Der Keim liegt im Ton

Tarjei Vesaas ist auch im deutschsprachigen Gebiet längst kein Unbekannter mehr. „Der Keim“ ist eines seiner Frühwerke und ein dichter und stark symbolischer Text, den Hinrich Schmidt-Henkel ins Deutsche übertragen hat. Von

Tarjei Vesaas Roman Der Keim, erschienen bei Guggolz. Hintergrundbild: Louis Hansel via Unsplash

In den letz­ten Jah­ren erlebt das Werk von Tar­jei Vesaas (1897–1970) eine neue Blü­te­zeit im deutsch­spra­chi­gen Raum: Neben den groß­ar­ti­gen Roma­nen Das Eis-Schloss (1963) und Die Vögel (1957), die bereits 2019 und 2020 bei Gug­golz erschie­nen sind, ist seit 2022 auch eine Kas­set­te mit drei edel aus­ge­führ­ten Büchern im Ver­lag Klein­hein­rich erhält­lich (der spä­te Roman Boot am Abend, Gedich­te und Erzäh­lun­gen). Seit März die­ses Jah­res ist nun auch das bril­lan­te Buch Der Keim erst­ma­lig in Gän­ze auf Deutsch ver­füg­bar, eben­so wie die zuvor genann­ten Aus­ga­ben wur­de es von Hin­rich Schmidt-Hen­kel übersetzt.

Auf Nor­we­gisch wur­de Kimen bereits 1940 ver­öf­fent­licht, im sel­ben Jahr, in dem Nor­we­gen von Nazi­deutsch­land besetzt wur­de. Damit ist der Roman um eini­ges frü­her erschie­nen als die bereits erwähn­ten Bücher. 1966 erschien Kimen unter dem Titel Nacht­wa­che in deut­scher Über­set­zung, aller­dings in gekürz­ter Form (Suhr­kamp, über­setzt von Eli­sa­beth Stahlschmidt).

Obwohl der Text zu Beginn in sei­ner über­sichts­ar­ti­gen Frag­men­tie­rung sanft dahin­zu­plät­schern scheint, wer­den in einem enor­men Tem­po treff­si­che­re Cha­rak­ter­stu­di­en prä­sen­tiert. Mit­tels hin­ein- und her­aus­zoo­men­der Bewe­gun­gen wird eine gan­ze Insel­ge­mein­schaft beschrie­ben. Die Men­schen arbei­ten hart in Land- und Vieh­wirt­schaft – betont wird dabei, dass auch in den Häu­sern, also im Haus­halt und in der Kin­der­er­zie­hung, har­te Arbeit geleis­tet wird, die häu­fig unsicht­bar bleibt.

Ein Frem­der betritt die Insel, Andre­as Vest, er bringt etwas Bedroh­li­ches, Frem­des mit, wird aber zugleich als Rast­lo­ser und Suchen­der vor­ge­stellt, der auf der Flucht vor einem gewalt­vol­len Ereig­nis auf der Suche nach Schön­heit und nach Erlö­sung ist, die er auf der Insel zu fin­den hofft. Nicht nur Ves­ts Ankunft bringt einen Schat­ten mit sich – schon im ers­ten Kapi­tel, in der Beschrei­bung der Sauk­oben des größ­ten Hofes der Insel, schwingt etwas Unheil­vol­les mit. Die namens­ge­ben­de Fami­lie auf Hof Li besteht aus den Eltern Karl und Mari und ihren Kin­dern Rolv und Inga.

Ein Sau­schnei­der, der die frisch gebo­re­nen Eber­fer­kel kas­trie­ren soll, bringt mit sei­nem Han­deln Gro­ßes ins Rol­len: Zwei der Sau­en, die beim Hören der ver­zwei­fel­ten Fer­kel­schreie voll­kom­men außer sich gera­ten, atta­ckie­ren ein­an­der, zer­le­gen ihre Koben, wüten über den Hof und ver­en­den nach bru­ta­lem Kampf auf dem Grund eines alten Brun­nens. Ein Abgrund tut sich auf, eine Spi­ra­le immer grö­ßer wer­den­der Gewalt: Eine Jung­sau, die gera­de gefer­kelt hat, hört die Schreie der wild­ge­wor­de­nen Bes­ti­en in ihrem Kampf auf Leben und Tod, was sie dazu ver­an­lasst, in blin­der Rase­rei eini­ge ihrer soeben gebo­re­nen Jung­tie­re aufzufressen.

Andre­as Vest wird Zeu­ge die­ses Vor­falls. In ihm zer­bricht etwas: „Äußer­lich sah alles aus wie zuvor, doch in der Tie­fe dar­un­ter geschah Nicht­wie­der­gut­zu­ma­chen­des.“ (S. 54) Schließ­lich bringt er die 17-jäh­ri­ge Inga um, wor­auf­hin sich die Insel­be­völ­ke­rung zusam­men­rot­tet und ihn, ange­führt von ihrem Bru­der Rolv, erschlägt. Nach der Tat kom­men die Men­schen wie­der zu sich, waren in ihrer Wut wie ver­wan­delt, eben­so wie die Sau­en, eben­so wie Andre­as Vest. Sie neh­men die Schuld als Kol­lek­tiv auf sich, ver­brin­gen die Nacht gemein­sam in der gro­ßen roten Scheu­ne von Hof Li und ver­las­sen sie am Mor­gen, wenn nicht geläu­tert, so in einem Zustand, der ihnen ein wei­te­res Zusam­men­le­ben ermöglicht.

Vesaas wirft gro­ße Fra­gen auf: Wozu ist der Mensch fähig, wozu ist das Kol­lek­tiv fähig? Bleibt die Schuld­fra­ge, wenn ein Tier, ein Mensch oder eine Grup­pe nicht mehr Herr der Sin­ne ist? Dass Vesaas die Aus­he­be­lung der gewohn­ten Ord­nung zunächst im Sauk­oben statt­fin­den lässt, ist ein klu­ger Schach­zug. Denn was ist der Keim? Der Sau­schnei­der, das Boot, mit dem Andre­as Vest auf die Insel gebracht wird, der Kampf zwi­schen den zwei Sau­en, der Bau der gro­ßen Scheu­ne, die zuvor nie eine wah­re Bestim­mung gefun­den hatte?

Vesaas schrieb auf Nyn­orsk. Was kann das für die Über­set­zung bedeu­ten? Zeit für einen Ein­schub, um die Aus­gangs­la­ge etwas deut­li­cher zu machen: Im TraLaLit-Bei­trag Gro­ße klei­ne Spra­che Nor­we­gisch wird der Über­set­ze­rin Gabrie­le Haefs die Fra­ge gestellt, ob es aus über­set­ze­ri­scher Sicht einen Unter­schied zwi­schen den bei­den Nor­we­gisch-Vari­an­ten Nyn­orsk („Neu­n­or­we­gisch“) und Bok­mål („Buch­spra­che“) gibt. Haefs ant­wor­tet darauf:

„Eigent­lich nicht. Nyn­orsk und Bok­mål sind zwei Schrift­spra­chen­va­ri­an­ten, die in Nor­we­gen gleich­ge­stellt sind, wobei der über­wie­gen­de Teil der Lite­ra­tur auf Bok­mål geschrie­ben wird. Wenn man von außen kommt und die bei­den Vari­an­ten beim Stu­di­um gelernt hat, sieht man vor allem die Ähn­lich­kei­ten. Es gibt kei­ne Unter­schie­de in der Gram­ma­tik, das Voka­bu­lar hat fast immer die­sel­be Ety­mo­lo­gie. Die Unter­schie­de zwi­schen Kölsch und Münch­ne­risch sind ehr­lich gesagt viel größer.“

Damit kann man uneins sein. Nyn­orsk wird im All­ge­mei­nen eine grö­ße­re Urkraft zuge­schrie­ben, eine Urkraft, die sich im Klang­li­chen äußert, in einer stär­ke­ren Melo­dik. Auf Nyn­orsk zu schrei­ben war und ist für vie­le Schriftsteller:innen ein State­ment. Der inter­na­tio­na­le Shoo­ting­star Nor­we­gens Jon Fos­se schreibt nicht nur auf Nyn­orsk, es ist ihm auch ein Anlie­gen, die Leser:innen dar­auf hin­zu­wei­sen, dass er auf Nyn­orsk schreibt: Er publi­zier­te unter ande­rem einen Essay mit dem Titel „Min kjæ­re nyn­orsk“ („Mein lie­bes Nyn­orsk“). Die Ent­schei­dung, auf Nyn­orsk zu schrei­ben, ist iden­ti­täts­stif­tend (eine äußerst wich­ti­ge und häu­fig dis­ku­tier­te Ange­le­gen­heit im jun­gen Staa­te Norwegen).

Nyn­orsk ist eine Spra­che, die anders als Bok­mål anhand der tat­säch­lich gespro­che­nen Dia­lek­te in den teils weit von­ein­an­der ent­fern­ten nor­we­gi­schen Gemein­den kon­stru­iert wur­de. Die­ser his­to­ri­sche Fokus auf die Abbil­dung der gespro­che­nen Spra­che hat zur Fol­ge, dass lite­ra­ri­sche Tex­te, die auf Nyn­orsk geschrie­ben sind, häu­fig einen simp­le­ren Stil auf­wei­sen (weni­ger Sub­stan­ti­ve, kaum Pas­siv­for­men, ver­ein­fach­te Syn­tax) und eine grö­ße­re Ver­an­la­gung zu Abwei­chung und Impro­vi­sa­ti­on schon in den Sprach­mög­lich­kei­ten ver­an­kert ist. In der auf Bok­mål geschrie­be­nen Lite­ra­tur lässt sich inzwi­schen ein ähn­li­cher Trend fest­stel­len, aber 1940, im Erschei­nungs­jahr von Kimen, war die­ser Unter­schied noch deut­li­cher spürbar.

Vesaas schrieb also auf Nyn­orsk und gilt als Sprach­er­neue­rer, er wähl­te dia­lekt­na­he For­men und war dadurch ein Vor­bild für ande­re Nyn­orsk-Spre­chen­de und ‑Schrei­ben­de. Für Vesaas stell­te Der Keim einen Umbruch in sei­nem Werk dar – das Jahr 1940 bezeich­ne­te er als Zei­ten- und Denk­wan­del, der logi­scher­wei­se auch eine neue Art des Schrei­bens mit sich brach­te, unter ande­rem eine expe­ri­men­tel­le Aus­ein­an­der­set­zung mit dem Romanbegriff.

Sei­ne Pro­sa ist ver­knappt und stark sym­bo­lisch, immer wie­der wird nach­drück­lich davon gespro­chen, dass es vor allem auch dar­um gehe, was nicht gesagt wird, um das, was in der Ver­dich­tung zwar mit­schwingt, aber nicht expli­zit aus­ge­spro­chen wird. All das gilt auch für Der Keim, und allein die­ser Punkt stellt schon eine enor­me Her­aus­for­de­rung im Über­set­zungs­pro­zess dar, mag er auch in vie­len lite­ra­ri­schen Tex­ten zum Tra­gen kom­men – eine all­ge­mein­gül­ti­ge Stra­te­gie lässt sich dafür nicht fin­den. Schritt 1: Die Stil­le fin­den, die Löcher im Text, die bei Vesaas so meis­ter­haft ver­bor­gen sind. Schritt 2: Dahin­ter­kom­men, was da im nicht Aus­ge­spro­che­nen gesagt wird, die Löcher im Geis­te dich­ten, um sie in Schritt 3 eben­so meis­ter­haft wie­der im deut­schen Text ein­zu­gra­ben und ihre Spu­ren zu verwischen.

Dazu kommt die Para­ta­xe, der damit ein­her­ge­hen­de nüch­ter­ne, fast kar­ge, und zugleich trei­ben­de Rhyth­mus. Vesaas‘ Sub­ti­li­tät in dem, was er eben doch sagt, aber wofür er lei­se Töne fin­det, die zuerst gehört und loka­li­siert wer­den müs­sen. Die Abwei­chun­gen von der Phra­se, sein schöp­fe­ri­sches Talent. Die Selbst­ver­ständ­lich­keit, mit der merk­wür­dig anmu­ten­de Gege­ben­hei­ten und Zusam­men­hän­ge beschrie­ben wer­den. Die The­ma­tik, die höchs­te exis­ten­zi­el­le Not, die ver­han­delt wird, die gro­ßen Fra­gen nach Schuld und Bekennt­nis, Süh­ne und Erlö­sung, die der Spra­che mit einer sol­chen Dring­lich­keit ein­ge­schrie­ben sind, dass die dra­ma­ti­sche Wir­kung der­ma­ßen in ihr ver­kno­tet und ver­keilt ist, dass die Kaprio­len des Tex­tes die Leser:innen mit einer beson­de­ren Wucht tref­fen. Und zwar, weil der Text nie exal­tiert ist, sach­lich zu sein scheint, kei­ner­lei Distanz zulässt.

Der Keim liegt also im Ton. Sowohl im Nicht­ge­sag­ten als auch im Gesag­ten, in der ohren­be­täu­ben­den Stil­le, die her­bei­ge­schrie­ben wird, als auch in den schril­len Lau­ten, die ein­zel­ne Punk­te auf der Abwärts­spi­ra­le mar­kie­ren: die Schreie der Fer­kel, die Bekannt­schaft mit dem Sau­schnei­der machen; die Schreie der kämp­fen­den Sau­en; die Schreie der Jung­sau, die ihre Fer­kel auf­frisst; der Schrei Ingas, als sie ermor­det wird. Sie alle haben einen enor­men Effekt auf die Umste­hen­den und lei­ten einen nächs­ten Schritt ein. Erst nach dem kol­lek­ti­ven Mord an Andre­as Vest tritt Stil­le ein. Inter­es­sant ist, dass sich Ingas Schrei in der deut­schen Über­set­zung noch stär­ker mani­fes­tiert als im Nor­we­gi­schen, als etwas tat­säch­lich Greifbares:

Kva var det­ta! Like etter at mælet hen­nar Kari Nes var stil­na, så kom det som ein stor, mørk skjerm ned or lufta. Som ein kjem­pes­tor, svart, utspend og skøyr blom. Slo mot bak­ken og var bor­te. Det var eit rop.

Alle folk som var i nær­lei­ken her, såg seg kring, for­t­um­la, og lyd­de. Fór opp og stod. Val­ne, lydan­de etter flei­re ljod. Men det kom ber­re det­ta eine, store ropet.

Eit skjeran­de rop som fal­da seg ut og fall ned og brast ikring dei som ei mørk hin­ne. Som eit sekund med sku­ming midt på dagen.

Was war das? Kaum war Kari Nes’ Stim­me ver­klun­gen, rausch­te ein gro­ßer, dunk­ler Schirm aus der Luft her­ab. Wie eine gewal­ti­ge schwar­ze, aus­ge­spann­te und ver­letz­li­che Blü­te. Traf am Boden auf und war weg. Ein Schrei.

Alle, die in der Nähe waren, schau­ten sich um und lausch­ten bestürzt. Fuh­ren auf und stan­den da. Betäubt, sie lausch­ten nach wei­te­ren Tönen. Aber es gab nur den ein­zi­gen gro­ßen Schrei.

Einen schnei­den­den Schrei, der sich auf­fal­te­te und her­ab­stürz­te und mit­ten zwi­schen ihnen wie eine dunk­le Haut zer­platz­te. Eine sekun­den­lan­ge Däm­me­rung mit­ten am Tage.

Bis zum letz­ten Satz des ers­ten Absat­zes („Det var eit rop.“ – wört­lich: „Es war ein Schrei.“) wird im nor­we­gi­schen Ori­gi­nal nicht benannt, was da über die Men­schen her­ein­bricht. Etwas kommt über sie, es fällt aus der Luft wie die Vor­bo­ten der Apo­ka­lyp­se, „som ein stor, mørk skjerm”, also wört­lich „wie ein gro­ßer dunk­ler Schirm“. Dadurch, dass die Ver­gleichs­par­ti­kel im Deut­schen weg­fällt, bezieht sich in der Über­set­zung auch der nächs­te Satz auf den Schirm: „Wie eine […] Blü­te.“ Der Schirm ist wie eine gewal­ti­ge schwar­ze, aus­ge­spann­te und ver­letz­li­che Blü­te (war­um nicht: „auf­ge­spannt“?). Der Schirm trifft am Boden auf und ist weg. Durch die schnel­le Ver­ding­li­chung des Ungreif­ba­ren wird die unmit­tel­ba­re Bedro­hung kon­kre­ti­siert, wo sie im Nor­we­gi­schen unbe­nenn­bar und nur ver­meint­lich sicht­bar bleibt. Glück­li­cher­wei­se bleibt die Essenz die­ser unge­wöhn­li­chen Stel­le erhal­ten: Dass es sich bei der Unge­heu­er­lich­keit, der sich die Inselbewohner:innen aus­ge­setzt sehen, um ein Geräusch han­delt, etwas Hör­ba­res und eben nicht Sicht­ba­res, wird erst am Ende des ers­ten Sat­zes deutlich.

Hin­rich Schmidt-Hen­kel ver­steht es, den Keim im All­ge­mei­nen und immer wie­der auch im Beson­de­ren sehr gut zu tref­fen. Eben­so wie das Ori­gi­nal wirkt die Über­set­zung zeit­los und reißt die Leser:innen mit in den Vesaas‘schen Stru­del der ver­meint­li­chen Unauf­ge­regt­heit, inmit­ten des­sen Gro­ßes ver­han­delt wird. Beson­ders deut­lich wird das an Stel­len, an denen das Tem­po mit­hil­fe gut ein­ge­setz­ter Rhyth­mik bis ans Äußers­te ange­zo­gen wird, bei­spiels­wei­se als die bei­den Sau­en in ihren Wahn­sinn ver­fal­len und ein­an­der angreifen:

Trøkk – og så går det i avgrun­nen. Til dei døm­de og for­tap­te. Inne i det mør­ke stu­pet. Eit glimt der. Så slo det ut. Tent av eit kvin.

Rums – und dann geht es in den Abgrund. Zu den Ver­ur­teil­ten und Ver­lo­re­nen. In die Dun­kel­heit. Ein kur­zer Blick hin­über. Schon schlug da etwas an. Von einem Quie­ken angestachelt.

Die lako­nisch-ellip­ti­sche Para­ta­xe, die dafür sorgt, dass der Gebrauch gro­ßer Wor­te den Text nicht ins Schwüls­ti­ge abdrif­ten lässt, wird hier ele­gant ins Deut­sche hin­über­ge­ho­ben. Trotz der in den meis­ten Fäl­len län­ge­ren Sil­ben­struk­tur ver­liert die Über­set­zung weder an Fahrt noch Tiefe.

Wenn es beim Lesen doch ein­mal zu Momen­ten des Stut­zens kommt, liegt das in den meis­ten Fäl­len an kleins­ten Unsau­ber­kei­ten, die den Lese­fluss kaum beein­träch­ti­gen. Über Karl Li und sei­nen Wer­de­gang wird gesagt:

Han gjor­de tre ting om lag sam­stun­des då etter heim­ko­ma frå bøke­ne: Han gif­te seg med ei jen­te frå øya, han la eit stort engs­tykke om til frukt­ha­ge, og han byg­de ein låve som var mykje stør­re enn det syn­test bruk for på Li.

Als er von den Büchern nach Hau­se kam, tat er drei Din­ge mehr oder weni­ger zur sel­ben Zeit: ein Mäd­chen von der Insel hei­ra­ten, ein gro­ßes Wie­sen­stück zu einem Obst­gar­ten umwan­deln, und er bau­te eine Scheu­ne, viel grö­ßer, als man sie auf die­sem Hof benö­tigt hätte.

In der Über­set­zung wird ein schö­ner Par­al­le­lis­mus ver­schenkt: Im Nor­we­gi­schen wird drei Mal eine Prä­ter­it­um­form ver­wen­det (hei­ra­te­te, wan­del­te um, bau­te), im Deut­schen hat sich Hin­rich Schmidt-Hen­kel dazu ent­schie­den, zwei Mal von einer Infi­ni­tiv­form Gebrauch zu machen, beim drit­ten Mal greift er jedoch wie­der auf das Prä­ter­itum zurück. Eine kon­se­quen­te­re Her­an­ge­hens­wei­se hät­te die­sem Satz gut getan.

Die beschrie­be­ne Sub­ti­li­tät in Der Keim, die Art und Wei­se, wor­auf Vesaas gro­ße und schö­ne Beob­ach­tun­gen in schein­ba­ren Neben­säch­lich­kei­ten ver­packt, wird in der Über­set­zung nicht an allen Stel­len übernommen:

Arbei­ds­hen­de­ne dei­ra låg store og døde på kvar side av dei.

Arbeits­hän­de hat­ten sie, die lagen groß und tot zu ihren Seiten.

Der erklä­ren­de Cha­rak­ter von „Arbeits­hän­de hat­ten sie“ im Ver­gleich mit der wört­li­chen Über­set­zung „Ihre Arbeits­hän­de“ nimmt dem Bild die Selbst­ver­ständ­lich­keit. Der Satz wirkt weni­ger leicht­fü­ßig, was auch an der Neben­satz­kon­struk­ti­on liegt. Ins­ge­samt wäre an eini­gen Stel­len ein wenig mehr Mut zur Bei­be­hal­tung von Struk­tu­ren aus dem Aus­gangs­text wün­schens­wert gewe­sen. Ein wei­te­res Beispiel:

Man­nen og kona og kurs­me­den berga seg i lan­ge sprang inn sto­ge­døra. Jen­ta smatt atten­de til gri­se­hu­set og vak­ta si.

Der Mann und sei­ne Frau und der Sau­schnei­der ret­ten sich mit lan­gen Sät­zen durch die Tür ins Haus. Das Mäd­chen schlüpf­te in den Schwei­ne­stall, wo sie zuvor Wache gehal­ten hatte.

Im Nor­we­gi­schen wird an die­ser Stel­le durch­ge­hend in der Ver­gan­gen­heit erzählt, was auch im Deut­schen einen ruhi­ge­ren Duk­tus schaf­fen wür­de. Der Effekt grö­ße­rer Unmit­tel­bar­keit und Dyna­mik, der häu­fig guten Grund für eine Ver­wen­dung des Prä­sens in Kom­bi­na­ti­on mit einem län­ge­ren Abschnitt in einer Ver­gan­gen­heits­form bie­tet, ist hier nicht so groß, dass er den Ver­lust an Kon­gru­enz aus­glei­chen könnte.

Teil­wei­se könn­te eine prä­zi­se­re Ein­schät­zung der Momen­te, in denen der Aus­gangs­text im Deut­schen pein­lichst genau nach­ge­baut wer­den soll­te, sogar Miss­ver­ständ­nis­sen vor­beu­gen. Wäh­rend der Rase­rei der bei­den Sau­en wird zunächst der Sau­schnei­der mit der Bezeich­nung „fremd“ bedacht, spä­ter Andre­as Vest. Auf den ers­ten Blick wirkt das ein wenig unge­schickt von Sei­ten des Autors, aber dass die bei­den auf die­se sub­ti­le Wei­se mit­ein­an­der ver­bun­den wer­den, ist von gro­ßer Bedeu­tung: Sie bei­de wer­den als von außen Ein­fluss neh­mend mar­kiert. Zunächst ist die Rede vom Sauschneider:

Jens og Ber­git og den framan­de fann seg staurar og sprang ut på tun­et på ny.

Jens und Ber­git und der frem­de Mann grif­fen Stan­gen zum Heu­auf­set­zen und eil­ten hinaus.

Im Aus­gangs­text wird er in wört­li­cher Über­set­zung als „der Frem­de“ bezeich­net, er kommt nicht von der Insel, ist aber bereits mehr­mals zu Gast gewe­sen und ist unter der Insel­be­völ­ke­rung bekannt. Anders ver­hält es sich mit Andre­as Vest:

Dei såg i far­ten at det stod ein framand mann i den and­re døra.

Im Hin­ein­stür­zen sahen sie, dass in der ande­ren Tür ein frem­der Mann stand.

Und spä­ter:

Stod det ikkje ein framand mann i døra der i stad?

Hat­te da nicht eben ein Frem­der in der Tür gestanden?

Der Zusam­men­fall der bei­den Bezeich­nun­gen ist ein Vor­bo­te des­sen, was gesche­hen wird. Andre­as Vest wird eben­so wie der Sau­schnei­der einen Ton evo­zie­ren, einen wei­te­ren Keim, der eine Bewe­gung gen Abgrund aus­lö­sen wird. Wich­tig dabei ist aller­dings, dass die bei­den Bezeich­nun­gen, die ein­an­der so sehr ähneln, deut­lich von­ein­an­der unter­schie­den wer­den kön­nen. Im Nor­we­gi­schen ist Andre­as Vest in wört­li­cher Über­set­zung bei­de Male „ein frem­der Mann“. Im Deut­schen wird von die­ser kon­se­quen­ten Tren­nung abge­wi­chen, was für Ver­wechs­lungs­ge­fahr sorgt.

In ande­ren Fäl­len hät­te eine Abwei­chung von der nor­we­gi­schen Syn­tax für Ver­deut­li­chung gesorgt, bei­spiels­wei­se in die­sem Satz, der Teil der Ein­füh­rung Karl Lis und des Hofes ist:

Mari Li, kona hans, og han sjølv og dei to bor­na dreiv den­ne hagen.

Mari Li, sei­ne Frau, er selbst und ihre bei­den Kin­der bestell­ten die­sen Garten.

Hier wird an der Struk­tur des Aus­gangs­tex­tes fest­ge­hal­ten, dabei wäre die ein­fa­che­re Lösung eine leich­te Umstel­lung gewe­sen: „Sei­ne Frau Mari Li, er selbst und ihre bei­den Kin­der bestell­ten die­sen Gar­ten.“ hät­te auf den ers­ten Blick deut­lich gemacht, dass es sich bei Mari Li und Karl Lis Frau um ein und die­sel­be Per­son handelt.

Es besteht kein Zwei­fel dar­über, dass Hin­rich Schmidt-Hen­kel eben­so wie die ande­ren Vesaas-Bän­de auch Der Keim bra­vou­rös über­setzt hat. An eini­gen Stel­len hät­te ein län­ge­res Ver­wei­len zu genaue­ren Über­set­zungs­lö­sun­gen geführt, es geht hier aber – der Deut­lich­keit hal­ber – um Infi­ni­te­si­ma­les. Dass die­se Beob­ach­tun­gen über­haupt Erwäh­nung fin­den, zeugt davon, dass die Über­set­zung in ihrer Gesamt­heit äußerst gelun­gen ist. Kleinst­stol­pe­rer wie die hier beschrie­be­nen wer­den den meis­ten Leser:innen kei­nes­wegs ein Dorn im Auge sein. Trotz­dem ist es gut, auf Momen­te hin­zu­wei­sen, in denen Fein­hei­ten ver­lo­ren gehen könn­ten und das Zwei­feln im Über­set­zungs­pro­zess mög­li­cher­wei­se nicht genug zum Tra­gen gekom­men ist. Das Inne­hal­ten an mög­lichst vie­len Stel­len, um der Stil­le nach­zu­spü­ren und dem, was sich ver­bor­gen hält. Die genom­me­ne Zeit spielt selbst­re­dend den weit­aus größ­ten Fak­tor, und wie wir alle wis­sen, ist Zeit lei­der ein Luxus­gut im Über­set­zungs­be­trieb. Aus Wal­ter Ben­ja­mins Ein­bahn­stra­ße: „In die­sen Tagen darf sich nie­mand auf das ver­stei­fen, was er ‚kann‘. In der Impro­vi­sa­ti­on liegt die Stärke.“



Tar­jei Vesaas | Hin­rich Schmidt-Hen­kel

Der Keim


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