Der Literaturpreis der Kunststiftung NRW – Straelener Übersetzerpreis wird jährlich in Kooperation mit dem Europäischen Übersetzerkollegium Straelen vergeben und zählt zu den höchstdotierten Literaturpreisen Europas. 2023 wurde das Preisgeld auf 50.000 Euro erhöht und an die ukrainischen Literaturübersetzer:innen Mark Belorusez, Chrystyna Nazarkewytsch, Halyna Petrosanyak, Roksolana Sviato und Nelia Vakhovska verliehen. Die Preisverleihung fand im März 2023 in Düsseldorf statt. Michael Pietrucha hat stellvertretend für alle fünf ein Interview mit Chrystyna Nazarkewytsch geführt.
Herzlichen Glückwunsch zum Straelener Übersetzerpreis! Welche Bedeutung hat diese Auszeichnung für Sie?
Chrystyna Nazarkewytsch: Die Auszeichnung von fünf ukrainischen Übersetzer:innen freut und betrübt mich zugleich. Die Prise Bitterkeit ist damit zu erklären, dass unsere Sichtbarkeit auf den brutalen russischen Krieg gegen die Ukraine zurückzuführen ist. Wie dem auch sei, ist die Freude über die Anerkennung unserer Arbeit, die besonders unter Kriegsbedingungen zu einer wichtigen Mission wurde, auf jeden Fall groß. Mich persönlich wird der Preis sicher zur weiteren Arbeit motivieren, auch wenn sie häufig mit Krisen und quälenden Zweifeln verbunden ist. Ein Preis als Anerkennung der Arbeitsmühen verleiht Flügel, pumpt wie Doppelherz-Tropfen (keine Werbung! ausschließlich als Metapher gemeint) mehr Energie und Zähigkeit ein.
Skizzieren Sie für uns, wie sich Ihr Leben seit dem russischen Einmarsch entwickelt hat. Können Sie derzeit Ihren Beruf ausüben?
In der Nacht zum 24. Februar 2022 hatte ich gerade einen größeren Übersetzungsauftrag per Mail erhalten. Ich konnte die Textdatei die ersten Wochen nicht einmal anschauen, so belanglos erschien mir jeder fiktive Text angesichts der Kriegskatastrophe, in die mein Land gewaltsam getrieben wurde. Es entwickelte sich eine Art Pattzustand bei mir: Einerseits konnte ich nichts übersetzen, was nicht mit dem Krieg verbunden war, andererseits aber machten mich die von mir und meiner Kollegin als freiwilliger Beitrag zum Kampf übernommenen Dauerübersetzungen über die Situation im umkämpften Charkiw nach einigen Wochen krank. Ich konnte die Informationen über Tote, Verletzte, Folterungen und Zerstörungen nicht gelassen übersetzen, jedes Kriegsverbrechen tat unsagbar weh. Nach zwei Monaten hatte ich keine psychischen Kräfte mehr für die Beschäftigung mit solchen Texten. Gleichzeitig aber gab mir die spätere Übersetzung am Buch, das ich mit dem Kriegsausbruch bekommen habe, die Illusion der Normalität. Während ich an diesem und anderen Texten arbeitete, vergaß ich die Realität. Zwar nur bis zum nächsten Luftalarm, aber immerhin.
Wie entwickelte sich die Situation von ukrainischen Übersetzungen vor dem Hintergrund der russischsprachigen Konkurrenz?
Die wichtigste Übersetzungssprache in den ukrainischen Verlagen war und bleibt Ukrainisch. Nach dem Erlangen der Unabhängigkeit 1991 hatten Verlage eher Probleme, weil sie sich gegen die Flut von billigen Ausgaben aus Russland wehren mussten, die eine Zeit lang zollfrei in die Ukraine eingeführt wurden und bei dem weniger anspruchsvollen Teil des Lesepublikums populär waren. Probleme konnten auch entstehen, wenn Verlage aus Spargründen kein Lektorat für die Buchausgaben bezahlten und manchmal Übersetzungen von eher niedriger Qualität publiziert wurden. Oder wenn – wiederum aus Spargründen – schlecht bezahlte studentische Übersetzungen publiziert wurden. Zum Glück gab es nur vereinzelt solche Geschichten.
Sonst kann man sagen, dass die heutigen Übersetzer:innen in der Ukraine hervorragende Vorbilder in ihrem Beruf haben, Menschen, die mit ihren glänzenden Übersetzungen eine breite Palette der Sprachmöglichkeiten präsentierten und das Ukrainische unermüdlich weiter entwickelten, auch in schwierigsten Zeiten der kulturellen Stagnation der 1970–1980er Jahre. Wenn ich eine Person nennen sollte, würde ich Mykola Lukasch erwähnen, den kongenialen Übersetzer des kompletten Faust ins Ukrainische (1955 erschienen). In seiner stilistischen Vielfalt und Virtuosität kann dieses wahre Meisterwerk der Übersetzung kaum übertroffen werden.
Warum haben Sie sich für deutschsprachige Literatur entschieden?
Deutsch ist meine stärkste Fremdsprache, deshalb fühle ich mich berechtigt, aus dem Deutschen zu übersetzen. Deutsch verfügt schließlich über mindestens drei Nationalliteraturen, was es zu einer der mannigfaltigsten Literatursprachen macht. Literatur auf Deutsch erschien mir schon immer, zumindest geographisch und politisch, besonders nah: Einige Jahrhunderte gemeinsame Geschichte mit Österreich; mehrere Autor:innen aus Galizien und der Bukowina der Jahrhundertwende, die den ukrainischen Leser:innen im eigenen Staat erst hundert Jahre später wirklich bekannt wurden; Parallelen zwischen dem deutschen Teilungstrauma nach 1945 und jahrzehntelangen Versuchen, die Ukraine mental in Ost und West zu teilen; prägende Gebirgslandschaften in der Schweiz und im ukrainischen Karpatenland …
Wie sind Sie Literaturübersetzerin geworden? Und wie verliefen Ihre ersten Schritte als Übersetzerin?
Literaturübersetzung war für mich eine logische Folge meiner Literaturinteressen. Der erste deutsche literarische Text, den ich als Übersetzungsprobe gewählt habe, war Reise durch Galizien von Joseph Roth, der erste seiner Texte überhaupt, den ich Anfang 1990er für mich entdeckt hatte. Er faszinierte mich, weil darin meine kleine Heimat Galizien in einem so anderen, liebevollen, melancholischen Licht erschien. Ich brachte das Buch mit dem Text (es war Das reiche Land der armen Leute, herausgegeben von Martin Pollack und Karl-Markus Gauss) von meiner ersten Reise in den Westen nach Hause mit und freute mich auf die Perspektive, meine Begeisterung mit Freunden zu teilen. Jene erste Übersetzung scheiterte jedoch an meiner schülerhaften Wörtlichkeit, darin ging der Zauber des Textes verloren. Die noch auf einer Schreibmaschine getippten Seiten habe ich niemandem gezeigt, musste aber lange darüber nachdenken, wieso meine Übersetzung so schwerfällig und unlesbar war. Vieles, was ich bei jener Selbstanalyse entdeckte, hat mir eine gewisse Freiheit im Umgang mit literarischen Texten beigebracht.
Diese gewonnene Freiheit konnte ich schon bei meinem zweiten Übersetzungsversuch ausprobieren, als ich einige stürmische und augenzwinkernde Briefe des jungen Wolfgang Amadeus Mozart an seine Kusine übersetzte. Mozart war mir damals wohl verständlicher und vertrauter als Roth. Die Briefe wurden in einer Zeitschrift publiziert, und ich erhielt mehrere begeisterte Kommentare. Danach übersetzte ich öfter und sicherer, aber es waren meist Texte von eher knappem Umfang. Die Lehre, die mir noch bevorstand, war die Lehre der Zeit: Ich musste lernen, mir Zeit für einen Text zu nehmen, mit dem Text und im Text zu leben. Zum ersten Mal habe ich diese „Technik“ in Straelen angewendet, und gerade meine damalige Arbeit betrachte ich heute als eigentlichen Anfang meiner Beschäftigung mit Literaturübersetzungen. Zwischen den vier Seiten von Mozarts Briefen und den 400 Seiten von Terézia Moras Roman Alle Tage lagen mehr als zehn Jahre.
Unterscheidet sich Ihre Arbeitsweise je nachdem, ob Sie Prosa oder Lyrik übersetzen?
Wichtig, ja unentbehrlich ist für mich die Bemühung, mir die Schreib- und Denkweise der Autorin anzueignen. Dazu unternehme ich besonders gründlich den ersten Einstieg in den Text. Auch wenn es ein längerer Prosatext ist, beginne ich mit der ersten Seite bzw. den ersten Absätzen, lese mir die übersetzten Zeilen mehrere Male vor und überprüfe das lexikalische Register und den Textrhythmus, manchmal fertige ich sogar mehrere Varianten des Anfangs an. Diese Anfangsphase kann einige Tage dauern, bis ich endlich sehe, dass hinter der ukrainischen Version der Originaltext „erkennbar“ ist: in der Tonalität, in seiner Wirkung. Oft wird der erforderliche Effekt durch das Laborieren an der Wortfolge erreicht. Später, wenn die Arbeit bereits im Gange ist, suche ich mir jemanden zum Vorlesen (das Opfer meiner Vorlesungen ist meistens meine Mutter), und das Überprüfen der Hörreaktion zeigt mir immer, wo es noch schwache Stellen gibt.
Bei der Arbeit an lyrischen Texten gehe ich anders vor: Ich mache unbedingt eine Rohübersetzung des ganzen Textes „am Stück“. Das mache ich immer auf Papier, so kann die Schreibbewegung gewisse Assoziationsketten hervorrufen. Ich schreibe auch die Originalfassung auf, die Langsamkeit der Handbewegung verlangsamt das Mitdenken, lässt Zeit für das Verweilen im Text. Ein lyrischer Text braucht eine längere Ruhezeit. Ich meinerseits brauche Distanz zu meinen Argumenten und Interpretationen während der ersten Fassung der Übersetzung, bevor ich mit den obligatorischen Korrekturen beginne und schließlich den Text wieder zur Seite lege. Das Vorgehen wiederholt sich, bis es in meinem Kopf klickt: Mehr kann ich hier nicht erreichen.
Was sind besondere Schwierigkeiten bei der Übersetzung aus dem Deutschen ins Ukrainische?
Schwierig ist für mich eine gewisse Trockenheit bzw. Nüchternheit oder, noch genauer, Sachlichkeit der deutschen Sprache. Dazu gehört das Fehlen oder jedenfalls ein nicht so häufiger Gebrauch von Diminutiven wie im Ukrainischen, z. B. bei Gesprächen mit Kindern oder in der Kommunikation von Liebenden. Auch im Körperlichen sind deutsche Beschreibungen meistens konkreter als ähnliche Beschreibungen im Ukrainischen, nicht nur in Liebesszenen, sondern auch in der Darstellung von ganz gewöhnlichen Alltagshandlungen. Nicht dass das Ukrainische über entsprechendes Vokabular nicht verfügt, aber manchmal merke ich, dass wir eher zu Anspielungen oder selbstverständlichen Auslassungen neigen. Umso interessanter ist es, eine andere Darstellungsweise auszuprobieren, aber auch (meine erste Roth-Lektion!) nicht zu wörtlich zu werden.
Die allgemeine Großschreibung der Substantive im Deutschen kann man im Ukrainischen nur annähernd erahnen lassen, wenn manche Leitbegriffe zu ihrer Hervorhebung groß geschrieben werden. Heutzutage würde ich in mehreren ukrainischen Texten das Wort Frieden mit großem Buchstaben beginnen, so viel ist uns dieses Wort jetzt wert. Auch einen Autor mit durchgehender Kleinschreibung (wie Stefan Georges Lyrik) ins Ukrainische zu übersetzen heißt, sich über dieses technische Detail den Kopf zu zerbrechen.
Welche Autor:innen haben Sie bisher besonders gerne übersetzt und warum?
Da ich freiberufliche Übersetzerin bin, konnte ich fast immer selbst entscheiden, was ich übersetze. Eigentlich sind mir alle „meine“ Autor:innen gleich wichtig, wenn auch aus unterschiedlichen Gründen. Ich mag Terézia Moras philologischen und migrantischen Roman Alle Tage allein schon dafür, dass es mein erstes großes übersetztes Buch war. Die Interjektionen und Lautmalereien im Roman waren ein besonders spannender Teil der Übersetzung. Eines meiner Lieblingsbücher ist Heimsuchung von Jenny Erpenbeck, wo es bei der Übersetzung wichtig war, die Knappheit des Ausdrucks zu bewahren und gleichzeitig den ukrainischen Leser:innen beim Textverständnis beizustehen. Mit dem wunderbaren Roman Soutines letzte Fahrt von Ralph Dutli habe ich mir den Wunsch erfüllt, einmal ein größeres Buch über ein intensives und tragisches Künstlerleben in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts zu übersetzen. Die höchst poetischen Aufzeichnungen der Kindheits- und Jugendjahre von Ilma Rakusa in Mehr Meer haben meinen Hang zur Lyrikübersetzung gestillt. Wenn ich meine Autor:innen unter die Lupe nehme, sehe ich sofort, dass die von mir übersetzten Werke durch eine gewisse Poetizität verbunden sind, so dass gerade diese Eigenschaft für mich bei der Wahl eines Textes Priorität zu haben scheint.
Welche Wirkung auf die ukrainischen Leser:innen wünschen Sie sich?
Ich wünsche mir, dass die von mir übersetzten Romane den ukrainischen Leser:innen endlose Sprachmöglichkeiten demonstrieren, sie vielleicht auch zu der Suche nach Neuerungen im eigenen Sprachgebrauch motivieren, dass sie es schätzen, wenn ein literarisches Werk nicht nur eine spannende Lektüre, sondern auch und vor allem gut geschrieben ist. Ich wünsche mir, dass dank meiner Übersetzungen auch die Ukrainer:innen, deren Muttersprache Russisch ist, Spaß am Ukrainischen haben.