Am 27. April werden die Preise der Leipziger Buchmesse vergeben, unter anderem in der Kategorie Übersetzung. Auf TraLaLit stellen wir die Nominierten vor. Alle Beiträge der Reihe sind hier zu finden.
Das Buch
„Rückkehr“ heißt das erste Gedicht in Grabtuch aus Schmetterlingen von Lina Atfah. Mit ihrem zweiten arabisch-deutschen Gedichtband meldet sich die syrische Dichterin kraftvoll zurück – auch wenn sich das Zurückkehren hier zunächst weniger an ein größeres Publikum als an ein (im arabischen Original männliches) „Du“ richtet. Zugleich weckt die Bildsprache Assoziationen an den Wunsch vieler vertriebener Syrer:innen, ihre Heimat wiederzusehen. Eingebettet zwischen ein Vorwort von Jan Wagner und Anmerkungen zur Nachdichtung finden sich 30 Gedichte – jeweils im arabischen Original oder in der deutschen Übertragung von Brigitte Oleschinski und Osman Yousufi, je nachdem, von welcher Seite das Buch aufgeschlagen wird.
Neben der inhaltlichen Stärke der Gedichte und ihrer Nachdichtungen überzeugt damit zugleich der formale Aufbau: Die arabischen Originale fristen hier kein Schattendasein in einem auf deutschsprachige Leser:innen ausgerichteten Buch. Vielmehr präsentiert die zweisprachige Ausgabe beide Sprachen auf Augenhöhe und wird damit zugleich der Realität unserer Einwanderungsgesellschaft gerecht. Dass es aber zu kurz greift, Atfahs Gedichte allein durch die Brille von Krieg, Flucht und Exil zu lesen, wird nicht erst in ihrem Corona-Gedicht „2020“ deutlich. Darin setzt sie der globalen Krise der Pandemie ein sehr persönliches Denkmal. Viele dürften sich wiederfinden, wenn sie das buchstäbliche Dahinvegetieren in Worte fasst: „Ich grüßte Kafkas Verwandlung / und rief ihm zu, ich sei inzwischen / eine Pflanze geworden.“
Konkrete arabische und deutsche Einflüsse vermischen sich an vielen Stellen auf produktive Weise und zeigen, dass schon die Gedichte selbst ein Stück weit Übersetzungsarbeit leisten: beispielsweise, wenn Atfah den vorislamischen Dichter Imru al-Qais, der für seine Gedichte ebenso berühmt ist wie für seine Eskapaden, vor den Berliner Techno-Club Berghain versetzt – zwischen Rauschzustände, Nostalgie und bürokratisches Behördendickicht. Ebensowenig dürfen in diesem Gedichtband Anspielungen auf die jüngere syrische Geschichte fehlen. Diese verweisen aber zugleich auf die dahinter liegenden Grundfragen wie Gerechtigkeit und verleihen den Gedichten eine Gültigkeit weit über die Grenzen einzelner Länder oder Sprachen hinaus.
In feinen Beobachtungen und manchmal geradezu schmerzhaft präzisen Bildern entfaltet Atfah ein eindrückliches Spektrum menschlicher Existenz. Zartheit und Verletzlichkeit haben in ihren Gedichten ebenso Raum wie ironische Brechungen bis hin zu einem teils beißenden Spott. Das kann getrost auch als lyrische Kampfansage an patriarchale Zusammenhänge verstanden werden. Insbesondere, wenn unter dem Titel „Entschuldigung“ das lyrische Ich in erfrischend selbstbewusstem Ton der Versöhnung mit einem – vorsichtig formuliert – unangenehmen Liebhaber oder Partner eine krachende Absage erteilt. Dabei steigert sich das Gedicht zu einer Schlusspointe, die man am liebsten allen prominenten bis weniger bekannten Me-Too-Tätern übers Bett hängen möchte.
Auch andere Gedichte treten in ein spannungsreiches Verhältnis zu ihrem Titel und nehmen zugleich in der Art ihrer Reihenfolge schlüssig Bezug aufeinander. Mit der 1989 geborenen Lina Atfah hat eine starke weibliche Stimme die deutsch-arabische Literaturszene betreten, die absolut auf der Höhe der Zeit feministische wie interkulturelle Themen verhandelt, ohne dass dabei die politische Ebene auf Kosten der lyrischen Qualität ginge. Die junge Dichterin lässt auf noch viel Großes hoffen.
Die Jury-Begründung
Die aus Syrien nach Deutschland geflüchtete Autorin Lina Atfah hat mit Brigitte Oleschinski und Osman Yousufi eine Nachdichterin und einen Übersetzer gefunden, die der Kraft, dem Reichtum und der Wärme ihrer Gedichte gerecht werden. Der Lyrikband Grabtuch aus Schmetterlingen öffnet das Tor zu ihrer besonderen Art der Wahrnehmung zwischen den Kulturen.
Die Übersetzung
Der Übersetzer Osman Yousufi und die Lyrikerin Brigitte Oleschinski, die für ihre Gedichte unter anderem den Peter-Huchel-Preis und den Erich-Fried-Preis erhielt und auf 30 Jahre Erfahrung im Nachdichten fremdsprachiger Lyrik zurückblicken kann, machen Atfahs Gedichte stilsicher für ein deutschsprachiges Publikum zugänglich. Ohne eigene Arabischkenntnisse war Oleschinski dabei auf die Wort-zu-Wort-Übersetzungen von Yousufi und intensive Gespräche mit ihm und Atfah selbst angewiesen. Dass der Prozess mit manchen Verzweiflungsmomenten einherging, schildert die deutsche Lyrikerin ebenfalls sehr lesenswert in ihrem Toledo-Journal Transmitterzwitter. Die Nachdichtungen selbst zeugen vor allem von der Fruchtbarkeit dieses Austauschs.
Denn die deutschsprachigen Versionen fangen die bildstarke Sprache der Originale treffend ein und nehmen sich an geeigneter Stelle die notwendige Freiheit, um ihren eigenen Tonfall und Rhythmus zu finden. So listet das Gedicht „Illusionen“ in knappen Umrissen Widersprüche von Selbstbild und Fremdbild auf. Im arabischen Original folgen die 14 Strophen von je zwei Versen einem festen Muster: „xx zwischen zwei Spiegeln / hält sich selbst für yy“ wäre mit jeweils wechselnden Gegensatzpaaren die wörtliche Übersetzung, wobei die Formelhaftigkeit erst im Schlussvers aufgebrochen wird. Doch wo im Arabischen gerade diese strukturelle Formelhaftigkeit in den Bann zieht und dem Gedicht sein Tempo verleiht, würde eine zu wörtliche Übersetzung im Deutschen sicher monoton und langwierig wirken. Auch der weiche Klang mit Binnenreim des arabischen beyna mir’ateyn – im Gegensatz zum zischenden Klang von „zwischen zwei Spiegeln“ – ruft regelrecht nach einer kreativeren Nachdichtung. Im Deutschen setzen Oleschinski und Yousufi mit dem ersten Vers „Zwischen zwei Spiegeln“ gleich einen Rahmen, der elliptisch in den folgenden Strophen nachhallt. So nimmt das Gedicht auch im Deutschen schnell Fahrt auf:
Das zentrale Motiv der Spiegel und der ironischen Brechung offensichtlicher Fehleinschätzungen bleibt erhalten. So harmlos und geradezu beiläufig die Gegensätze zunächst daherkommen, so viel steckt doch in ihnen. Nicht nur Fragen von Selbstüberschätzung und Selbstunterschätzung klingen hier an – Verse wie „Sieht sich der Stift / als ganze Armee“ verweisen auch auf die politische Dimension. In einem Verwirrspiel von gefährlichen, militärischen Dingen einerseits und harmlosen oder gar nützlichen Dingen andererseits werden zugleich gängige Muster von Täter-Opfer-Umkehr sichtbar gemacht und aufgebrochen. Dabei steigert sich das Gedicht, bis in der letzten Strophe das Opfer selbst alle Täuschungen durchbricht: Statt in seinem Leid isoliert zu sein, sieht es „viele andere / mit sich weinen“ und schafft so Verbundenheit und ein Potenzial, Gewaltkreisläufe zu überwinden. Durch die reduzierte Form kommt das Gedicht ohne Pathos aus:
Die Spiegel als Motiv ziehen sich noch durch weitere Gedichte, ebenso wie Gewalt in ihren verschiedenen Ausprägungen sprachlich unter die Lupe genommen wird: von der Gewalt im Krieg über Gewalt gegen Frauen und Kinder bis zu ganz beiläufigen Mikroaggressionen beim alltäglichen Einkaufen. Dabei zählt es zu den Stärken der Gedichte, dass die Verzweiflung nie Überhand gewinnt. Ironie ist hier nicht nur Stilmittel, um Widersprüche zu entlarven. Sie gerät mal zur Waffe, mal zur Überlebensstrategie.
Im Gedicht „Kakao“, das dem kurdisch-syrischen Dichter und Mitgründer einer Satire-Zeitung Lukman Derky gewidmet ist, wird Humor in seinen verschiedenen Schattierungen regelrecht durchdekliniert. Gleich am Anfang wird die Idee der romantischen Liebe durch „streunende Kater“ und „brünstige Eichhörnchen“ durchbrochen. Dann wird die nostalgische Bemerkung des lyrischen Ichs „Die Lyrik ist nicht mehr, was sie mal war, / aber den Leuten ist das schnurz“ von einem Gegenüber gekontert mit „Die Leute sind nicht mehr, was sie mal waren, / aber der Lyrik ist das schnurz“. So gerät der Witz im Laufe des Gedichts in immer existenziellere Gefilde, bis das lyrische Ich, das sich in der dritten Strophe als „Mann mit unheilbaren Wunden“ und einem unversöhnlichen Konflikt mit seinem Vater präsentiert, schließlich in einen „Witzkrampf“ verfällt. Diese äußerst gelungene Wortschöpfung verleiht dem zornigen Lachen des Originals (ḍaḥka ġāḍiba) Ausdruck und kommt ihm zugleich klanglich näher als eine wörtliche Übersetzung. Zwischen eigenen Verletzungen und Bösartigkeit „feixt“ das lyrische Ich gründlich über seine Mitmenschen, Soldaten und die Liebe. Das Lachen wird zum Instrument, um den eigenen Status zu sichern oder Frauen zu ködern, und begleitet das lyrische Ich schließlich durch Krieg und Flucht:
So groß die Themen auch erscheinen, so prägnant sind die Metaphern und Assoziationen, die Atfah in ihren Gedichten evoziert. Dass die arabische Lyrik Begriffe wie „Liebe“, „Wahrheit“ oder „Einsamkeit“ sehr viel besser verträgt als deutsche Gedichte, haben Oleschinski und Yousufi kunstfertig in ihre Nachdichtungen eingeflochten, ohne die Grundaussagen zu verfälschen. Der Mut zu Auslassung, Verkürzung und freierer Übertragung an geeigneter Stelle machen die Stärke der Nachdichtungen aus: Sie verleihen ihnen gleichermaßen Rhythmus und verhindern im Deutschen eine zu pathetische Wirkung. Wo sich die parallelen Strukturen im Arabischen kaum lyrisch ins Deutsche übertragen lassen, hat das Übersetzungsduo eine überzeugende eigene Struktur entworfen. Oleschinski und Yousufi haben Nachdichtungen geschaffen, die sprachmächtig die universellen Grundgedanken von Atfahs Gedichten für deutsche Leser:innen übertragen.
Lieblingsstelle
Unsere Feinde haben alles verzeichnet,
aber sie haben nicht bemerkt,
wie ihre toten Blätter sich überlebten,
sie haben das Lächeln übersehen
und das Mädchen,
das jetzt das Bild beschreibt
unter dem Baum, der sie
beschirmt.