
In den letzten Jahren erlebt das Werk von Tarjei Vesaas (1897–1970) eine neue Blütezeit im deutschsprachigen Raum: Neben den großartigen Romanen Das Eis-Schloss (1963) und Die Vögel (1957), die bereits 2019 und 2020 bei Guggolz erschienen sind, ist seit 2022 auch eine Kassette mit drei edel ausgeführten Büchern im Verlag Kleinheinrich erhältlich (der späte Roman Boot am Abend, Gedichte und Erzählungen). Seit März dieses Jahres ist nun auch das brillante Buch Der Keim erstmalig in Gänze auf Deutsch verfügbar, ebenso wie die zuvor genannten Ausgaben wurde es von Hinrich Schmidt-Henkel übersetzt.
Auf Norwegisch wurde Kimen bereits 1940 veröffentlicht, im selben Jahr, in dem Norwegen von Nazideutschland besetzt wurde. Damit ist der Roman um einiges früher erschienen als die bereits erwähnten Bücher. 1966 erschien Kimen unter dem Titel Nachtwache in deutscher Übersetzung, allerdings in gekürzter Form (Suhrkamp, übersetzt von Elisabeth Stahlschmidt).
Obwohl der Text zu Beginn in seiner übersichtsartigen Fragmentierung sanft dahinzuplätschern scheint, werden in einem enormen Tempo treffsichere Charakterstudien präsentiert. Mittels hinein- und herauszoomender Bewegungen wird eine ganze Inselgemeinschaft beschrieben. Die Menschen arbeiten hart in Land- und Viehwirtschaft – betont wird dabei, dass auch in den Häusern, also im Haushalt und in der Kindererziehung, harte Arbeit geleistet wird, die häufig unsichtbar bleibt.
Ein Fremder betritt die Insel, Andreas Vest, er bringt etwas Bedrohliches, Fremdes mit, wird aber zugleich als Rastloser und Suchender vorgestellt, der auf der Flucht vor einem gewaltvollen Ereignis auf der Suche nach Schönheit und nach Erlösung ist, die er auf der Insel zu finden hofft. Nicht nur Vests Ankunft bringt einen Schatten mit sich – schon im ersten Kapitel, in der Beschreibung der Saukoben des größten Hofes der Insel, schwingt etwas Unheilvolles mit. Die namensgebende Familie auf Hof Li besteht aus den Eltern Karl und Mari und ihren Kindern Rolv und Inga.
Ein Sauschneider, der die frisch geborenen Eberferkel kastrieren soll, bringt mit seinem Handeln Großes ins Rollen: Zwei der Sauen, die beim Hören der verzweifelten Ferkelschreie vollkommen außer sich geraten, attackieren einander, zerlegen ihre Koben, wüten über den Hof und verenden nach brutalem Kampf auf dem Grund eines alten Brunnens. Ein Abgrund tut sich auf, eine Spirale immer größer werdender Gewalt: Eine Jungsau, die gerade geferkelt hat, hört die Schreie der wildgewordenen Bestien in ihrem Kampf auf Leben und Tod, was sie dazu veranlasst, in blinder Raserei einige ihrer soeben geborenen Jungtiere aufzufressen.
Andreas Vest wird Zeuge dieses Vorfalls. In ihm zerbricht etwas: „Äußerlich sah alles aus wie zuvor, doch in der Tiefe darunter geschah Nichtwiedergutzumachendes.“ (S. 54) Schließlich bringt er die 17-jährige Inga um, woraufhin sich die Inselbevölkerung zusammenrottet und ihn, angeführt von ihrem Bruder Rolv, erschlägt. Nach der Tat kommen die Menschen wieder zu sich, waren in ihrer Wut wie verwandelt, ebenso wie die Sauen, ebenso wie Andreas Vest. Sie nehmen die Schuld als Kollektiv auf sich, verbringen die Nacht gemeinsam in der großen roten Scheune von Hof Li und verlassen sie am Morgen, wenn nicht geläutert, so in einem Zustand, der ihnen ein weiteres Zusammenleben ermöglicht.
Vesaas wirft große Fragen auf: Wozu ist der Mensch fähig, wozu ist das Kollektiv fähig? Bleibt die Schuldfrage, wenn ein Tier, ein Mensch oder eine Gruppe nicht mehr Herr der Sinne ist? Dass Vesaas die Aushebelung der gewohnten Ordnung zunächst im Saukoben stattfinden lässt, ist ein kluger Schachzug. Denn was ist der Keim? Der Sauschneider, das Boot, mit dem Andreas Vest auf die Insel gebracht wird, der Kampf zwischen den zwei Sauen, der Bau der großen Scheune, die zuvor nie eine wahre Bestimmung gefunden hatte?
Vesaas schrieb auf Nynorsk. Was kann das für die Übersetzung bedeuten? Zeit für einen Einschub, um die Ausgangslage etwas deutlicher zu machen: Im TraLaLit-Beitrag Große kleine Sprache Norwegisch wird der Übersetzerin Gabriele Haefs die Frage gestellt, ob es aus übersetzerischer Sicht einen Unterschied zwischen den beiden Norwegisch-Varianten Nynorsk („Neunorwegisch“) und Bokmål („Buchsprache“) gibt. Haefs antwortet darauf:
„Eigentlich nicht. Nynorsk und Bokmål sind zwei Schriftsprachenvarianten, die in Norwegen gleichgestellt sind, wobei der überwiegende Teil der Literatur auf Bokmål geschrieben wird. Wenn man von außen kommt und die beiden Varianten beim Studium gelernt hat, sieht man vor allem die Ähnlichkeiten. Es gibt keine Unterschiede in der Grammatik, das Vokabular hat fast immer dieselbe Etymologie. Die Unterschiede zwischen Kölsch und Münchnerisch sind ehrlich gesagt viel größer.“
Damit kann man uneins sein. Nynorsk wird im Allgemeinen eine größere Urkraft zugeschrieben, eine Urkraft, die sich im Klanglichen äußert, in einer stärkeren Melodik. Auf Nynorsk zu schreiben war und ist für viele Schriftsteller:innen ein Statement. Der internationale Shootingstar Norwegens Jon Fosse schreibt nicht nur auf Nynorsk, es ist ihm auch ein Anliegen, die Leser:innen darauf hinzuweisen, dass er auf Nynorsk schreibt: Er publizierte unter anderem einen Essay mit dem Titel „Min kjære nynorsk“ („Mein liebes Nynorsk“). Die Entscheidung, auf Nynorsk zu schreiben, ist identitätsstiftend (eine äußerst wichtige und häufig diskutierte Angelegenheit im jungen Staate Norwegen).
Nynorsk ist eine Sprache, die anders als Bokmål anhand der tatsächlich gesprochenen Dialekte in den teils weit voneinander entfernten norwegischen Gemeinden konstruiert wurde. Dieser historische Fokus auf die Abbildung der gesprochenen Sprache hat zur Folge, dass literarische Texte, die auf Nynorsk geschrieben sind, häufig einen simpleren Stil aufweisen (weniger Substantive, kaum Passivformen, vereinfachte Syntax) und eine größere Veranlagung zu Abweichung und Improvisation schon in den Sprachmöglichkeiten verankert ist. In der auf Bokmål geschriebenen Literatur lässt sich inzwischen ein ähnlicher Trend feststellen, aber 1940, im Erscheinungsjahr von Kimen, war dieser Unterschied noch deutlicher spürbar.
Vesaas schrieb also auf Nynorsk und gilt als Spracherneuerer, er wählte dialektnahe Formen und war dadurch ein Vorbild für andere Nynorsk-Sprechende und ‑Schreibende. Für Vesaas stellte Der Keim einen Umbruch in seinem Werk dar – das Jahr 1940 bezeichnete er als Zeiten- und Denkwandel, der logischerweise auch eine neue Art des Schreibens mit sich brachte, unter anderem eine experimentelle Auseinandersetzung mit dem Romanbegriff.
Seine Prosa ist verknappt und stark symbolisch, immer wieder wird nachdrücklich davon gesprochen, dass es vor allem auch darum gehe, was nicht gesagt wird, um das, was in der Verdichtung zwar mitschwingt, aber nicht explizit ausgesprochen wird. All das gilt auch für Der Keim, und allein dieser Punkt stellt schon eine enorme Herausforderung im Übersetzungsprozess dar, mag er auch in vielen literarischen Texten zum Tragen kommen – eine allgemeingültige Strategie lässt sich dafür nicht finden. Schritt 1: Die Stille finden, die Löcher im Text, die bei Vesaas so meisterhaft verborgen sind. Schritt 2: Dahinterkommen, was da im nicht Ausgesprochenen gesagt wird, die Löcher im Geiste dichten, um sie in Schritt 3 ebenso meisterhaft wieder im deutschen Text einzugraben und ihre Spuren zu verwischen.
Dazu kommt die Parataxe, der damit einhergehende nüchterne, fast karge, und zugleich treibende Rhythmus. Vesaas‘ Subtilität in dem, was er eben doch sagt, aber wofür er leise Töne findet, die zuerst gehört und lokalisiert werden müssen. Die Abweichungen von der Phrase, sein schöpferisches Talent. Die Selbstverständlichkeit, mit der merkwürdig anmutende Gegebenheiten und Zusammenhänge beschrieben werden. Die Thematik, die höchste existenzielle Not, die verhandelt wird, die großen Fragen nach Schuld und Bekenntnis, Sühne und Erlösung, die der Sprache mit einer solchen Dringlichkeit eingeschrieben sind, dass die dramatische Wirkung dermaßen in ihr verknotet und verkeilt ist, dass die Kapriolen des Textes die Leser:innen mit einer besonderen Wucht treffen. Und zwar, weil der Text nie exaltiert ist, sachlich zu sein scheint, keinerlei Distanz zulässt.
Der Keim liegt also im Ton. Sowohl im Nichtgesagten als auch im Gesagten, in der ohrenbetäubenden Stille, die herbeigeschrieben wird, als auch in den schrillen Lauten, die einzelne Punkte auf der Abwärtsspirale markieren: die Schreie der Ferkel, die Bekanntschaft mit dem Sauschneider machen; die Schreie der kämpfenden Sauen; die Schreie der Jungsau, die ihre Ferkel auffrisst; der Schrei Ingas, als sie ermordet wird. Sie alle haben einen enormen Effekt auf die Umstehenden und leiten einen nächsten Schritt ein. Erst nach dem kollektiven Mord an Andreas Vest tritt Stille ein. Interessant ist, dass sich Ingas Schrei in der deutschen Übersetzung noch stärker manifestiert als im Norwegischen, als etwas tatsächlich Greifbares:
Kva var detta! Like etter at mælet hennar Kari Nes var stilna, så kom det som ein stor, mørk skjerm ned or lufta. Som ein kjempestor, svart, utspend og skøyr blom. Slo mot bakken og var borte. Det var eit rop.
Alle folk som var i nærleiken her, såg seg kring, fortumla, og lydde. Fór opp og stod. Valne, lydande etter fleire ljod. Men det kom berre detta eine, store ropet.
Eit skjerande rop som falda seg ut og fall ned og brast ikring dei som ei mørk hinne. Som eit sekund med skuming midt på dagen.
Was war das? Kaum war Kari Nes’ Stimme verklungen, rauschte ein großer, dunkler Schirm aus der Luft herab. Wie eine gewaltige schwarze, ausgespannte und verletzliche Blüte. Traf am Boden auf und war weg. Ein Schrei.
Alle, die in der Nähe waren, schauten sich um und lauschten bestürzt. Fuhren auf und standen da. Betäubt, sie lauschten nach weiteren Tönen. Aber es gab nur den einzigen großen Schrei.
Einen schneidenden Schrei, der sich auffaltete und herabstürzte und mitten zwischen ihnen wie eine dunkle Haut zerplatzte. Eine sekundenlange Dämmerung mitten am Tage.
Bis zum letzten Satz des ersten Absatzes („Det var eit rop.“ – wörtlich: „Es war ein Schrei.“) wird im norwegischen Original nicht benannt, was da über die Menschen hereinbricht. Etwas kommt über sie, es fällt aus der Luft wie die Vorboten der Apokalypse, „som ein stor, mørk skjerm”, also wörtlich „wie ein großer dunkler Schirm“. Dadurch, dass die Vergleichspartikel im Deutschen wegfällt, bezieht sich in der Übersetzung auch der nächste Satz auf den Schirm: „Wie eine […] Blüte.“ Der Schirm ist wie eine gewaltige schwarze, ausgespannte und verletzliche Blüte (warum nicht: „aufgespannt“?). Der Schirm trifft am Boden auf und ist weg. Durch die schnelle Verdinglichung des Ungreifbaren wird die unmittelbare Bedrohung konkretisiert, wo sie im Norwegischen unbenennbar und nur vermeintlich sichtbar bleibt. Glücklicherweise bleibt die Essenz dieser ungewöhnlichen Stelle erhalten: Dass es sich bei der Ungeheuerlichkeit, der sich die Inselbewohner:innen ausgesetzt sehen, um ein Geräusch handelt, etwas Hörbares und eben nicht Sichtbares, wird erst am Ende des ersten Satzes deutlich.
Hinrich Schmidt-Henkel versteht es, den Keim im Allgemeinen und immer wieder auch im Besonderen sehr gut zu treffen. Ebenso wie das Original wirkt die Übersetzung zeitlos und reißt die Leser:innen mit in den Vesaas‘schen Strudel der vermeintlichen Unaufgeregtheit, inmitten dessen Großes verhandelt wird. Besonders deutlich wird das an Stellen, an denen das Tempo mithilfe gut eingesetzter Rhythmik bis ans Äußerste angezogen wird, beispielsweise als die beiden Sauen in ihren Wahnsinn verfallen und einander angreifen:
Trøkk – og så går det i avgrunnen. Til dei dømde og fortapte. Inne i det mørke stupet. Eit glimt der. Så slo det ut. Tent av eit kvin.
Rums – und dann geht es in den Abgrund. Zu den Verurteilten und Verlorenen. In die Dunkelheit. Ein kurzer Blick hinüber. Schon schlug da etwas an. Von einem Quieken angestachelt.
Die lakonisch-elliptische Parataxe, die dafür sorgt, dass der Gebrauch großer Worte den Text nicht ins Schwülstige abdriften lässt, wird hier elegant ins Deutsche hinübergehoben. Trotz der in den meisten Fällen längeren Silbenstruktur verliert die Übersetzung weder an Fahrt noch Tiefe.
Wenn es beim Lesen doch einmal zu Momenten des Stutzens kommt, liegt das in den meisten Fällen an kleinsten Unsauberkeiten, die den Lesefluss kaum beeinträchtigen. Über Karl Li und seinen Werdegang wird gesagt:
Han gjorde tre ting om lag samstundes då etter heimkoma frå bøkene: Han gifte seg med ei jente frå øya, han la eit stort engstykke om til frukthage, og han bygde ein låve som var mykje større enn det syntest bruk for på Li.
Als er von den Büchern nach Hause kam, tat er drei Dinge mehr oder weniger zur selben Zeit: ein Mädchen von der Insel heiraten, ein großes Wiesenstück zu einem Obstgarten umwandeln, und er baute eine Scheune, viel größer, als man sie auf diesem Hof benötigt hätte.
In der Übersetzung wird ein schöner Parallelismus verschenkt: Im Norwegischen wird drei Mal eine Präteritumform verwendet (heiratete, wandelte um, baute), im Deutschen hat sich Hinrich Schmidt-Henkel dazu entschieden, zwei Mal von einer Infinitivform Gebrauch zu machen, beim dritten Mal greift er jedoch wieder auf das Präteritum zurück. Eine konsequentere Herangehensweise hätte diesem Satz gut getan.
Die beschriebene Subtilität in Der Keim, die Art und Weise, worauf Vesaas große und schöne Beobachtungen in scheinbaren Nebensächlichkeiten verpackt, wird in der Übersetzung nicht an allen Stellen übernommen:
Arbeidshendene deira låg store og døde på kvar side av dei.
Arbeitshände hatten sie, die lagen groß und tot zu ihren Seiten.
Der erklärende Charakter von „Arbeitshände hatten sie“ im Vergleich mit der wörtlichen Übersetzung „Ihre Arbeitshände“ nimmt dem Bild die Selbstverständlichkeit. Der Satz wirkt weniger leichtfüßig, was auch an der Nebensatzkonstruktion liegt. Insgesamt wäre an einigen Stellen ein wenig mehr Mut zur Beibehaltung von Strukturen aus dem Ausgangstext wünschenswert gewesen. Ein weiteres Beispiel:
Mannen og kona og kursmeden berga seg i lange sprang inn stogedøra. Jenta smatt attende til grisehuset og vakta si.
Der Mann und seine Frau und der Sauschneider retten sich mit langen Sätzen durch die Tür ins Haus. Das Mädchen schlüpfte in den Schweinestall, wo sie zuvor Wache gehalten hatte.
Im Norwegischen wird an dieser Stelle durchgehend in der Vergangenheit erzählt, was auch im Deutschen einen ruhigeren Duktus schaffen würde. Der Effekt größerer Unmittelbarkeit und Dynamik, der häufig guten Grund für eine Verwendung des Präsens in Kombination mit einem längeren Abschnitt in einer Vergangenheitsform bietet, ist hier nicht so groß, dass er den Verlust an Kongruenz ausgleichen könnte.
Teilweise könnte eine präzisere Einschätzung der Momente, in denen der Ausgangstext im Deutschen peinlichst genau nachgebaut werden sollte, sogar Missverständnissen vorbeugen. Während der Raserei der beiden Sauen wird zunächst der Sauschneider mit der Bezeichnung „fremd“ bedacht, später Andreas Vest. Auf den ersten Blick wirkt das ein wenig ungeschickt von Seiten des Autors, aber dass die beiden auf diese subtile Weise miteinander verbunden werden, ist von großer Bedeutung: Sie beide werden als von außen Einfluss nehmend markiert. Zunächst ist die Rede vom Sauschneider:
Jens og Bergit og den framande fann seg staurar og sprang ut på tunet på ny.
Jens und Bergit und der fremde Mann griffen Stangen zum Heuaufsetzen und eilten hinaus.
Im Ausgangstext wird er in wörtlicher Übersetzung als „der Fremde“ bezeichnet, er kommt nicht von der Insel, ist aber bereits mehrmals zu Gast gewesen und ist unter der Inselbevölkerung bekannt. Anders verhält es sich mit Andreas Vest:
Dei såg i farten at det stod ein framand mann i den andre døra.
Im Hineinstürzen sahen sie, dass in der anderen Tür ein fremder Mann stand.
Und später:
Stod det ikkje ein framand mann i døra der i stad?
Hatte da nicht eben ein Fremder in der Tür gestanden?
Der Zusammenfall der beiden Bezeichnungen ist ein Vorbote dessen, was geschehen wird. Andreas Vest wird ebenso wie der Sauschneider einen Ton evozieren, einen weiteren Keim, der eine Bewegung gen Abgrund auslösen wird. Wichtig dabei ist allerdings, dass die beiden Bezeichnungen, die einander so sehr ähneln, deutlich voneinander unterschieden werden können. Im Norwegischen ist Andreas Vest in wörtlicher Übersetzung beide Male „ein fremder Mann“. Im Deutschen wird von dieser konsequenten Trennung abgewichen, was für Verwechslungsgefahr sorgt.
In anderen Fällen hätte eine Abweichung von der norwegischen Syntax für Verdeutlichung gesorgt, beispielsweise in diesem Satz, der Teil der Einführung Karl Lis und des Hofes ist:
Mari Li, kona hans, og han sjølv og dei to borna dreiv denne hagen.
Mari Li, seine Frau, er selbst und ihre beiden Kinder bestellten diesen Garten.
Hier wird an der Struktur des Ausgangstextes festgehalten, dabei wäre die einfachere Lösung eine leichte Umstellung gewesen: „Seine Frau Mari Li, er selbst und ihre beiden Kinder bestellten diesen Garten.“ hätte auf den ersten Blick deutlich gemacht, dass es sich bei Mari Li und Karl Lis Frau um ein und dieselbe Person handelt.
Es besteht kein Zweifel darüber, dass Hinrich Schmidt-Henkel ebenso wie die anderen Vesaas-Bände auch Der Keim bravourös übersetzt hat. An einigen Stellen hätte ein längeres Verweilen zu genaueren Übersetzungslösungen geführt, es geht hier aber – der Deutlichkeit halber – um Infinitesimales. Dass diese Beobachtungen überhaupt Erwähnung finden, zeugt davon, dass die Übersetzung in ihrer Gesamtheit äußerst gelungen ist. Kleinststolperer wie die hier beschriebenen werden den meisten Leser:innen keineswegs ein Dorn im Auge sein. Trotzdem ist es gut, auf Momente hinzuweisen, in denen Feinheiten verloren gehen könnten und das Zweifeln im Übersetzungsprozess möglicherweise nicht genug zum Tragen gekommen ist. Das Innehalten an möglichst vielen Stellen, um der Stille nachzuspüren und dem, was sich verborgen hält. Die genommene Zeit spielt selbstredend den weitaus größten Faktor, und wie wir alle wissen, ist Zeit leider ein Luxusgut im Übersetzungsbetrieb. Aus Walter Benjamins Einbahnstraße: „In diesen Tagen darf sich niemand auf das versteifen, was er ‚kann‘. In der Improvisation liegt die Stärke.“