Am 27. April werden die Preise der Leipziger Buchmesse vergeben, unter anderem in der Kategorie Übersetzung. Auf TraLaLit stellen wir die Nominierten vor. Alle Beiträge der Reihe sind hier zu finden.
Das Buch
Einen Preis sollte der Mare Verlag auf jeden Fall gewinnen: Den Preis für die schönste Buchgestaltung. Das Bett mit dem goldenen Bein, eine Familiensaga des renommierten lettischen Schriftstellers Zigmunds Skujiņš ist im Original 1984 und im vergangenen Jahr erstmals in deutscher Übersetzung erschienen, und diesen Umstand feiert der Mare Verlag mit einem opulenten Schmuckband – Schuber, Nachwort, Zeittafel und Aussprachehinweise eingeschlossen. Und auch der Leistung von Übersetzerin Nicole Nau wird Rechnung getragen: Ihr Name wird prominent auf dem Schuber und somit auf dem Cover genannt – wie es sich gehört.
Das Bett mit dem goldenen Bein ist der erfolgreichste Roman des 2022 verstorbenen Schriftstellers, erklärt Judith Leister in ihrem aufschlussreichen Nachwort. Er sei in viele europäische Sprachen übersetzt worden und war in der Sowjetunion mit 3,5 Millionen verkauften Exemplaren ein echter Kassenschlager. Skujiņš sei somit einer der meistgelesenen Schriftsteller Lettlands. Ein Glück also, dass Nicole Nau, die nicht nur Übersetzerin, sondern auch Professorin für Allgemeine Sprachwissenschaft und Lettische Philologie in Poznań (Posen) ist, diesen über fünfhundert Seiten starken Band ins Deutsche übertragen hat.
Der Roman umfasst rund hundert Jahre und somit fast das ganze 20. Jahrhundert und handelt von der Familie Vējagali, die in der fiktiven Stadt Zunte an der Ostseeküste lebt. Die Brüder Noass und Augusts verkörpern die beiden wichtigsten Standbeine der lettischen Bevölkerung: Noass ist Seefahrer und Augusts ist Landwirt. Während Noass ein draufgängerischer Kerl ist, dem jedes Abenteuer gelegen kommt und der nichts unversucht lässt, um an Reichtum zu gelangen, ist Augusts ein zurückhaltender Mensch mit gemäßigtem Charakter, der sich mit seiner körperlichen Arbeit zufrieden gibt und einen gemächlicheren Lebensweg wählt. Die beiden Männer sind die Grundpfeiler der komplizierten Personenkonstellation im Roman und geraten regelmäßig aneinander. Da beide heiraten und zahlreiche Sprösslinge in die Welt setzen, die wiederum zahlreiche Sprösslinge in die Welt setzen und auch noch das ein oder andere Findelkind aufnehmen, müssen die Leser:innen schon etwas genauer aufpassen, um nicht den Überblick über die Vējagali-Sippe zu verlieren.
Auch die Handlung ist nicht immer ganz einfach nachzuvollziehen, was daran liegt, wie Leister treffend formuliert, „dass den Vējagali in den rund 100 Jahren der Romanhandlung alles zustößt, was dem Volk der Letten insgesamt widerfuhr“. Weiß man über die lettische Geschichte nicht allzu viel, hilft eine Zeittafel im Anhang weiter. So erleben die Vējagali beide Weltkriege, ein Familienmitglied wird eine kommunistische Berühmtheit und Noass muss miterleben, wie die Dampfschifffahrt die Segelschiffe Schachmatt setzt. Ein Handlungsstrang zieht sich allerdings durch das ganze Buch – die Suche nach dem Gold, das Noass in seinem oder um sein Haus herum versteckt hat und das sich auch in den Titel des Romans eingeschlichen hat.
Die Jury-Begründung
Nicole Nau hat den im Original 1984 erschienenen Roman in ein lautmalerisch üppiges Deutsch übertragen. Beginnend im 19. Jahrhundert umspannt die lettische Saga fast das ganze 20. Jahrhundert und erzählt ebenso wirklichkeitsnah wie zauberhaft die „Legende einer Familie“. Dank Nicole Nau verfügt der schelmische Erzähler über einen überbordenden Wortschatz; mal derb, mal zart, stets aber ungeheuer fleischlich.
Die Übersetzung
Mit Das Bett mit dem goldenen Bein lag Nicole Nau ein äußerst dichter, sowohl in Bezug auf die Länge als auch auf den Inhalt umfangreicher Text vor, der die Lesenden kaum aufatmen lässt – es gibt nur sehr wenige, kurze Dialoge, die Kapitel sind lang, Absätze findet man recht selten. Nau hat sich in dieser Mammutaufgabe nicht verloren, sondern einen äußerst stimmigen, fast vierzig Jahre alten Text authentisch in die Gegenwart befördert.
Schon allein der Rechercheaufwand muss enorm gewesen sein, da die historischen Ereignisse und Begebenheiten nicht nur angeschnitten werden, sondern oftmals eine zentrale Rolle im Romangeschehen einnehmen. Nau ist inzwischen vermutlich Expertin in Sachen Nautik, Landwirtschaft und Kommunismus. Wer jetzt befürchtet, es wimmelte im Buch nur so von Fachtermini, kann glücklicherweise beruhigt werden. Skujiņš Familiensaga leuchtet in der deutschen Übersetzung nur so vor Eloquenz. Nau wartet mit ausgefallenen, aber sehr zielführenden Metaphern auf und erfreut die Lesenden mit kreativen Wortneuschöpfungen und wunderbaren Fantastereien. So treten beispielsweise auch Krankheiten in ausgefallener Weise auf: „Den kleinen Egons glühte das Fieber buchstäblich aus und verwandelte ihn in feine Asche“, heißt es dann, oder im übertragenen Sinne kraftvoll und teilweise alliterierend:
Guna verbreitete unaufhörlich in weiten Kreisen Bazillen des Argwohns und Keime der Kränkung, Viren der Verbitterung und Infusionen des Hasses.
Natürlich darf die Liebe in einer Familiensaga nicht fehlen. Vermutlich gilt sie nie wirklich als ausgelutschtes Sujet, jedenfalls ganz bestimmt nicht in Das Bett mit dem goldenen Bein. Da wirft zum Beispiel ein Anwärter von Noass‘ Tochter Leontīne „feurige Liebesschwüre ins Gefecht“ und einmal demoliert Noass eine Einrichtung, weil er „in dem Augenblick, in dem nach einem ernsten Gespräch unter Männern der Gehirnapparat irgendwie stehen geblieben war, mit solch folterndem Herzschmerz an Elizabete dachte, dass er jäh aufbrüllte wie ein sterbender Hirsch“ und dann eine Flasche in einen Spiegel schmettert. An Leidenschaft mangelt es Naus Übersetzung folglich nicht.
Die bandwurmartigen Satzseemonster in Zigmunds Skujiņš Roman haben Nicole Nau mit Sicherheit Kopfzerbrechen bereitet. Bis auf kaum nennenswerte Ausnahmen, die an einer Hand abzuzählen sind, ist es der Übersetzerin mit Bravour gelungen, die langen Sätze gut strukturiert und pointiert ins Deutsche zu überführen, was eine unglaubliche Puzzlearbeit gewesen sein muss. In der folgenden Szene erleben die Zunter Bewohner:innen zum ersten Mal das Wunder der Fotografie:
Das größte Wunder war, dass die komisch gekleideten Herren, deren Regenschirme der Wind derart in die Höhe trug, dass einer davon noch einen Monat nach ihrer Abreise in den Zweigen von Zuntes höchster Fichte hing, und die in Samtpelerinen und Seidenschals gehüllten kreischenden Damen, die sich hauptsächlich auf dem Rücken der Herren reitend fortbewegten, wobei sie sie delikat mit den Absätzen ihrer wunderbar feinen Schuhe antrieben, diese ganze bunte Gesellschaft also von Zeit zu Zeit an verschiedenen Orten in dekorativen Posen erstarrte, während ein eilfertiger Jüngling vor ihnen einen Holzkasten hinstellte und sich ein schwarzes Tuch über den Kopf warf.
Zugegeben, der Satz muss vielleicht zweimal gelesen werden, weil schon ein neues Bild aufgerufen wird, bevor das erste überhaupt zu Ende gezeichnet wurde, aber doch schafft Nau es, den Bogen zu schlagen und dieses erste Bild zu vollenden. Aber keine Sorge, Skujiņš und Nau können auch kurze knackige Sätze, wenn sich die Zunter Männer zum Beispiel mit dem Satz „Was Neues von Noass?“ begrüßen.
Die Figuren in Zigmunds Skujiņš Roman werden zwar mit allerlei schwierigen Situationen wie abbrennenden Häusern, Schiffsunglücken und Verwechslungsmorden konfrontiert, doch immer schwingt auch ein gewisser Humor im Text mit, den Nicole Nau perfekt einzufangen und in die passenden deutschen Wörter zu kleiden weiß. Sie schreckt nicht vor Worten wie „Tingeltangel“ oder „Dönskrams“ zurück, spricht von „Franzmännisch“ redenden Leuten, streut hin und wieder norddeutsche Varietäten ein und schafft es auf diese Weise, den vom Verlag zugeschriebenen Schalk zu reproduzieren. Wenn man Sätze wie „Und, na, sieh mal einer guck, wie man bei uns sagt, von da an konnten die Zunter wieder in Ruhe ihre Angehörigen neben den zuvor verstorbenen Familienmitgliedern beerdigen“ lesen darf, dann kann die Lektüre eigentlich nur Freude bereiten.
Und genau das macht Nicole Naus Übersetzung von Zigmunds Skujiņš Das Bett mit dem goldenen Bein. Sie bereitet Freude. Nau hat den unglaublich anspruchsvollen und dichten lettischen Text mit viel Sprachfreude und ‑gefühl ins Deutsche übertragen, ist dabei genügend Wagnisse eingegangen, ohne dass die Pferde mit ihr durchgegangen sind, und hat auf diese Weise rund hundert Jahre lettische Geschichte für die deutschsprachige Leserschaft genussvoll erfahrbar gemacht. Ich habe jetzt auf jeden Fall Lust, noch viel tiefer in die lettische Literatur einzutauchen, und bedanke mich dafür bei Nicole Nau.
Lieblingsstelle
Das wurde zur Tradition. Jedes Mal, wenn Gäste ins Stadthaus kamen, saß man erst bei Tisch, aß, trank, sang, manchmal tanzte man auch, aber zum Abschluss gingen alle gemeinsam in den Garten und suchten nach Noass‘ vergrabenem Schatz.
Anm. d. Red.: Dieser Beitrag wurde ohne Kenntnis der Originalsprache verfasst. Mehr zum Thema hier.