Eine Belas­tungs­pro­be

Sophie Zeitz übersetzt schwere Themen, blaue Flecken und glaswegischen Dialekt. Mit „Young Mungo“ entführt sie ihre deutschsprachigen Lesenden in den Glasgower Osten der Neunziger. Von

Hintergrundbild: Bekky Bekks via Unsplash

Young Mungo ist der zwei­te Roman des mit dem Boo­ker Pri­ze gekrön­ten, schot­ti­schen Autors Dou­glas Stuart und vor eini­gen Mona­ten beim Han­ser-Ver­lag in der deut­schen Über­set­zung von Sophie Zeitz erschie­nen. Schau­platz der Erzäh­lung ist, wie auch schon in sei­nem Auf­takt­ro­man Shug­gie Bain (eben­falls über­setzt von Sophie Zeitz), sei­ne schot­ti­sche Hei­mat­stadt Glasgow.

Der Roman folgt der Geschich­te des fünf­zehn­jäh­ri­gen Mungo, der in den Miets­ka­ser­nen im Glas­gower East End auf­wächst. Er lebt dort in einer Welt, in die er nicht zu pas­sen scheint. Anders als sein Bru­der, der die pro­tes­tan­ti­schen Bil­lys anführt und all­ge­mein gefürch­tet wird, ist Mungo sanft­mü­tig und scheut die Gewalt. Außer­dem hat er kein Inter­es­se an Mäd­chen. Mungo lebt mit sei­ner Mut­ter und sei­ner Schwes­ter in einer her­un­ter­ge­kom­me­nen Woh­nung und sei­ne Zukunfts­aus­sich­ten sehen düs­ter aus. Sein Leben ist trost­los – zumin­dest so lan­ge, bis er James Jamie­son kennenlernt. 

Der jun­ge Mann beim Tau­ben­schlag hat kei­ne Hin­ter­ge­dan­ken und inter­es­siert sich, anders als Mungos Fami­lie, für das, was Mungo zu sagen hat. Schnell wer­den sie Freun­de und ent­wi­ckeln Gefüh­le für­ein­an­der. Gefüh­le, die sie auf den bru­ta­len Stra­ßen des East Ends nie­mals zei­gen dür­fen. Obwohl gleich­ge­schlecht­li­che Bezie­hun­gen in Schott­land „bereits“ im Jahr 1980 ent­kri­mi­na­li­siert wur­den, hal­ten die Leu­te aus Mungos Gegend Homo­se­xua­li­tät immer noch für anste­ckend und ein schreck­li­ches Ver­ge­hen, das mit Aus­gren­zung und Gewalt bestraft wird.

Die Erzäh­lung spielt sich inner­halb weni­ger Mona­te ab, in denen in Mungos jun­gem Leben viel mehr pas­siert als bei ande­ren in einem gan­zen Jahr­zehnt. Reg­ne­ri­sche Rück­blen­den und ein Mai­wo­chen­en­de, wel­ches Mungo mit zwei frem­den Män­nern an einem Loch ver­bringt – „der Mai danach“ – lau­fen alter­nie­rend auf­ein­an­der zu, um zum Schluss grau­en- oder viel­leicht sogar hoff­nungs­voll zu kol­li­die­ren. Den chro­no­lo­gisch erzähl­ten Rück­blen­den haf­tet eine Grau­sam­keit an, die einem immer wie­der den Atem sto­cken lässt. Wenn das nächs­te Kapi­tel dann wie­der in einen der ver­gan­ge­nen Mona­te zurück­kehrt, fühlt sich das an wie eine Atem­pau­se, ins­be­son­de­re in jenen Abschnit­ten, in denen James und Mungo zuein­an­der finden.

In der Erzäh­lung spre­chen die meis­ten Cha­rak­te­re im glas­we­gi­schen Dia­lekt. Dies stellt eine beson­de­re Her­aus­for­de­rung für Übersetzer*innen dar. Doch Dou­glas Stuart ver­wen­det nicht nur in Dia­lo­gen schot­ti­sche Begrif­fe. So benutzt er im Fließ­text unter ande­rem die Wor­te „las­sie“, „weans“ und „wee“. Damit fügt sich die Erzäh­lung räum­lich ganz klar in Glas­gow ein und die kul­tu­rel­len sowie sprach­li­chen Beson­der­hei­ten der Gegend wer­den her­vor­ge­ho­ben. Wel­che Über­set­zung hat Sophie Zeitz für die­se Aus­drü­cke gewählt?

“Ach, ah’m sor­ry. A young gent like you. Ye must miss him.” Mungo couldn’t say just how much he missed him. It was too big a fee­ling to put into words. “I was only wee.”

„Oh, tut mir leid. Lüt­ter Kerl wie du. Der fehlt dir sicher.“ Mungo konn­te nicht aus­drü­cken wie sehr. Das Gefühl war zu groß für Wor­te. „Da war ich noch klein.“

Die­ses Bei­spiel zeigt, dass Sophie Zeitz „weeschlicht­weg mit „klein“ über­setzt hat. Jedoch hat sie sich in die­sem Kon­text auch für den nord­deut­schen Aus­druck „lüt­ter Kerl“ ent­schie­den, um „young gent“ zu über­set­zen. „Weans“ hat sie grund­sätz­lich mit „Kin­der“ über­setzt. Sel­ten, wenn leicht abfäl­lig über Kin­der gespro­chen wird, hat sie das Wort „Gören“ ver­wen­det, wie an der fol­gen­den Stel­le zu sehen ist:

“See, I asked around and it turns out Jocky Dun­bar has four weans of his own. […]”

„Schon komisch, weil ich mich erkun­digt hab, und wie sich raus­stellt, hat Jocky Dun­bar sel­ber vier Gören. […]“

Im nach­ste­hen­den Bei­spiel fragt Mungo James, ob er nicht mit einem Mäd­chen zusam­men ist:

„I thought you had a bird?” asked Mungo, over the growl of a cor­po­ra­ti­on bus. “A Doo?” “No‑o. A robin big breast, a pair of blue tits. A lassie.”

„Ich dach­te, du hast ne Mie­ze?“, rief Mungo über das Roh­ren eines Omni­bus­ses hin­weg. „Ne Kat­ze?“ „Ne Mei­se. Ne Tus­si, mei­ne ich.“

Hier fal­len gleich meh­re­re Din­ge ins Auge: Zunächst hat Sophie Zeitz „bird“ mit „Mie­ze“ über­setzt. Da James einen Tau­ben­schlag besitzt und sei­ne Fra­ge „A Doo?“ sich damit auf eine Tau­be bezieht, geht die­se Nuan­ce in der Über­set­zung lei­der ver­lo­ren. Im nächs­ten Satz stellt Mungo klar, dass er „a las­sie“, also „ne Tus­si“ meint, eine Über­set­zung, die Sophie Zeitz wie­der­holt für „las­sie“ gewählt hat. „Tus­si“ hat eine sehr her­ab­las­sen­de Kon­no­ta­ti­on. Sophie Zeitz legt das Wort jedoch nur Män­nern und Jun­gen in den Mund, bei denen man sich eine sol­che Wort­wahl vor­stel­len kann; etwa um cool zu wir­ken, wie Mungo vor James, oder weil sie Frau­en gegen­über tat­säch­lich eine her­ab­las­sen­de Hal­tung einnehmen.

Der Dia­lekt wird auch sonst immer wie­der expli­zit ange­spro­chen und scheint grund­sätz­lich von Bedeu­tung für die Iden­ti­tät der Glas­we­ger und Glas­we­ge­rin­nen zu sein. So wird abfäl­lig über jene gespro­chen, die das soge­nann­te „Queen’s Eng­lish“ spre­chen, und Leu­te wie Jodie, die vor­ha­ben, aus den Miets­ka­ser­nen her­aus­zu­kom­men und ihre alte Iden­ti­tät abzu­le­gen, legen damit auch ihren Dia­lekt ab. (Jodie „wür­de an ihrer Aus­spra­che arbei­ten, sich den Knack­laut abgewöhnen.“)

“Now, son, do ye mean my sis­ter or my mother? Becau­se I know ye don’t mean my wife.”

„Wen meinst du, Jun­ge, mei­ne Schwes­ter oder mei­ne Mut­ter? Weil, dass du nicht mei­ne Frau meinst, wis­sen wir beide.“

Da der glas­we­gi­sche Dia­lekt einen so gro­ßen Anteil des Romans aus­macht, hat Sophie Zeitz ver­sucht, den Sprach­cha­rak­ter zumin­dest teil­wei­se nach­zu­ah­men. Bei­spiels­wei­se hat sie die im all­täg­li­chen Sprach­ge­brauch inzwi­schen übli­che Syn­tax von weil-Sät­zen über­nom­men, eine Sprech­wei­se, die sich bei allen Gene­ra­tio­nen immer wei­ter ver­brei­tet. Mit die­ser krea­ti­ven Idee hebt sie die Münd­lich­keit der Glas­we­ger hervor. 

Sophie Zeitz spielt mit moder­nen (Weil-Sät­ze) und alt­mo­di­sche­ren (lütt) umgangs­sprach­li­chen Eigen­ar­ten und arbei­tet außer­dem mit Ver­kür­zun­gen wie „ne“, „has­te“, „nich“ etc., und ent­wi­ckelt so eine bun­te Mischung, aus der deut­lich her­vor­geht, dass die Men­schen in die­sem Buch einen beson­de­ren Dia­lekt spre­chen. Lei­der ist es nicht mög­lich, den Glas­we­ger Dia­lekt des Aus­gangs­tex­tes zu repro­du­zie­ren, bei dem fast alle der anglo­pho­nen Welt wis­sen „Aha, das sind Schot­ten“.  Ein Umstand, der aber gar nicht stört, weil der Hand­lungs­ort immer wie­der deut­lich genannt wird.

Ins­ge­samt liegt die­ses Buch schwer im Magen und an man­chen Stel­len muss man es ein­fach mal zuklap­pen und durch­at­men. Durch die vie­len Trig­ger-The­men wie Alko­ho­lis­mus, häus­li­che Gewalt und sexu­el­ler Miss­brauch ist Young Mungo nicht für alle Lesen­den zu emp­feh­len. The­men, die sowohl unge­schönt bild­lich als auch emo­tio­nal auf­rei­bend dar­ge­stellt sind. 

The child­ren knelt in the midd­le of the living room and lis­ten­ed as he swung his fists into her soft­ness. He was hur­ting her. Each time he hit her, the woman cried out in pain. It was a tremu­lous squeak that ended in a che­wed full stop, like she wan­ted to swal­low the shameful cry as soon as it escaped her. Even as he was bat­te­ring her, she worried about his good name.

Die Kin­der knie­ten im Wohn­zim­mer und lausch­ten, wie er die Fäus­te in ihr wei­ches Fleisch ramm­te. Er tat ihr weh. Bei jedem Schlag ächz­te die Frau vor Schmerz. Es war ein klein­lau­tes Wim­mern hin­ter zusam­men­ge­bis­se­nen Zäh­nen, als woll­te sie den beschä­men­den Schrei ver­schlu­cken, bevor er ihr ent­kam. Selbst wenn er sie schlug, dach­te sie an sei­nen Ruf.

In die­ser Situa­ti­on wer­den Mungo und Jodie Zeu­gen davon, wie ihre Nach­ba­rin von ihrem Ehe­mann ver­prü­gelt wird. Sophie Zeitz hat es geschafft, dass ihre Über­set­zung so wirkt, als wür­de man als Leser*in an einem sehr inti­men Ereig­nis teil­ha­ben. Fei­ne nuan­cier­te Über­set­zun­gen wie „lausch­ten“ für „lis­ten­ed“, „ächz­te“ für „cried out“, und „ein klein­lau­tes Wim­mern hin­ter zusam­men­ge­bis­se­nen Zäh­nen“ geben dem Text eine solch per­sön­li­che Note, dass die Lesen­den sich der Gewalt ein­fach nicht ent­zie­hen können. 

Den­noch ist das Buch hoff­nungs­voll und glück­li­cher­wei­se erkennt Mungo zum Schluss, dass das, was die Män­ner ihm am See ange­tan haben, und das, was er mit sei­nem gelieb­ten James macht, kei­nes­falls das glei­che ist.

His tears fell and dis­tor­ted his reflec­tion. He thought about James, and the love­ly things they had done on his navy car­pet. Three days of hap­pi­ness, three days mark­ed with Chi­ne­se burns and clum­sy car­esses. Gree­dy litt­le kis­ses that were full of bum­ping tee­th and shy apo­lo­gies. It was wrong to compa­re their love­li­ne­ss to the things the drun­kards had forced on to him. They were not the same thing, Mungo remin­ded hims­elf. They were not the same at all. They were not.

Sei­ne Trä­nen fie­len ins Was­ser und ver­zerr­ten sein Spie­gel­bild. Er dach­te an James, an die wun­der­schö­nen Din­ge, die sie auf dem dun­kel­blau­en Tep­pich getan hat­ten. Drei Tage des Glücks, drei Tage Tep­pich­schram­men und stol­pern­de Zärt­lich­kei­ten. Gie­ri­ge klei­ne Küs­se mit ansto­ßen­den Zäh­nen und scheu­en Ent­schul­di­gun­gen. Es war falsch, all das Schö­ne mit dem zu ver­glei­chen, wozu die Säu­fer ihn gezwun­gen hat­ten. Es war nicht das Glei­che, ermahn­te er sich. Das eine hat­te nichts mit dem ande­ren zu tun. Nicht ein­mal entfernt.

Manch­mal wirkt die Über­set­zung dann doch etwas komisch, was hin und wie­der an der Wort­wahl liegt. Die Lesen­den blei­ben zum Bei­spiel an den oben genann­ten „stolpernde(n) Zärt­lich­kei­ten“ hän­gen, mit denen „clum­sy car­esses“ über­setzt wur­de, wo „unbe­hol­fe­ne Zärt­lich­kei­ten“ viel­leicht etwas idio­ma­ti­scher wäre. Das ist aber nur sel­ten der Fall, denn der Über­set­ze­rin ist es meist gelun­gen, idio­ma­ti­sche For­mu­lie­run­gen zu finden.

Man kann vor Sophie Zeitz nur den Hut zie­hen, weil sie sich mona­te­lang mit die­sem Buch vol­ler schwe­rer The­men aus­ein­an­der­ge­setzt hat, Wor­te für die Gewalt, aber auch für die Schön­heit in die­ser Geschich­te gefun­den hat. Sie hat Young Mungo mit einer ver­meint­li­chen Leich­tig­keit über­setzt, die ange­sichts des Inhal­tes und der Erzähl­wei­se im Aus­gangs­text alles ande­re als selbst­ver­ständ­lich ist.


Dou­glas Stuart | Sophie Zeitz

Young Mungo


Han­ser Ber­lin 2023 ⋅ 416 Sei­ten ⋅ 26 Euro


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