6 Bücher aus der Ukraine

Auf der Suche nach außergewöhnlichem Lesestoff? Hier werdet ihr fündig: eine literarische Entdeckungsreise durch die Ukraine. Von

Illustration der Stadt Kyiv. Häuser, Bäume, Bücher und bekannte Sehenswürdigkeiten sind abgebildet.
Claudia Dathe stellt 6 Bücher aus der Ukraine vor. Mit Midjourney geht es nach Kyiv.

In die­ser Rei­he stel­len Übersetzer:innen Bücher aus „ihrem“ Land vor – span­nend, weg­wei­send, roman­tisch, sub­til, haar­sträu­bend oder urko­misch – und in jedem Fall lesens­wert. Ob Klas­si­ker oder Zeit­ge­nös­si­sches, Kri­mis, Poe­sie oder Kin­der­bü­cher … die­se ganz per­sön­li­che Lese­lis­te lädt dazu ein, die lite­ra­ri­sche Land­schaft des Lan­des vom Sofa aus zu berei­sen. Viel Spaß beim Schmökern!


Kriegs­be­richt
Ost­ap Sly­vyn­sky: Wör­ter im Krieg
Aus dem Ukrai­ni­schen über­setzt von Maria Weis­sen­böck. Edition.fototapeta 2023

Der ukrai­ni­sche Lyri­ker Ost­ap Sly­vyn­sky doku­men­tiert die ver­än­der­te Erfah­rungs­welt der Ukrai­ner seit Beginn des Angriffs­kriegs im Febru­ar 2022. Im ver­gan­ge­nen Früh­jahr arbei­te­te er als ehren­amt­li­cher Hel­fer auf dem Bahn­hof in Lwiw, nahm dort Geflüch­te­te in Emp­fang und ermun­ter­te sie, über Erleb­tes zu spre­chen. Die­se Berich­te hat er gesam­melt und zu einem Wör­ter­buch mit ins­ge­samt 81 knap­pen Ein­trä­gen zusam­men­ge­stellt. Die aus ver­schie­de­nen Lan­des­tei­len Geflo­he­nen machen die Kon­takt­zo­ne zwi­schen Krieg und All­tag sicht­bar, sie schil­dern und reflek­tie­ren Erleb­tes, zugleich erzäh­len sie ihre indi­vi­du­el­len Bewäl­ti­gungs­stra­te­gien, wobei sie nicht sel­ten zu Meta­phern grei­fen, um das Unfass­ba­re in Wor­te zu fas­sen. Sly­vyn­sky ord­net die Berich­te nach zen­tra­len Begrif­fen in Form eines Wör­ter­buchs und lenkt so das Augen­merk dar­auf, wie sich im Krieg nicht nur das Leben, son­dern auch die Spra­che ver­än­dert. Ver­trau­te Begrif­fe rei­chern sich mit neu­en Bedeu­tun­gen an und ent­wi­ckeln neue Asso­zia­ti­ons­räu­me. So ver­schiebt sich etwa im Wort „Bade­zim­mer“ die Bedeu­tung von einem Raum, in dem man sich der Kör­per­pfle­ge wid­met, hin zu einem Ort, in dem man sich vor Bom­ben­an­grif­fen in Sicher­heit bringt. Die Über­set­zung von Maria Weis­sen­böck arbei­tet die Facet­ten der Ver­schie­bung umsich­tig heraus.


Roman
Has­ka Shy­yan: Hin­ter dem Rücken
Aus dem Ukrai­ni­schen über­setzt von Clau­dia Dathe. Edition.Fototapeta 2023

Der Roman zeich­net ein Por­trät der gegen­wär­ti­gen ukrai­ni­schen Gesell­schaft, die noch immer im Pro­zess der post­so­wje­ti­schen Trans­for­ma­ti­on steckt und mit dem im Osten des Lan­des bereits seit 2014 andau­ern­den Krieg und des­sen Fol­gen kon­fron­tiert ist. Im Zen­trum des Romans steht Mar­ta, eine jun­ge Frau, gut ver­die­nen­de Per­so­nal­ma­na­ge­rin in einem auf­stre­ben­den IT-Unter­neh­men. Ihr Freund, mit dem sie zusam­men­lebt, mel­det sich als Frei­wil­li­ger für die ukrai­ni­sche Armee. Mar­ta akzep­tiert die­se Ent­schei­dung, zeigt aller­dings kei­ne rück­halt­lo­se Unter­stüt­zung, und pro­biert nach sei­nem Weg­gang ein Leben als moder­ne Sin­gle-Frau. Shy­yan lässt zahl­rei­che Beob­ach­tun­gen über die ukrai­ni­sche Gesell­schaft in den Text ein­flie­ßen. Zen­tral sind die The­men Frei­heit, selbst­be­stimm­tes Leben, häus­li­che Gewalt und das Rol­len­ver­ständ­nis von Frau­en. Shy­yans welt­läu­fi­ger Roman, gehal­ten in einer locke­ren Umgangs­spra­che mit Ein­spreng­seln aus dem Rus­si­schen, Fran­zö­si­schen und Eng­li­schen, über­setzt sich atmo­sphä­risch und mit einer Freu­de am Sprin­gen zwi­schen Spra­chen und Vorstellungswelten.


Roman
Waler­jan Pidmo­hyl­nyj: Die Stadt
Aus dem Ukrai­ni­schen über­setzt von Alex­an­der Kra­toch­vil, Lukas Jou­ra, Jakob Wun­der­wald und Lina Zali­tok. Gug­golz 2022

Waler­jan Pidmo­hyl­nyj ent­fal­tet ein Pan­ora­ma der Moder­ni­sie­rung im Kyjiw der 1920er Jah­re. Sein Prot­ago­nist Ste­pan Rad­tschen­ko, frü­he­rer Revo­lu­tio­när und Dorf­funk­tio­när, wird zum Stu­di­um in die Stadt dele­giert, die er zunächst als feind­lich und deka­dent emp­fin­det. Mit viel Ehr­geiz, Fleiß und einer gehö­ri­gen Por­ti­on Ego­is­mus macht er sich dar­an, „die Stadt zu erobern“. Schnell fasst er Fuß, fin­det Arbeit und Gefähr­tin­nen. Sein Auf­stieg ist beglei­tet vom Wunsch, die alten vor­re­vo­lu­tio­nä­ren Kräf­te abzu­lö­sen und eine neue sozia­lis­ti­sche Kul­tur zu ent­wi­ckeln. Pidmo­hyl­nyj erzählt aus der Per­spek­ti­ve des Prot­ago­nis­ten, in des­sen Beob­ach­tun­gen und Refle­xio­nen sich der Zeit­geist spie­gelt. Die Leser*innen erfah­ren viel über den dama­li­gen kul­tu­rel­len Auf­bruch in der Ukrai­ne. Pidmo­hyl­nyj rückt das Schick­sal eines ein­zel­nen Men­schen mit sei­nen Erfol­gen, sei­ner Scham, sei­nen Zwei­feln und sei­nem Schei­tern in den Mit­tel­punkt. Das wur­de ihm von sei­nen Kri­ti­kern vor­ge­wor­fen, die an dem Roman die feh­len­de Hin­wen­dung zur Gemein­schaft bemän­gel­ten. Wie die meis­ten sei­ner Kol­le­gen wur­de auch Waler­jan Pidmo­hyl­nyj 1937 wäh­rend der Sta­lin­schen Repres­sio­nen erschos­sen. Der Über­set­zung von Alex­an­der Kra­toch­vil, Lukas Jou­ra, Jakob Wun­der­wald und Lina Zali­tok, die aus einem uni­ver­si­tä­ren Pro­jekt ent­stan­den ist, gelingt es, den reflek­tie­rend-kom­men­tie­ren­den Ton der 1920er Jah­re in die Gegen­wart zu übertragen.


Roman
Tan­ja Mal­jart­schuk: Blau­wal der Erin­ne­rung
Aus dem Ukrai­ni­schen über­setzt von Maria Weis­sen­böck. Kie­pen­heu­er & Witsch 2019

Blau­wal der Erin­ne­rung, im Ukrai­ni­schen „Sabutt­ja“ (Dt. Ver­ges­sen) ist ein Werk gegen das unaus­weich­li­che Ver­lö­schen der Erin­ne­rung, gegen die Zeit, die mit ihrem Lauf „Mil­lio­nen Ton­nen Leben ver­schlingt“, wie es am Anfang des Romans heißt. Von Zeit und Ver­ges­sen ver­schlun­gen zu wer­den droht der Prot­ago­nist Wjat­sches­law Lypyn­skyj, ein pol­ni­scher Ade­li­ger, der sich als Groß­grund­be­sit­zer in der Zen­tralukrai­ne Anfang des 20. Jahr­hun­derts der ukrai­ni­schen Natio­nal­be­we­gung anschließt und in der kur­zen Zeit der ukrai­ni­schen Staat­lich­keit 1918/19 unter Paw­lo Sko­ro­pad­skyj Bot­schaf­ter in Wien wird. Tan­ja Mal­jart­schuk ver­flicht in ihrem Roman Lypyn­skys Wer­de­gang bis Ende der 1920er Jah­re und die Ereig­nis­se um die geschei­ter­te ukrai­ni­sche Staats­grün­dung nach dem Ers­ten Welt­krieg mit der Erzäh­lung von einer jun­gen Frau in der Gegen­wart, die auf ihrer Suche nach dem Weg ins Leben auch Spu­ren der ukrai­ni­schen Geschich­te nach­geht. Der von Maria Weis­sen­böck über­setz­te Roman besticht durch die Ver­bin­dung inspi­rie­ren­der bio­gra­fi­scher Epi­so­den mit all­ge­mei­nen Betrach­tun­gen zu gesell­schaft­li­chen und poli­ti­schen Ent­wick­lun­gen der Zeit und schlägt einen gelun­ge­nen Bogen in die Gegenwart.


Rei­se­be­richt
Sofia Yablons­ka: Chi­na, das Land von Reis und Opi­um
Aus dem Ukrai­ni­schen über­setzt von Clau­dia Dathe. Kupi­do Lite­ra­tur­ver­lag 2023

Sofia Yablons­ka hält in ihrem Rei­se­be­richt beschrei­bend, erzäh­lend und reflek­tie­rend die Beob­ach­tun­gen und Erfah­run­gen fest, die sie auf ihrer Rei­se nach Chi­na im Jahr 1933 gemacht hat. Die Tex­te ver­mit­teln den Leser*innen einen indi­vi­du­el­len Ein­blick in ihre Erleb­nis- und Vor­stel­lungs­welt, die geprägt ist von ihrem Leben als jun­ge Frau im mehr­spra­chi­gen, mul­ti­eth­ni­schen, kriegs­ver­sehr­ten Ost­ga­li­zi­en, von ihrer Neu­gier und Hin­wen­dung zu ande­ren Kul­tu­ren und Gesell­schaf­ten und einer  Ver­an­ke­rung in euro­päi­schen Denk­mus­tern. Die ein­zel­nen Epi­so­den geben die Atmo­sphä­re in den Städ­ten und länd­li­chen Regio­nen der Pro­vinz Yunnan wie­der und stel­len die Erfah­run­gen des Fremd­seins her­aus. Eben­falls the­ma­ti­siert und reflek­tiert wer­den die kom­pli­zier­ten Bezie­hun­gen zwi­schen Chi­na und Euro­pa in den 1930er Jah­ren und die damit ver­bun­de­nen unter­schied­li­chen Lebens‑, Gemein­schafts- und Fort­schritts­kon­zep­te. Yablons­ka kommt aus Ost­ga­li­zi­en, und so ist ihre Spra­che geprägt von der unkon­ven­tio­nel­len Mehr­spra­chig­keit, die sie in ihren jun­gen Jah­ren dort ge- und erlebt hat. Sie ver­wen­det unge­wöhn­li­che Kol­lo­ka­tio­nen und streut pol­ni­sche, rus­si­sche oder fran­zö­si­sche Wör­ter in den ukrai­ni­schen Text ein. Mei­ne Über­set­zung ver­sucht, die­ses Spra­chen­ge­flecht zu rekonstruieren.


Kin­der­sach­buch
Roma­na Roma­ny­schyn und Andrij Les­siw: Hier­hin, dahin. Immer in Bewe­gung
Aus dem Ukrai­ni­schen über­setzt von Clau­dia Dathe. Gers­ten­berg 2023

Men­schen sind von alters her unter­wegs – um zu erkun­den, Han­del zu trei­ben oder zu erobern. Mit immer raf­fi­nier­te­ren Hilfs­mit­teln durch­que­ren sie Wüs­ten und Mee­re und flie­gen sogar in den Kos­mos. Auch Tie­re sind immer in Bewe­gung – ob auf Nah­rungs­su­che oder auf dem Weg zu Brut­plät­zen und Win­ter­quar­tie­ren. Roma­na Roma­ny­schyns und Andrij Les­siws Sach­buch Hier­hin, dahin. Immer in Bewe­gung stellt in Wort und Bild die Bewe­gung von Mensch und Tier im Lauf der Zei­ten vor. Die Tex­te ver­mit­teln his­to­ri­sche und natur­wis­sen­schaft­li­che Infor­ma­tio­nen zur Bewe­gung und zei­gen die Grün­de, war­um Men­schen und Tie­re unter­wegs sind, und Ein­sich­ten, die auf Rei­sen gewon­nen wer­den. Die dyna­mi­schen Bil­der illus­trie­ren alles Wan­dern­de, Zie­hen­de, Mar­schie­ren­de, Flie­gen­de, Krie­chen­de. Mei­ne Über­set­zung ver­bin­det die ver­schie­de­nen Facet­ten des Enzy­klo­pä­disch-Prä­zi­sen mit dem Assoziierend-Sinnierenden.

Noch mehr zur ukrai­ni­schen Spra­che, Lite­ra­tur und Kul­tur erfahrt ihr in unse­rem Bei­trag Gro­ße klei­ne Spra­che Ukrai­nisch!


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