
In dieser Reihe stellen Übersetzer:innen Bücher aus „ihrem“ Land vor – spannend, wegweisend, romantisch, subtil, haarsträubend oder urkomisch – und in jedem Fall lesenswert. Ob Klassiker oder Zeitgenössisches, Krimis, Poesie oder Kinderbücher … diese ganz persönliche Leseliste lädt dazu ein, die literarische Landschaft des Landes vom Sofa aus zu bereisen. Viel Spaß beim Schmökern!
Kriegsbericht
Ostap Slyvynsky: Wörter im Krieg
Aus dem Ukrainischen übersetzt von Maria Weissenböck. Edition.fototapeta 2023
Der ukrainische Lyriker Ostap Slyvynsky dokumentiert die veränderte Erfahrungswelt der Ukrainer seit Beginn des Angriffskriegs im Februar 2022. Im vergangenen Frühjahr arbeitete er als ehrenamtlicher Helfer auf dem Bahnhof in Lwiw, nahm dort Geflüchtete in Empfang und ermunterte sie, über Erlebtes zu sprechen. Diese Berichte hat er gesammelt und zu einem Wörterbuch mit insgesamt 81 knappen Einträgen zusammengestellt. Die aus verschiedenen Landesteilen Geflohenen machen die Kontaktzone zwischen Krieg und Alltag sichtbar, sie schildern und reflektieren Erlebtes, zugleich erzählen sie ihre individuellen Bewältigungsstrategien, wobei sie nicht selten zu Metaphern greifen, um das Unfassbare in Worte zu fassen. Slyvynsky ordnet die Berichte nach zentralen Begriffen in Form eines Wörterbuchs und lenkt so das Augenmerk darauf, wie sich im Krieg nicht nur das Leben, sondern auch die Sprache verändert. Vertraute Begriffe reichern sich mit neuen Bedeutungen an und entwickeln neue Assoziationsräume. So verschiebt sich etwa im Wort „Badezimmer“ die Bedeutung von einem Raum, in dem man sich der Körperpflege widmet, hin zu einem Ort, in dem man sich vor Bombenangriffen in Sicherheit bringt. Die Übersetzung von Maria Weissenböck arbeitet die Facetten der Verschiebung umsichtig heraus.
Roman
Haska Shyyan: Hinter dem Rücken
Aus dem Ukrainischen übersetzt von Claudia Dathe. Edition.Fototapeta 2023
Der Roman zeichnet ein Porträt der gegenwärtigen ukrainischen Gesellschaft, die noch immer im Prozess der postsowjetischen Transformation steckt und mit dem im Osten des Landes bereits seit 2014 andauernden Krieg und dessen Folgen konfrontiert ist. Im Zentrum des Romans steht Marta, eine junge Frau, gut verdienende Personalmanagerin in einem aufstrebenden IT-Unternehmen. Ihr Freund, mit dem sie zusammenlebt, meldet sich als Freiwilliger für die ukrainische Armee. Marta akzeptiert diese Entscheidung, zeigt allerdings keine rückhaltlose Unterstützung, und probiert nach seinem Weggang ein Leben als moderne Single-Frau. Shyyan lässt zahlreiche Beobachtungen über die ukrainische Gesellschaft in den Text einfließen. Zentral sind die Themen Freiheit, selbstbestimmtes Leben, häusliche Gewalt und das Rollenverständnis von Frauen. Shyyans weltläufiger Roman, gehalten in einer lockeren Umgangssprache mit Einsprengseln aus dem Russischen, Französischen und Englischen, übersetzt sich atmosphärisch und mit einer Freude am Springen zwischen Sprachen und Vorstellungswelten.
Roman
Walerjan Pidmohylnyj: Die Stadt
Aus dem Ukrainischen übersetzt von Alexander Kratochvil, Lukas Joura, Jakob Wunderwald und Lina Zalitok. Guggolz 2022
Walerjan Pidmohylnyj entfaltet ein Panorama der Modernisierung im Kyjiw der 1920er Jahre. Sein Protagonist Stepan Radtschenko, früherer Revolutionär und Dorffunktionär, wird zum Studium in die Stadt delegiert, die er zunächst als feindlich und dekadent empfindet. Mit viel Ehrgeiz, Fleiß und einer gehörigen Portion Egoismus macht er sich daran, „die Stadt zu erobern“. Schnell fasst er Fuß, findet Arbeit und Gefährtinnen. Sein Aufstieg ist begleitet vom Wunsch, die alten vorrevolutionären Kräfte abzulösen und eine neue sozialistische Kultur zu entwickeln. Pidmohylnyj erzählt aus der Perspektive des Protagonisten, in dessen Beobachtungen und Reflexionen sich der Zeitgeist spiegelt. Die Leser*innen erfahren viel über den damaligen kulturellen Aufbruch in der Ukraine. Pidmohylnyj rückt das Schicksal eines einzelnen Menschen mit seinen Erfolgen, seiner Scham, seinen Zweifeln und seinem Scheitern in den Mittelpunkt. Das wurde ihm von seinen Kritikern vorgeworfen, die an dem Roman die fehlende Hinwendung zur Gemeinschaft bemängelten. Wie die meisten seiner Kollegen wurde auch Walerjan Pidmohylnyj 1937 während der Stalinschen Repressionen erschossen. Der Übersetzung von Alexander Kratochvil, Lukas Joura, Jakob Wunderwald und Lina Zalitok, die aus einem universitären Projekt entstanden ist, gelingt es, den reflektierend-kommentierenden Ton der 1920er Jahre in die Gegenwart zu übertragen.
Roman
Tanja Maljartschuk: Blauwal der Erinnerung
Aus dem Ukrainischen übersetzt von Maria Weissenböck. Kiepenheuer & Witsch 2019
Blauwal der Erinnerung, im Ukrainischen „Sabuttja“ (Dt. Vergessen) ist ein Werk gegen das unausweichliche Verlöschen der Erinnerung, gegen die Zeit, die mit ihrem Lauf „Millionen Tonnen Leben verschlingt“, wie es am Anfang des Romans heißt. Von Zeit und Vergessen verschlungen zu werden droht der Protagonist Wjatscheslaw Lypynskyj, ein polnischer Adeliger, der sich als Großgrundbesitzer in der Zentralukraine Anfang des 20. Jahrhunderts der ukrainischen Nationalbewegung anschließt und in der kurzen Zeit der ukrainischen Staatlichkeit 1918/19 unter Pawlo Skoropadskyj Botschafter in Wien wird. Tanja Maljartschuk verflicht in ihrem Roman Lypynskys Werdegang bis Ende der 1920er Jahre und die Ereignisse um die gescheiterte ukrainische Staatsgründung nach dem Ersten Weltkrieg mit der Erzählung von einer jungen Frau in der Gegenwart, die auf ihrer Suche nach dem Weg ins Leben auch Spuren der ukrainischen Geschichte nachgeht. Der von Maria Weissenböck übersetzte Roman besticht durch die Verbindung inspirierender biografischer Episoden mit allgemeinen Betrachtungen zu gesellschaftlichen und politischen Entwicklungen der Zeit und schlägt einen gelungenen Bogen in die Gegenwart.
Reisebericht
Sofia Yablonska: China, das Land von Reis und Opium
Aus dem Ukrainischen übersetzt von Claudia Dathe. Kupido Literaturverlag 2023
Sofia Yablonska hält in ihrem Reisebericht beschreibend, erzählend und reflektierend die Beobachtungen und Erfahrungen fest, die sie auf ihrer Reise nach China im Jahr 1933 gemacht hat. Die Texte vermitteln den Leser*innen einen individuellen Einblick in ihre Erlebnis- und Vorstellungswelt, die geprägt ist von ihrem Leben als junge Frau im mehrsprachigen, multiethnischen, kriegsversehrten Ostgalizien, von ihrer Neugier und Hinwendung zu anderen Kulturen und Gesellschaften und einer Verankerung in europäischen Denkmustern. Die einzelnen Episoden geben die Atmosphäre in den Städten und ländlichen Regionen der Provinz Yunnan wieder und stellen die Erfahrungen des Fremdseins heraus. Ebenfalls thematisiert und reflektiert werden die komplizierten Beziehungen zwischen China und Europa in den 1930er Jahren und die damit verbundenen unterschiedlichen Lebens‑, Gemeinschafts- und Fortschrittskonzepte. Yablonska kommt aus Ostgalizien, und so ist ihre Sprache geprägt von der unkonventionellen Mehrsprachigkeit, die sie in ihren jungen Jahren dort ge- und erlebt hat. Sie verwendet ungewöhnliche Kollokationen und streut polnische, russische oder französische Wörter in den ukrainischen Text ein. Meine Übersetzung versucht, dieses Sprachengeflecht zu rekonstruieren.
Kindersachbuch
Romana Romanyschyn und Andrij Lessiw: Hierhin, dahin. Immer in Bewegung
Aus dem Ukrainischen übersetzt von Claudia Dathe. Gerstenberg 2023
Menschen sind von alters her unterwegs – um zu erkunden, Handel zu treiben oder zu erobern. Mit immer raffinierteren Hilfsmitteln durchqueren sie Wüsten und Meere und fliegen sogar in den Kosmos. Auch Tiere sind immer in Bewegung – ob auf Nahrungssuche oder auf dem Weg zu Brutplätzen und Winterquartieren. Romana Romanyschyns und Andrij Lessiws Sachbuch Hierhin, dahin. Immer in Bewegung stellt in Wort und Bild die Bewegung von Mensch und Tier im Lauf der Zeiten vor. Die Texte vermitteln historische und naturwissenschaftliche Informationen zur Bewegung und zeigen die Gründe, warum Menschen und Tiere unterwegs sind, und Einsichten, die auf Reisen gewonnen werden. Die dynamischen Bilder illustrieren alles Wandernde, Ziehende, Marschierende, Fliegende, Kriechende. Meine Übersetzung verbindet die verschiedenen Facetten des Enzyklopädisch-Präzisen mit dem Assoziierend-Sinnierenden.
Noch mehr zur ukrainischen Sprache, Literatur und Kultur erfahrt ihr in unserem Beitrag Große kleine Sprache Ukrainisch!