Humor­voll gegen alle Widrigkeiten

Der Roman „Auf dem Nullmeridian“ von Shady Lewis erforscht ein Leben zwischen den Kulturen und richtet sich dabei auch merklich an ein europäisches Publikum. Günther Orth beweist sicheres Gespür für den humorvollen Ton des Arabischen. Von

Cover von "Auf dem Null Meridian" von Shady Lewis. Blaue Tapete als Hintergrund.
Hintergrundbild: Steve Johnson via Unsplash

Wenn gleich zu Beginn des Romans der Ich-Erzäh­ler einen 20 Jah­re jün­ge­ren, ihm unbe­kann­ten Mann beer­di­gen soll, mag man gro­ßes Dra­ma erwar­ten. Doch in Auf dem Null­me­ri­di­an von Shady Lewis scheint kein Schick­sal zu schwer, um nicht etwas Skur­ri­les, Iro­ni­sches oder zumin­dest Sar­kas­ti­sches dar­an zu fin­den. Mit Gün­ther Orth hat ein erfah­re­ner Lite­ra­tur­über­set­zer den Ton­fall treff­si­cher ins Deut­sche über­tra­gen. Eben­so wie der Humor zieht sich das Bre­chen von Erwar­tun­gen durch den Roman, auch im Fall des ver­stor­be­nen Syrers namens Ghi­yath. Denn so tra­gisch des­sen Lebens- wie Todes­um­stän­de tat­säch­lich sind – der gro­ße Ges­tus bleibt aus. Als der selbst nicht nament­lich benann­te Erzäh­ler von einem Freund aus Kai­ro um die mys­te­riö­se Beer­di­gung gebe­ten wird, ist sofort sei­ne Neu­gier geweckt. Außer­dem sieht er nach zehn Jah­ren in Lon­don, in denen er zwar in der bri­ti­schen Haupt­stadt Fuß gefasst hat, aber emo­tio­nal nie ganz ange­kom­men ist, „eine ein­ma­li­ge Chan­ce zu bewei­sen, dass es auch jeman­dem von Nut­zen sein kann, dass ich nun hier lebe.“

Auf die Neu­gier nach den Todes­um­stän­den des jun­gen Man­nes folgt beim Erzäh­ler jedoch gleich die Ent­täu­schung – weni­ger wegen eines tat­säch­lich lang­wei­li­gen Ein­zel­schick­sals als viel­mehr des­we­gen, weil er offen­sicht­lich eini­ges an Ernüch­te­rung ange­sam­melt hat. Nicht nur sieht er sich selbst als ägyp­ti­scher Immi­grant regel­mä­ßig mit hart­nä­cki­gen Ste­reo­ty­pen kon­fron­tiert. Als Mit­ar­bei­ter einer Wohn­raum­be­hör­de hat er zudem mehr damit zu tun, die – oft selbst migran­ti­schen – Aus­ge­sto­ße­nen der Gesell­schaft zu ver­wal­ten, als ihnen tat­säch­lich hel­fen zu kön­nen. Ledig­lich sein Onkel, den es unter wid­ri­ge­ren Bedin­gun­gen nach Ita­li­en ver­schla­gen hat, ist „rest­los begeis­tert“, dass ein Ver­wand­ter es im Aus­land zu einem Job mit eige­nem Büro­stuhl und Schreib­tisch geschafft hat.

Ent­spre­chend abge­brüht beginnt der Prot­ago­nist Ghi­yaths Geschich­te nach­zu­er­zäh­len: „Sei­ne Geschich­te aber war ein wenig lang­wei­lig und ent­täu­schend, sodass ich mich kaum an ihre wesent­li­chen Eck­punk­te erin­ne­re.“ – um dann ein regel­rech­tes Feu­er­werk der Extre­me aus dem Leben des noch jun­gen Ver­stor­be­nen wie­der­zu­ge­ben. Viel­mehr könn­te es ein Feu­er­werk sein, wenn der Erzäh­ler das Schick­sal des Ver­stor­be­nen nicht als tro­cke­ne Auf­zäh­lung von Ereig­nis­sen wie­der­ge­ben wür­de – als hät­te sich der aus­sichts­lo­se Behör­den­all­tag bereits in alle Poren sei­nes Den­kens und Füh­lens hin­ein­ge­schli­chen. Dabei wer­den die angeb­li­chen Erleb­nis­se des Ver­stor­be­nen der­art ins Unglaub­wür­di­ge über­spitzt, dass sie unwei­ger­lich wie eine bit­te­re Par­odie auf den euro­päi­schen Umgang mit Asyl­su­chen­den erschei­nen. Nichts scheint mehr schlimm genug, um irgend­je­man­des Auf­merk­sam­keit und Mit­ge­fühl zu verdienen.

Im Ori­gi­nal heißt es sogar: „Ich hal­te es für mög­lich, dass die Geschich­te noch lang­wei­li­ger wei­ter­geht…“ So ver­an­schau­licht der Erzäh­ler zudem die Abge­stumpft­heit, mit der Kriegs­mel­dun­gen häu­fig als rei­ne Zah­len­kon­struk­te rezi­piert wer­den. Es mag aber eine Geschmacks­fra­ge sein, ob die­se Stei­ge­rung der Lan­ge­wei­le im Deut­schen den Gesprächs­cha­rak­ter der Erzäh­lung eben­so erhal­ten hät­te. Blu­mi­ge­re Aus­schmü­ckun­gen des Ori­gi­nals wie „in den Laby­rin­then all die­ser Details“ hät­ten dage­gen bei einer zu wört­li­chen Über­set­zung eher zu einer unnö­ti­gen Exo­ti­sie­rung des Tex­tes bei­getra­gen. Mit dem ver­kürz­ten „im Ein­zel­nen“ hat sich Orth daher zwei­fel­los für eine tref­fen­de­re Ent­spre­chung entschieden.

Der Roman ist auch jen­seits der Migra­ti­ons­the­ma­tik hoch­ak­tu­ell für unse­re moder­nen Ver­ein­ze­lungs­ge­sell­schaf­ten. Das zeigt nicht zuletzt das Schick­sal des jun­gen Ghi­yath, der nach den aben­teu­er­lichs­ten Wid­rig­kei­ten aus­ge­rech­net in der Ein­sam­keit eines Lon­do­ner WG-Zim­mers stirbt und dort mit drei Tagen Ver­spä­tung ent­deckt wird. So wer­den Migra­ti­ons­er­fah­run­gen hier zur Chif­fre für weit­aus uni­ver­sel­le­re mensch­li­che Erfah­run­gen. Deut­lich wird das eben­so am Titel geben­den Null­me­ri­di­an – dem durch die Lon­do­ner Stern­war­te Green­wich ver­lau­fen­den Meri­di­an, der die Welt in Ost und West teilt und an dem sich der Erzäh­ler in einer Schlüs­sel­sze­ne mit einem Arbeits­kol­le­gen trifft. Des­sen Inter­pre­ta­ti­on für den sym­bol­träch­ti­gen Ort lässt der Erzäh­ler dabei nicht unwidersprochen.

So wer­den letzt­lich Macht­fra­gen auf ver­schie­de­nen Ebe­nen durch­ge­spielt. Kunst­voll ver­webt der Roman dabei die Geschich­te des ver­stor­be­nen Ghi­yath mit dem Leben des Erzäh­lers in Lon­don und des­sen Erin­ne­run­gen an Kai­ro: Wäh­rend Ghi­yaths in Ägyp­ten geblie­be­nen Eltern glei­cher­ma­ßen an der bri­ti­schen Bot­schaft wie den ägyp­ti­schen Insti­tu­tio­nen ver­zwei­feln, kämpft sich der Erzäh­ler in Lon­don durch das büro­kra­ti­sche Getrie­be, in dem er regel­mä­ßig mit sei­ner eige­nen Wir­kungs­lo­sig­keit kon­fron­tiert ist. Und der Roman hält noch so manch ande­ren Todes­fall parat.

Doch bei allen Unge­rech­tig­kei­ten, die der Erzäh­ler anspricht: Ein­fa­che Erklä­run­gen sucht man hier ver­geb­lich, und am Ende kommt nie­mand unge­scho­ren davon. Alle wer­den auf iro­ni­sche Wei­se für ihre Vor­ur­tei­le und Fehl­bar­kei­ten ent­larvt: Kolleg:innen des Erzäh­lers, die ihn pflicht­be­wusst an mus­li­mi­sche Spei­se­vor­schrif­ten erin­nern und kaum akzep­tie­ren kön­nen, dass er ein kop­ti­scher Christ ist; der Onkel, der nach sei­ner Ankunft in Ita­li­en schwer ent­täuscht ist, als Christ kei­ne bes­se­re Behand­lung zu erfah­ren als mus­li­mi­sche Geflüch­te­te; die Mut­ter des Erzäh­lers, die im Streit ihre Nach­barn syn­onym als „Flücht­lin­ge“ und „Paläs­ti­nen­ser“ beschimpft, um dann fest­zu­stel­len, dass die­se Nach­barn als Ober­ägyp­ter im Sechs­ta­ge­krieg aus Sues ver­trie­ben wur­den; und selbst der Erzäh­ler muss auch mal ein über­heb­li­ches Urteil über ande­re revidieren.

Die fei­ne Beob­ach­tungs­ga­be des Erzäh­lers gehört zu den gro­ßen Stär­ken des Romans. Sei­en es melan­cho­li­sche Fest­stel­lun­gen wie „wenn man kei­nen Freund hat, den man auch um vier Uhr mor­gens noch anru­fen könn­te, dann hat man gar kei­ne Freun­de“ oder die Erklä­rung dafür, wes­halb er in Lon­don als ers­tes den Spea­k­ers‘ Cor­ner im Hyde Park besu­chen woll­te – näm­lich nicht, um Mei­nungs­frei­heit kennenzulernen:

Auch hier erlaubt sich Orth in der Über­set­zung wie­der eine Ver­kür­zung, indem er den letz­ten Teil­satz aus­lässt (wört­lich: „und dem man nach einem wöchent­li­chen Ter­min fol­gen kann“). Dem Rhyth­mus der deut­schen Fas­sung kommt das aller­dings zugu­te – schließ­lich sind hier auch so schon Rela­tiv­sät­ze nötig, wo die ara­bi­sche Gram­ma­tik mit ihren Per­so­nal­pro­no­men-Suf­fi­xen eine flie­ßen­de­re Ver­bin­dung der Auf­zäh­lung und der dar­in lie­gen­den Bezü­ge ermög­licht. Eben­so über­zeugt die Über­tra­gung von „ha’ulā‘ l‑malāꜤīn“ mit „die­se schlau­en Eng­län­der“ – wört­lich hie­ße es schlicht „die­se Ver­fluch­ten“, was aber im Deut­schen deut­lich schwe­rer und auch unvoll­stän­dig klingt und dem humor­vol­len Grund­ton der Erzäh­lung kaum gerecht würde.

Zu erzäh­le­ri­scher Höchst­form läuft der Prot­ago­nist auf, als er einem für Lei­chen zustän­di­gen Kran­ken­haus­mit­ar­bei­ter die Ver­stri­ckun­gen des ara­bi­schen „Gruß­bür­ger­kriegs“ dar­legt. Denn als der den Erzäh­ler in gebro­che­nem Ara­bisch mit „Salam alei­kum!“ begrüßt, bricht sich bei die­sem ein jah­re­lang ange­stau­ter Frust über Aus­gren­zungs­er­fah­run­gen als Ägyp­ter und kop­ti­scher Christ Bahn. Er fällt regel­recht über den schlicht als „Baum­woll­mann“ bezeich­ne­ten Mit­ar­bei­ter her – um gleich dar­auf in Erklä­rungs­not über den Wut­aus­bruch zu gera­ten. Denn der ver­schreck­te „Baum­woll­mann“ lässt sich nicht ein­fach damit abspei­sen, „dass Salam alei­kum kein Gruß ist, der mir oder die­ser Situa­ti­on ange­mes­sen ist“, wie es der Erzäh­ler zunächst ver­sucht und schließ­lich wei­ter aus­ho­len muss, wel­che Fall­stri­cke und poli­ti­sier­ten Fett­näpf­chen es in den ara­bi­schen Begrü­ßungs­for­men gibt. Auch hier stellt Gün­ther Orth wie­der sei­ne Kunst­fer­tig­keit unter Beweis, indem er bei der Viel­falt an auf­ge­zähl­ten ara­bi­schen Gruß­mög­lich­kei­ten an geeig­ne­ter Stel­le zu freie­ren Varia­tio­nen greift. So bleibt etwa die Reim­struk­tur von „ṡabāḥ al-los“ und „ṡabāḥ al-gos“ durch die Über­set­zung „Einen Mor­gen vol­ler Nüs­se“ und „Einen Mor­gen vol­ler Küs­se“ erhal­ten – im Ori­gi­nal sind es zuerst Man­deln, dann Nüs­se, wobei „gos“ im ägyp­ti­schen wie eini­gen ande­ren ara­bi­schen Dia­lek­ten auch der Ehe­mann ist.

Auch wenn es an ein­zel­nen Stel­len Geschmacks­fra­ge sein mag, wel­che über­set­ze­ri­schen Frei­hei­ten Gün­ther Orth sich bei der Über­tra­gung ins Deut­sche genom­men hat: Ins­ge­samt ist eine abso­lut lesens­wer­te Über­set­zung ent­stan­den, die den humor­voll-melan­cho­li­schen und immer wie­der auch phi­lo­so­phi­schen Ton­fall des Erzäh­lers tref­fend ein­fängt. Eine eng­li­sche Über­set­zung steht zwar noch aus, aber neben einer fran­zö­si­schen Über­set­zung ist Auf dem Null­me­ri­di­an mit der deut­schen Über­set­zung nun glück­li­cher­wei­se auch einem grö­ße­ren euro­päi­schen Lese­pu­bli­kum zugäng­lich. Denn die­ses dürf­te Shady Lewis, der selbst seit vie­len Jah­ren in Lon­don lebt, beim Schrei­ben von Anfang an vor Augen gehabt haben.


Auf dem Nullmeridian

Im ara­bi­schen Ori­gi­nal: Ala Khat Green­wich

Hoff­mann und Cam­pe 2023 ⋅ 224 Sei­ten ⋅ 24 Euro


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