„Es gibt immer irgend­wo Lichtblicke“

Bestseller mit Gulag, Wolgadeutschen und Kindertransporten: der Übersetzer Helmut Ettinger im Gespräch über die russische Ausnahmeautorin Gusel Jachina. Interview:

Der Übersetzer Helmut Ettinger mit der Autorin Gusel Jachina bei einer Lesung vor einem Bücherregal.
Helmut Ettinger mit Gusel Jachina bei einer Lesung. Mit freundlicher Genehmigung von H. Ettinger.

Wer die rus­si­sche Kul­tur und Lite­ra­tur pau­schal mit der Poli­tik ver­ur­teilt, schüt­tet das Kind mit dem Bade aus. Und ver­passt so lesens­wer­te Roma­ne wie die von Gusel Jachi­na, der lite­ra­ri­schen Ent­de­ckung der letz­ten Jah­re. In ihren Büchern arbei­tet sie die dunk­len Kapi­tel der sowje­ti­schen Ver­gan­gen­heit auf und spal­tet damit die Gemü­ter. TraLaLit hat sich im Ber­li­ner Café Sibyl­le mit ihrem deut­schen Über­set­zer Hel­mut Ettin­ger getrof­fen und mit ihm über Erfolgs­re­zep­te und die kon­tro­ver­se Rezep­ti­on der tata­risch-rus­si­schen Autorin gesprochen.


Gusel Jachi­nas Debüt Sulei­ka öff­net die Augen han­delt von der Ent­ku­la­ki­sie­rung in Tatar­stan in den frü­hen 1930er Jah­ren. Das Buch erhielt den renom­mier­ten rus­si­schen Lite­ra­tur­preis „Bol­scha­ja kni­ga“, wur­de mit Tschul­pan Cha­ma­towa in der Haupt­rol­le als Serie ver­filmt und in über 40 Spra­chen über­setzt. Wie erklä­ren Sie den unge­heu­ren Erfolg des Romans?

Der hat meh­re­re Grün­de. Zunächst ein­mal ist Gusel Jachi­na eine tol­le Erzäh­le­rin. Sie schreibt Lite­ra­tur, die einen in ihren Bann schlägt. Als ich das Ori­gi­nal der damals in Deutsch­land noch völ­lig unbe­kann­ten Autorin für den Auf­bau Ver­lag begut­ach­tet habe, bin ich in einen rich­ti­gen Lese­rausch gera­ten. Mich hat der sprach­li­che Reich­tum beein­druckt, es ist ein­fach ein schö­nes Rus­sisch, und obwohl ich vor­her noch nie einen Roman über­setzt hat­te, dach­te ich: „Das will ich übersetzen!“

Zum zwei­ten sind die Bücher nicht nur toll erzählt, son­dern auch sehr gründ­lich recher­chiert. Gusel Jachi­na arbei­tet min­des­tens ein Jahr an der Recher­che, forscht in allen mög­li­chen Archi­ven, Muse­en und Biblio­the­ken, liest Publi­ka­tio­nen aus der jewei­li­gen Zeit und wer­tet sie aus. So erfährt man in ihren Büchern eine Men­ge über Peri­oden der sowje­ti­schen Geschich­te, von denen man nichts oder kaum etwas weiß.

Drit­tens sucht sie sich immer die schwie­rigs­ten Kapi­tel der Sowjet­ge­schich­te aus, die als beson­ders pre­kär und wider­sprüch­lich gel­ten und die heu­te offi­zi­ell weit­ge­hend igno­riert wer­den. Durch ihre lite­ra­ri­sche Gestal­tung ver­führt sie die Leu­te dazu, sich damit aus­ein­an­der­zu­set­zen. Damit leis­tet sie einen wich­ti­gen Bei­trag zur Auf­ar­bei­tung der Geschich­te. Das geschieht in Russ­land heu­te nur sel­ten, und wenn, dann wer­den die­se The­men von der Sys­tem­op­po­si­ti­on auf­ge­grif­fen, die oft alles sehr emo­tio­nal schwarz­weiß zeich­net. Das tut Gusel Jachi­na nicht. Sie beschreibt bei Sulei­ka die gan­ze Här­te des Gulags, den Kampf ums Über­le­ben in der sibi­ri­schen Tai­ga, doch es gibt auch immer irgend­wo Licht­bli­cke. Die zei­gen sich zum Bei­spiel in der Soli­da­ri­tät der Häft­lin­ge untereinander.

Die Schrift­stel­le­rin Ljud­mi­la Ulitz­ka­ja beschei­nigt dem Buch in ihrem Vor­wort einen „kine­ma­to­gra­phi­schen Stil“. Wie wirkt sich das auf das Über­set­zen aus?

Das Vor­wort von Ulitz­ka­ja war sozu­sa­gen der Rit­ter­schlag – der bekann­te Name hat dem Buch auch in Deutsch­land Türen geöff­net. Tat­säch­lich ist es eine Eigen­art von Gusels Stil, man­ches so detail­liert zu beschrei­ben, dass es wie eine Anwei­sung für ein Dreh­buch wirkt. Das Fil­mi­sche kommt daher, dass Gusel zwar aus­ge­bil­de­te Deutsch- und Eng­lisch­leh­re­rin ist, aber spä­ter auch an der Mos­kau­er Film­hoch­schu­le Dreh­buch­schrei­ben stu­diert hat. Im Fall von Sulei­ka hat sie zunächst ein Dreh­buch geschrie­ben und die­ses erst auf Anra­ten eines Kol­le­gen zum Roman ausgebaut.

Ulitz­ka­jas Aus­sa­ge ist übri­gens kein rei­nes Lob, son­dern auch ein biss­chen kri­tisch gemeint. Der Stil ist Gusel Jachi­na in rus­si­schen Rezen­sio­nen sogar ange­krei­det wor­den, nach dem Mot­to: Die schreibt doch nur so, um die Film­leu­te auf­merk­sam zu machen, weil Ver­fil­mun­gen mehr Geld brin­gen. Aber ich fin­de, es ist eine legi­ti­me und beson­ders ein­drucks­vol­le Art, bestimm­te Sze­nen zu gestal­ten. Und sie setzt die Tech­nik nur an Stel­len ein, wo es ange­bracht ist.

In ihrem zwei­ten Roman Wol­ga­kin­der gibt es eine fik­ti­ve Sze­ne, in der Hit­ler und Sta­lin gegen­ein­an­der Bil­lard spie­len. „Hier wer­den bis in die letz­ten Details der Licht­re­gie die Bewe­gun­gen der Kame­ra vor­ge­ge­ben“, schrieb dazu der Sla­wist Prof. Ulrich Schmid. Damit hat er hun­dert­pro­zen­tig Recht. Das in der Über­set­zung wie­der­zu­ge­ben ist nicht ein­fach und erfor­dert gro­ße Sorgfalt.

Der Titel Sulei­ka öff­net die Augen ist zugleich Pro­gramm: Für die aber­gläu­bi­sche, von allen her­um­ge­schubs­te Sulei­ka bedeu­ten Ent­eig­nung, Depor­ta­ti­on und Arbeits­la­ger para­do­xer­wei­se auch eine Art Befreiung.

Die Inspi­ra­ti­on für die Figur der Sulei­ka war die Lebens­ge­schich­te von Gusel Jachi­nas Groß­mutter müt­ter­li­cher­seits. Die wur­de als Kind mit ihren Eltern nach Sibi­ri­en depor­tiert und kehr­te als erwach­se­ne, gestan­de­ne Frau mit einer sehr guten Bil­dung aus dem Lager zurück. Sie konn­te dann noch ein Leh­rer­stu­di­um auf­neh­men und hat vie­le Jah­re als Leh­re­rin auf dem Dorf gear­bei­tet. Sie hat ihrer Enke­lin von der Soli­da­ri­tät der Häft­lin­ge erzählt und hat­te aus ihrer Zeit im Gulag einen gro­ßen Kreis von Kame­ra­din­nen und Kame­ra­den, auf die sie sich ihr Leben lang stüt­zen konnte.

Aus der unter­drück­ten tata­ri­schen Bäue­rin Sulei­ka wird durch die Lager­erfah­rung eine erfolg­rei­che Jäge­rin und eine selbst­stän­dig han­deln­de Frau. Hier zeigt sich Gusel Jachi­nas dia­lek­ti­sche Betrach­tungs­wei­se. Sie hat die Sowjet­uni­on nur als Kind erlebt, doch sie ver­sucht dem ein­di­men­sio­na­len Bild ent­ge­gen­zu­wir­ken, dass die­se Zeit eine ein­zi­ge Höl­le auf Erden gewe­sen sei. Sie zeigt auch die Ent­wick­lungs­mög­lich­kei­ten der Men­schen. Dass zum Bei­spiel die Eman­zi­pa­ti­on der Frau in der Sowjet­uni­on weit fort­ge­schrit­ten war, ist für sie eine unbe­streit­ba­re Tatsache.

Jachi­nas Bücher arbei­ten die dunk­len Kapi­tel der sowje­ti­schen Geschich­te auf. Kann uns Lite­ra­tur einen ande­ren Blick auf die Welt vermitteln?

Ich den­ke ja. Mit Sulei­ka wur­de Gusel Jachi­na zu einer der meist­ge­le­se­nen Autorin­nen und Autoren des Lan­des. Doch das Buch ist in Russ­land durch­aus kon­tro­vers auf­ge­nom­men wor­den – es gab rie­si­ges Lob und har­te Kri­tik. Die tata­ri­sche Geist­lich­keit bestritt, dass die Frau im tata­ri­schen Dorf so unter­drückt gewe­sen sei. Von kom­mu­nis­ti­scher Sei­te kam der Vor­wurf der „Nest­be­schmut­zung“, die Zustän­de im Gulag sei­en nicht so schlimm gewe­sen. Schar­fe Kri­ti­ker der Sowjet­uni­on wie­der­um mein­ten, Gusels Dar­stel­lung sei viel zu lasch. Dazu gab es einen Nach­klang im deut­schen Feuil­le­ton: Die Über­schrift der Rezen­si­on in der FAZ vom 14.03.2017 lau­te­te „Will­kom­men in Bad GULag“.

Man­che Rezen­sen­ten wer­fen der Autorin vor, sie ver­mi­sche Mythos und Wirk­lich­keit, sie ent­fer­ne sich von der Rea­li­tät. Ande­re hal­ten ihre Bücher für lite­ra­ri­sche Road­mo­vies, für rei­ne Aben­teu­er­li­te­ra­tur oder gar Kitsch. Gusel Jachi­na hält sol­chen Kri­ti­kern ent­ge­gen, sie behand­le sehr schwie­ri­ge, tra­gi­sche Vor­gän­ge. Ele­men­te wie natio­na­le Exo­tik, Span­nung, Aben­teu­er und gele­gent­lich eine Lie­bes­ge­schich­te dien­ten ihr dazu, Leser aller Gene­ra­tio­nen und Natio­na­li­tä­ten anzu­re­gen, sich mit die­sen The­men zu befas­sen und tie­fer dar­über nach­zu­den­ken. Das star­ke Echo der Leser in Russ­land und der Welt gibt ihr Recht.

Mir impo­niert, dass sie in allen drei Roma­nen ihrer Linie treu geblie­ben ist. Ihre dia­lek­ti­sche Metho­de zeigt sich dar­in, dass Men­schen, die etwas Gutes wol­len, oft Böses tun, weil sie durch die Umstän­de dazu gezwun­gen wer­den – wie etwa Dejew in Wo viel­leicht das Leben war­tet. Jede Revo­lu­ti­on ist ein Gewalt­akt, der vie­le Opfer for­dert, aber (wenn sie gelingt) Gutes her­vor­brin­gen soll. Gusels Bücher zei­gen immer bei­de Sei­ten – das gehört zur Meis­ter­schaft ihres Erzäh­lens. Sie schreibt Lite­ra­tur, die die Leu­te lesen wol­len, die sie zum Nach­den­ken bringt und Debat­ten auslöst.

Gusel Jachi­nas zwei­ter Roman Wol­ga­kin­der schil­dert die Geschich­te der Wol­ga­deut­schen in den Wir­ren der frü­hen Sowjet­uni­on aus Sicht des Dorf­schul­leh­rers Jakob Iwa­no­witsch Bach. Ist den deut­schen Leser*innen die­se Welt näher als die tata­risch-sibi­ri­sche von Sulei­ka?

Klar war, dass das Buch in Deutsch­land grö­ße­res Inter­es­se bei der all­ge­mei­nen Leser­schaft fin­den wird. Sonst hät­ten Gusel Jachi­na und ich dafür 2020 auch nicht den Georg Dehio-Preis des Deut­schen Kul­tur­fo­rums öst­li­ches Euro­pa bekom­men (Inter­view). Unter den deut­schen Lesern sind vie­le Russ­land­deut­sche, und bei den Lesun­gen ging es oft um ganz ande­re Din­ge, näm­lich um ihre Unzu­frie­den­heit mit den Ver­hält­nis­sen hier und ihre eige­ne Lebens­ge­schich­te, die in Deutsch­land gar kei­ne Rol­le spielt. Das Pro­blem ist ja, dass sie in der Sowjet­uni­on immer „die Deut­schen“ waren, mit allen damit ver­bun­de­nen Nach­tei­len, und für vie­le Men­schen hier sind sie jetzt „die Rus­sen“. Die Betrof­fe­nen lei­den dar­un­ter. Aber sie haben das Buch mit gro­ßem Inter­es­se gele­sen. Für die jun­ge Gene­ra­ti­on der Russ­land­deut­schen ist es inso­fern wert­voll, als sie vie­les über ihre eige­ne Geschich­te nicht wis­sen. In der Sowjet­uni­on und spä­ter in Russ­land gab es bei der älte­ren Gene­ra­ti­on ein all­ge­mei­nes Wider­stre­ben, dar­über zu reden.

Die Wol­ga­kin­der enden im Jahr 1938. Daher wird häu­fig gefragt, war­um die Autorin das schlimms­te Erleb­nis, das den Russ­land­deut­schen wider­fah­ren ist – die Depor­ta­ti­on im Jahr 1941 – völ­lig außen vor gelas­sen hat. Sie ant­wor­tet, dass es über die­se all­ge­mein bekann­te Tat­sa­che jede Men­ge Lite­ra­tur gebe und sie über die weni­ger bekann­ten Aspek­te schrei­ben woll­te. Sta­lin begrün­de­te die Depor­ta­ti­on der Krim­ta­ta­ren und Wol­ga­deut­schen damit, dass er ver­hin­dern woll­te, dass sie mit den deut­schen Faschis­ten kol­la­bo­rie­ren. Die Gegen­ar­gu­men­ta­ti­on – sowohl in Russ­land als auch inter­na­tio­nal – ist meis­tens, dass sie gar nicht die­se Absicht gehabt hät­ten. Sie sahen sich als Bür­ger der Sowjet­uni­on und hät­ten auch an der Front gekämpft. Dass Sta­lin die Russ­land­deut­schen pau­schal des Ver­rats ver­däch­tig­te, ist schlimm, doch es gab sicher­lich ein­zel­ne, die eine sol­che Rol­le gespielt haben. Gusel zeich­net in ihrem Buch ein dif­fe­ren­zier­tes Bild die­ser Volksgruppe.

Der drit­te Roman Wo viel­leicht das Leben war­tet spielt wäh­rend der Hun­gers­not in der Wol­ga­re­gi­on Anfang der 1920er Jah­re. Stra­ßen­kin­der sol­len durch Zug­trans­por­te ins son­ni­ge und noch gut ver­sorg­te Samar­kand gebracht und so vor dem Hun­ger­tod geret­tet wer­den. Die Kin­der unter­hal­ten sich in einem wil­den Spra­chen­ge­wirr, erfin­den fre­che Rei­me, ver­wen­den Dut­zen­de von Syn­ony­men und tra­gen kurio­se Spitz­na­men wie Skor­but-Son­ja oder Kol­ja Camem­bert. Wie bil­det man sol­che Wort­spie­le­rei­en im Deut­schen nach?

Die Spitz­na­men haben mich vor eine äußerst schwie­ri­ge und mehr­schich­ti­ge Auf­ga­be gestellt. Ers­tens die Mas­se – allein gegen Ende wer­den fünf Sei­ten lang Spitz­na­men auf­ge­zählt. Erst dach­te ich, das lenkt doch nur von der Geschich­te ab, aber die Namen haben eine Funk­ti­on: Der Rot­ar­mist Dejew hat anstel­le der unter­wegs ver­stor­be­nen Kin­der neue auf­ge­nom­men, die hun­gernd durchs Land zogen, was streng ver­bo­ten und straf­bar war. Aber er hat es ris­kiert, weil er sie nicht lei­den sehen konn­te. Die Heim­lei­te­rin in Samar­kand will nach der Vor­schrift aus­schließ­lich Kin­der aus Kasan auf­neh­men. Inter­es­san­ter­wei­se ist das Heim nur für 350 Kin­der aus­ge­legt – es wur­de also eis­kalt kal­ku­liert, dass unter­wegs min­des­tens ein Drit­tel der Kin­der stirbt. Um zu bewei­sen, dass er die Kin­der seit Beginn der Rei­se kennt, ruft Dejew am Ende alle 500 mit ihren Spitz­na­men auf. Die Heim­lei­te­rin glaubt ihm nicht wirk­lich, aber Dejew erreicht mit die­sem Betrug sein zutiefst mensch­li­ches Ziel, allen die­sen Kin­dern Nah­rung und ein Dach über dem Kopf zu geben – wie­der ein Bei­spiel für Gusels dia­lek­ti­sches Vorgehen.

Die Über­set­zung der Spitz­na­men war kei­ne leich­te Auf­ga­be. Sie tei­len sich in meh­re­re Grup­pen: zum einen Namen mit sexis­ti­scher Kon­no­ta­ti­on – für die Geschlechts­or­ga­ne des Men­schen gibt es im Deut­schen natür­lich diver­se Ent­spre­chun­gen, aber ich muss­te lan­ge suchen, bis ich so vie­le Vari­an­ten bei­sam­men­hat­te. Dann Hel­den aus Fil­men und Büchern und ein biss­chen ver­rück­te Benen­nun­gen nach Ess­ba­rem – alles noch mach­bar. Schwie­rig wur­de es bei Namen aus der rus­si­schen Geschich­te, Lite­ra­tur und Poli­tik jener Jah­re, die in Deutsch­land nur weni­ge ken­nen. Ich muss­te Ent­spre­chun­gen fin­den, die dem Ori­gi­nal inhalt­lich nahe­kom­men, im Deut­schen als Spitz­na­men erkannt wer­den und auch noch lus­tig klingen!

Gusel war klar, dass man­che Namen nach den genann­ten Vor­aus­set­zun­gen nicht über­setz­bar waren. Sie gestand mir zu, im Fun­dus der deut­schen Spra­che frei nach pas­sen­den Vari­an­ten zu suchen. Mei­ne Lis­te über­zeug­te sie schließ­lich nach gründ­li­cher Prü­fung. „Die wird das Buch schmü­cken“, mein­te sie, und tat­säch­lich haben vie­le Rezen­sen­ten sie als Kurio­sum, als etwas ganz Beson­de­res erwähnt. Beim Kri­ti­ker der FAZ vom 18.08.2022 klingt das so: „Gusel Jachi­na wür­digt den Ein­satz ihres Zug­füh­rers zum Schluss mit fünf Buch­sei­ten, die nur aus der Nen­nung der Spitz­na­men aller fünf­hun­dert mit ihm ans Ziel gelang­ten Kin­der besteht. Die­ser Kunst­griff ist in der jün­ge­ren zeit­ge­schicht­li­chen Roman­li­te­ra­tur meist Opfer­lis­ten vor­be­hal­ten, hier fei­ert er ein­mal das Leben. Wie das gan­ze Buch.“

Gusel Jachi­na spricht her­vor­ra­gend Deutsch. Wie wirkt sich das auf Ihre Zusam­men­ar­beit aus?

Gusel ist als Koope­ra­ti­ons­part­ne­rin gera­de­zu ide­al. Fra­gen zum Ver­ständ­nis oder zur Inter­pre­ta­ti­on des Tex­tes beant­wor­tet sie umge­hend und zwar so, dass ich als Über­set­zer auch etwas damit anfan­gen kann. Da sie so gut Deutsch (und Eng­lisch) spricht, kann sie Über­set­zungs­vor­schlä­ge kom­pe­tent beur­tei­len, und es ent­spinnt sich eine frucht­ba­re Dis­kus­si­on. Sie ist nicht die ein­zi­ge rus­si­sche Autorin, die ich über­setzt habe und die Deutsch spricht, aber man­che über­schät­zen das und bean­spru­chen bei der Über­set­zung das letz­te Wort. Gusel hin­ge­gen han­delt nach der Devi­se: „Für den deut­schen Text ist der Mut­ter­sprach­ler verantwortlich.“

Unse­re Zusam­men­ar­beit hat sich mit den Jah­ren wei­ter­ent­wi­ckelt. Bei Sulei­ka wuss­te ich noch nicht, dass sie Deutsch spricht. Die Mails mit mei­nen Fra­gen habe ich brav auf Rus­sisch getippt und aus Mos­kau stets rus­si­sche Ant­wor­ten bekom­men. Als ich dann bei ihrer ers­ten Lesung in Ber­lin, inco­gni­to im Publi­kum sit­zend, ihre ers­ten Sät­ze in makel­lo­sem Deutsch zu hören bekam, war das ein Schock und eine freu­di­ge Über­ra­schung zugleich.

Mit den Jah­ren ist aus den Sach­dis­kus­sio­nen eine freund­schaft­li­che Koope­ra­ti­on gewor­den. Seit den Wol­ga­kin­dern gestal­ten wir Lesun­gen gemein­sam. Gusel schlägt mit ihren klu­gen, über­zeu­gen­den Ant­wor­ten auch auf kom­pli­zier­te Fra­gen die Zuhö­rer in ihren Bann. Ich habe Gele­gen­heit, Fra­gen zu poli­ti­schen Hin­ter­grün­den zu beant­wor­ten und von der Spe­zi­fik, aber auch den Schwie­rig­kei­ten mei­ner Arbeit zu berich­ten. Beson­ders berüh­rend fand ich den Kom­men­tar eines Dres­de­n­ers bei einer Lesung aus Wo viel­leicht das Leben war­tet: Er sehe mit Freu­de und Genug­tu­ung, dass der deut­sche Text nicht von einem anony­men Auto­ma­ten, son­dern von einem Men­schen mit eige­nem Pro­fil, mit eige­nen Ansich­ten und Gedan­ken stam­me. So etwas hört der Über­set­zer nicht oft.

Kri­ti­siert die Autorin Ihre Über­set­zungs­lö­sun­gen auch manchmal?

Das kommt durch­aus vor. Bei Wo viel­leicht das Leben war­tet woll­te sie die drei Haupt­grup­pen der han­deln­den Per­so­nen durch deren Spra­che cha­rak­te­ri­sie­ren: Die Gebil­de­ten spre­chen gewählt-lite­ra­risch, bei den Kin­dern soll­ten Argot und Stra­ßen­jar­gon eine Rol­le spie­len. Dazu die Spitz­na­men, für die ich kei­ne Vor­bil­der hat­te. Zwi­schen die­sen bei­den Extre­men steht Dejew, der zwar unge­bil­det, aber mit einer wei­chen, mit­füh­len­den See­le aus­ge­stat­tet ist und über kom­pli­zier­te Pro­ble­me und Gefühls­la­gen nach­grü­belt, was sich in den Dia­lo­gen nie­der­schlägt. Die­se drei Sprach­ebe­nen soll­ten deut­lich von­ein­an­der abge­setzt sein. Wie die Gebil­de­ten und die Kin­der im Deut­schen spre­chen, fand Gusel in Ord­nung, aber Dejews Aus­drucks­wei­se man­gel­te es aus ihrer Sicht zunächst an eige­nem Pro­fil. In lan­gen Debat­ten, an denen sich auch die Lek­to­rin und die Agen­tin betei­lig­ten, haben wir das Pro­blem schließ­lich zu ihrer Zufrie­den­heit gelöst.

Mit der Erklä­rung „Das ist nicht mein Krieg“ hat sich Gusel Jachi­na schon im März 2022 klar gegen den Krieg positioniert.

Das stimmt. Sie lebt nach wie vor in Mos­kau. Ins Exil gehen will sie nicht, denn Russ­land ist ihr Land, sei­ne Men­schen sind der Stoff ihrer Lite­ra­tur. Natür­lich fragt sie sich, ob und wie lan­ge sie dort Bücher wie ihre bis­he­ri­gen Best­sel­ler wird schrei­ben und ver­öf­fent­li­chen kön­nen. An Lesun­gen ist zur­zeit nicht zu denken.

Zu wel­chem The­ma wür­den Sie sich ein Buch von Gusel Jachi­na wünschen?

Das ist schwer … Sie mei­nen, von den brach­lie­gen­den The­men der Sowjet­ge­schich­te? Bis­her hat­te sie für ihre Roman­fi­gu­ren ja immer Vor­bil­der aus der eige­nen Fami­lie wie die depor­tier­te Groß­mutter müt­ter­li­cher­seits oder ihren Groß­va­ter väter­li­cher­seits, der in den Hun­ger­jah­ren von sei­ner Fami­lie aus­ge­setzt wur­de und sich als Stra­ßen­kind allein durch­schla­gen muss­te. Er ist das Vor­bild für den Sag­re­j­ka in Wo viel­leicht das Leben war­tet. Die seit dem Febru­ar 2022 auch in Russ­land äußerst ange­spann­te Situa­ti­on bie­tet kein Kli­ma für kon­zen­trier­te schrift­stel­le­ri­sche Arbeit. Gusel Jachi­na hat seit Län­ge­rem ein neu­es Pro­jekt auf dem Tisch. Das The­ma ken­ne ich, aber ich darf es noch nicht verraten.


Helmut Ettinger und Gusel Jachina bei einer Lesung zu "Wo vielleicht das Leben wartet" in der Bibliothek Hönow, Oktober 2022

Hel­mut Ettinger

Nach Stu­di­um in Leip­zig und Mos­kau hat Hel­mut Ettin­ger ein Dol­met­scher- und Über­set­zer-Diplom für Rus­sisch und Chi­ne­sisch an der Karl-Marx-Uni­ver­si­tät Leip­zig erwor­ben. Dem folg­ten sie­ben Jah­re als Dol­met­scher und Diplo­mat an der Bot­schaft der DDR in der VR Chi­na und eine Pro­mo­ti­on an der Hum­boldt-Uni­ver­si­tät Ber­lin. Als Über­set­zer his­to­risch-poli­ti­scher Sach­bü­cher und bel­le­tris­ti­scher Wer­ke ist er seit 1990 tätig. Er über­setz­te u. a. Michail Gor­bat­schow und Ilja Ilf/Jewgeni Petrow aus dem Rus­si­schen sowie Hen­ry Kis­sin­ger, Ant­o­ny Bee­vor u. v. a. aus dem Eng­li­schen. (Foto: mit Gusel Jachi­na bei einer Lesung in der Biblio­thek Hönow, Okto­ber 2022)


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