denn ich weiß nicht, was bei diesem Treffen geschehen wird und tief in mir drin habe ich Angst.
Trotzdem drückt sich Yuna vor allem am Anfang des Buches, noch bevor sie Wörterbücher zu Hilfe nimmt, in der Übersetzung für ein Kind sehr gehoben aus. „Desde entonces“ wird mit „fortan“ übersetzt und die Erzählerin benutzt Phrasen wie „[sie] verschmähen auch nichts zu beißen wenn es etwas gibt.“ („y si hay algo masticable no le hacen asco“). Die spanische Phrase ist zwar auch eine idiomatische Wendung, aber „verschmähen“ wirkt vom Register höher. An solchen Stellen stellt sich die Frage, woher die junge Erzählerin zu dem Zeitpunkt solche Wörter kennt. Im Laufe der Erzählung stören diese Wortwahlen jedoch weniger, weil man schließlich Yunas sprachliche Entwicklung am Inhalt des Romans nachvollziehen kann und das Mädchen dabei begleitet, wie sie sich zu einer erwachsenen und unabhängigen Frau entwickelt.
Dem Buch und der Übersetzung ist jeder Erfolg zu wünschen. Aurora Venturini ist eine bemerkenswerte argentinische Autorin, die lange unentdeckt blieb, aber einzigartig schreibt und moderne Themen behandelt. Hoffentlich werden noch mehr ihrer vierzig Werke auf Deutsch erscheinen, gerne mit Nachwort von Johanna Schwering.
Lieblingsstelle
Manchmal machte ich einen Punkt oder ein Komma zum Atmen aber ich redete lieber ohne Punkt und Komma um verstanden zu werden und vermied Stilletümpel die meine Unfähigkeit zur mündlichen Kommunikation aufdecken würden denn wenn ich mir selbst zuhörte, verwirrten mich die Geräusche in meinem Kopf und das zischende Fließen der Wörter und dann verstummte ich mit offenem Mund und dachte, dass es dicke Wörter gibt und dünne, schwarze Wörter und weiße, beschränkte und besonnene Wörter und dann noch solche die im Wörterbuch schlafen und von niemandem benutzt werden.