Wenn gleich zu Beginn des Romans der Ich-Erzähler einen 20 Jahre jüngeren, ihm unbekannten Mann beerdigen soll, mag man großes Drama erwarten. Doch in Auf dem Nullmeridian von Shady Lewis scheint kein Schicksal zu schwer, um nicht etwas Skurriles, Ironisches oder zumindest Sarkastisches daran zu finden. Mit Günther Orth hat ein erfahrener Literaturübersetzer den Tonfall treffsicher ins Deutsche übertragen. Ebenso wie der Humor zieht sich das Brechen von Erwartungen durch den Roman, auch im Fall des verstorbenen Syrers namens Ghiyath. Denn so tragisch dessen Lebens- wie Todesumstände tatsächlich sind – der große Gestus bleibt aus. Als der selbst nicht namentlich benannte Erzähler von einem Freund aus Kairo um die mysteriöse Beerdigung gebeten wird, ist sofort seine Neugier geweckt. Außerdem sieht er nach zehn Jahren in London, in denen er zwar in der britischen Hauptstadt Fuß gefasst hat, aber emotional nie ganz angekommen ist, „eine einmalige Chance zu beweisen, dass es auch jemandem von Nutzen sein kann, dass ich nun hier lebe.“
Auf die Neugier nach den Todesumständen des jungen Mannes folgt beim Erzähler jedoch gleich die Enttäuschung – weniger wegen eines tatsächlich langweiligen Einzelschicksals als vielmehr deswegen, weil er offensichtlich einiges an Ernüchterung angesammelt hat. Nicht nur sieht er sich selbst als ägyptischer Immigrant regelmäßig mit hartnäckigen Stereotypen konfrontiert. Als Mitarbeiter einer Wohnraumbehörde hat er zudem mehr damit zu tun, die – oft selbst migrantischen – Ausgestoßenen der Gesellschaft zu verwalten, als ihnen tatsächlich helfen zu können. Lediglich sein Onkel, den es unter widrigeren Bedingungen nach Italien verschlagen hat, ist „restlos begeistert“, dass ein Verwandter es im Ausland zu einem Job mit eigenem Bürostuhl und Schreibtisch geschafft hat.
Entsprechend abgebrüht beginnt der Protagonist Ghiyaths Geschichte nachzuerzählen: „Seine Geschichte aber war ein wenig langweilig und enttäuschend, sodass ich mich kaum an ihre wesentlichen Eckpunkte erinnere.“ – um dann ein regelrechtes Feuerwerk der Extreme aus dem Leben des noch jungen Verstorbenen wiederzugeben. Vielmehr könnte es ein Feuerwerk sein, wenn der Erzähler das Schicksal des Verstorbenen nicht als trockene Aufzählung von Ereignissen wiedergeben würde – als hätte sich der aussichtslose Behördenalltag bereits in alle Poren seines Denkens und Fühlens hineingeschlichen. Dabei werden die angeblichen Erlebnisse des Verstorbenen derart ins Unglaubwürdige überspitzt, dass sie unweigerlich wie eine bittere Parodie auf den europäischen Umgang mit Asylsuchenden erscheinen. Nichts scheint mehr schlimm genug, um irgendjemandes Aufmerksamkeit und Mitgefühl zu verdienen.
Im Original heißt es sogar: „Ich halte es für möglich, dass die Geschichte noch langweiliger weitergeht…“ So veranschaulicht der Erzähler zudem die Abgestumpftheit, mit der Kriegsmeldungen häufig als reine Zahlenkonstrukte rezipiert werden. Es mag aber eine Geschmacksfrage sein, ob diese Steigerung der Langeweile im Deutschen den Gesprächscharakter der Erzählung ebenso erhalten hätte. Blumigere Ausschmückungen des Originals wie „in den Labyrinthen all dieser Details“ hätten dagegen bei einer zu wörtlichen Übersetzung eher zu einer unnötigen Exotisierung des Textes beigetragen. Mit dem verkürzten „im Einzelnen“ hat sich Orth daher zweifellos für eine treffendere Entsprechung entschieden.
Der Roman ist auch jenseits der Migrationsthematik hochaktuell für unsere modernen Vereinzelungsgesellschaften. Das zeigt nicht zuletzt das Schicksal des jungen Ghiyath, der nach den abenteuerlichsten Widrigkeiten ausgerechnet in der Einsamkeit eines Londoner WG-Zimmers stirbt und dort mit drei Tagen Verspätung entdeckt wird. So werden Migrationserfahrungen hier zur Chiffre für weitaus universellere menschliche Erfahrungen. Deutlich wird das ebenso am Titel gebenden Nullmeridian – dem durch die Londoner Sternwarte Greenwich verlaufenden Meridian, der die Welt in Ost und West teilt und an dem sich der Erzähler in einer Schlüsselszene mit einem Arbeitskollegen trifft. Dessen Interpretation für den symbolträchtigen Ort lässt der Erzähler dabei nicht unwidersprochen.
So werden letztlich Machtfragen auf verschiedenen Ebenen durchgespielt. Kunstvoll verwebt der Roman dabei die Geschichte des verstorbenen Ghiyath mit dem Leben des Erzählers in London und dessen Erinnerungen an Kairo: Während Ghiyaths in Ägypten gebliebenen Eltern gleichermaßen an der britischen Botschaft wie den ägyptischen Institutionen verzweifeln, kämpft sich der Erzähler in London durch das bürokratische Getriebe, in dem er regelmäßig mit seiner eigenen Wirkungslosigkeit konfrontiert ist. Und der Roman hält noch so manch anderen Todesfall parat.
Doch bei allen Ungerechtigkeiten, die der Erzähler anspricht: Einfache Erklärungen sucht man hier vergeblich, und am Ende kommt niemand ungeschoren davon. Alle werden auf ironische Weise für ihre Vorurteile und Fehlbarkeiten entlarvt: Kolleg:innen des Erzählers, die ihn pflichtbewusst an muslimische Speisevorschriften erinnern und kaum akzeptieren können, dass er ein koptischer Christ ist; der Onkel, der nach seiner Ankunft in Italien schwer enttäuscht ist, als Christ keine bessere Behandlung zu erfahren als muslimische Geflüchtete; die Mutter des Erzählers, die im Streit ihre Nachbarn synonym als „Flüchtlinge“ und „Palästinenser“ beschimpft, um dann festzustellen, dass diese Nachbarn als Oberägypter im Sechstagekrieg aus Sues vertrieben wurden; und selbst der Erzähler muss auch mal ein überhebliches Urteil über andere revidieren.
Die feine Beobachtungsgabe des Erzählers gehört zu den großen Stärken des Romans. Seien es melancholische Feststellungen wie „wenn man keinen Freund hat, den man auch um vier Uhr morgens noch anrufen könnte, dann hat man gar keine Freunde“ oder die Erklärung dafür, weshalb er in London als erstes den Speakers‘ Corner im Hyde Park besuchen wollte – nämlich nicht, um Meinungsfreiheit kennenzulernen:
Auch hier erlaubt sich Orth in der Übersetzung wieder eine Verkürzung, indem er den letzten Teilsatz auslässt (wörtlich: „und dem man nach einem wöchentlichen Termin folgen kann“). Dem Rhythmus der deutschen Fassung kommt das allerdings zugute – schließlich sind hier auch so schon Relativsätze nötig, wo die arabische Grammatik mit ihren Personalpronomen-Suffixen eine fließendere Verbindung der Aufzählung und der darin liegenden Bezüge ermöglicht. Ebenso überzeugt die Übertragung von „ha’ulā‘ l‑malāꜤīn“ mit „diese schlauen Engländer“ – wörtlich hieße es schlicht „diese Verfluchten“, was aber im Deutschen deutlich schwerer und auch unvollständig klingt und dem humorvollen Grundton der Erzählung kaum gerecht würde.
Zu erzählerischer Höchstform läuft der Protagonist auf, als er einem für Leichen zuständigen Krankenhausmitarbeiter die Verstrickungen des arabischen „Grußbürgerkriegs“ darlegt. Denn als der den Erzähler in gebrochenem Arabisch mit „Salam aleikum!“ begrüßt, bricht sich bei diesem ein jahrelang angestauter Frust über Ausgrenzungserfahrungen als Ägypter und koptischer Christ Bahn. Er fällt regelrecht über den schlicht als „Baumwollmann“ bezeichneten Mitarbeiter her – um gleich darauf in Erklärungsnot über den Wutausbruch zu geraten. Denn der verschreckte „Baumwollmann“ lässt sich nicht einfach damit abspeisen, „dass Salam aleikum kein Gruß ist, der mir oder dieser Situation angemessen ist“, wie es der Erzähler zunächst versucht und schließlich weiter ausholen muss, welche Fallstricke und politisierten Fettnäpfchen es in den arabischen Begrüßungsformen gibt. Auch hier stellt Günther Orth wieder seine Kunstfertigkeit unter Beweis, indem er bei der Vielfalt an aufgezählten arabischen Grußmöglichkeiten an geeigneter Stelle zu freieren Variationen greift. So bleibt etwa die Reimstruktur von „ṡabāḥ al-los“ und „ṡabāḥ al-gos“ durch die Übersetzung „Einen Morgen voller Nüsse“ und „Einen Morgen voller Küsse“ erhalten – im Original sind es zuerst Mandeln, dann Nüsse, wobei „gos“ im ägyptischen wie einigen anderen arabischen Dialekten auch der Ehemann ist.
Auch wenn es an einzelnen Stellen Geschmacksfrage sein mag, welche übersetzerischen Freiheiten Günther Orth sich bei der Übertragung ins Deutsche genommen hat: Insgesamt ist eine absolut lesenswerte Übersetzung entstanden, die den humorvoll-melancholischen und immer wieder auch philosophischen Tonfall des Erzählers treffend einfängt. Eine englische Übersetzung steht zwar noch aus, aber neben einer französischen Übersetzung ist Auf dem Nullmeridian mit der deutschen Übersetzung nun glücklicherweise auch einem größeren europäischen Lesepublikum zugänglich. Denn dieses dürfte Shady Lewis, der selbst seit vielen Jahren in London lebt, beim Schreiben von Anfang an vor Augen gehabt haben.