In der Reihe „Mein erstes Mal“ berichten Übersetzer:innen von ihrer ersten literarischen Übersetzung. Sie plaudern aus dem Nähkästchen, berichten von den Leiden des jungen Übersetzer:innenlebens und verraten, in welche Falle man als Anfänger:in bloß nicht tappen sollte. Alle Beiträge der Reihe sind hier nachzulesen.
Vor einiger Zeit traf ich einen alten Schulfreund, den ich aus den Augen verloren hatte. Er erzählte mir, dass er als Ingenieur arbeitet.
„Und, was machst du so?“
„Ich übersetze Bücher.“
„Du, Bücher?“
Als Kind bzw. Jugendlicher habe ich, gerade in der Schule, nicht besonders gerne Bücher gelesen (abgesehen von ein, zwei Ausnahmen). Das Wort Pflichtlektüre bereitet mir heute noch Unbehagen. Für Videospiele, Filme und Musik hatte ich deutlich mehr übrig, besonders für Musik. Auf diesem Weg bin ich auch zum ersten Mal nach Finnland gekommen. Mein bester Freund und ich reisten eines Tages kurzerhand nach Helsinki, um ein Konzert unserer finnischen Lieblingsband zu sehen. Ab diesem Moment bekam ich Finnland nicht mehr aus dem Kopf.
Also habe ich mich nach dem Abitur für ein Studium der Finnougristik in München eingeschrieben und hatte zum ersten Mal das Gefühl, ja, das ist genau mein Ding. Während des Studiums las ich plötzlich ein Buch nach dem anderen, vor allem finnische, estnische und ungarische Literatur, aber auch vieles, das überhaupt nichts mit Finnougristik zu tun hatte (wäre mir nicht irgendwann Christian Hansens großartige Übersetzung von Roberto Bolaños 2666 in die Hände gefallen, würde ich heute vielleicht etwas anderes machen).
Nach dem Grundstudium bewarb ich mich für ein Praktikum bei FILI – Finnish Literature Exchange, wo man sich um die Vermittlung finnischer Literatur ins Ausland kümmert und damals den Antrag für den finnischen Gastlandauftritt bei der Frankfurter Buchmesse vorbereitete. Im Rahmen des Praktikums konnte ich erste Kontakte zu Kolleg*innen und Verlagen knüpfen, kürzere Übersetzungen anfertigen und an Seminaren teilnehmen. Nach dem Praktikum bekam ich die Möglichkeit, für die horen einen Band mit jüngerer Literatur aus Finnland, Estland und Ungarn zusammenzustellen, aber ein ganzes Buch zu übersetzen, dafür war ich noch nicht bereit.
Stattdessen entschied ich mich für ein Promotionsstudium, schließlich hatte ich handfeste Ideen für eine Dissertation (was natürlich Quatsch war, nach zwei Jahren musste ich alle Ideen verwerfen und von vorne anfangen). Während der Promotion verbrachte ich viel Zeit in Finnland, aber auch in Estland, weil ich fasziniert war, wie ähnlich und doch verschieden beide Länder und ihre Sprachen sind.
Auf einer meiner Reisen nach Estland, zu einem Sprachkurs an der Universität Tartu, stöberte ich durch ein Antiquariat und stieß dort auf die 1953 erschienene Originalausgabe von Karl Ristikivis Roman Hingede öö (dt. Die Nacht der Seelen), deren Aufmachung ein wenig an Das Cabinet des Dr. Caligari erinnert. In Estland genießt der Roman Kultstatus, gelesen hatte ich ihn jedoch nicht, weil er bis dato in keine Sprache übersetzt worden war, die ich verstand. Also kaufte ich mir das Buch und las es noch in Estland in einem Rutsch durch.
Karl Ristikivi (1912–1977), der in seiner Heimat oft in einem Atemzug mit dem Klassiker Anton Hansen Tammsaare genannt wird, floh 1943 vor den Sowjets nach Finnland und von dort 1944 weiter nach Schweden, wo er nur wenig veröffentlichte. Und dann erschien wie aus dem Nichts dieser düstere Roman, in dem ein Mann an Silvester durch Stockholm irrt und sich in ein Haus flüchtet, aus dem Musik zu hören ist. Er wird immer tiefer in das Haus hineingezogen, und alle Menschen darin scheinen ihn seltsamerweise zu kennen, obwohl sie ihm völlig fremd sind. Doch damit nicht genug: Das Haus scheint sich in ständiger Metamorphose zu befinden und selbst die Menschen, denen der Erzähler auf seinem Weg begegnet, verändern offenbar ihre Gestalt.
Im Wesentlichen sind sich Kritiker*innen und Wissenschaftler*innen in Estland einig, dass Ristikivi in diesem surrealen Werk, das nicht nur aus der Literaturgeschichte Estlands heraussticht, sondern auch aus dem Schaffen des Autors, seine Erfahrungen im Exil verarbeitet hat, und doch geht es um so viel mehr (für das Estonian Literary Magazine habe ich kürzlich einen Beitrag geschrieben, warum es sich auch nach 70 Jahren noch lohnt, diesen Roman zu lesen.)
Nach der Lektüre stand für mich fest: Dieses Buch will ich übersetzen. Also fertigte ich eine Probeübersetzung und ein Exposé an und schickte beides an den Verleger Sebastian Guggolz, den ich kurz zuvor kennengelernt hatte. Bald stand fest, dass wir das Projekt gemeinsam realisieren möchten; Erscheinungstermin Frühjahr 2019. Zeitlich passte das gut, weil ich gerade meine Dissertation abgegeben hatte und mich ganz auf die Übersetzung konzentrieren konnte. Die meiste Zeit arbeitete ich von zuhause, wahlweise am Schreibtisch sitzend oder an der Küchenarbeitsplatte stehend und wippend, mit Babytrage vor dem Bauch.
Glücklicherweise bekam ich für die Arbeit an dem Roman das Johann-Joachim-Christoph-Bode-Stipendium des Deutschen Übersetzerfonds und so half mir Cornelius Hasselblatt als Mentor dabei, mich durch die Tücken des Romans zu manövrieren. Auf den ersten Blick wirkt die Sprache Ristikivis relativ harmlos, aber es sind die vielen absurden Szenen und verzerrten Bilder, die einem immer wieder kreative Lösungen abverlangen. Weil ich den Text möglichst genau erfassen wollte und der Roman nun mal eng mit dem persönlichen Schicksal Ristikivis verwoben ist, habe ich parallel zum Übersetzen so ziemlich alles über den Autor gelesen, was ich in die Finger bekam. Erst durch die intensive Recherche habe ich begriffen, wie viel trockener Humor und bittere Selbstironie eigentlich in dem Roman steckt.
Bei der Arbeit an der Übersetzung wurde mir auch deutlich, wie hilfreich ein regelmäßiger Austausch zu einem Text sein kann, gerade wenn man noch am Anfang steht. Durch die vielen Gespräche im Rahmen des Mentorings und des Lektorats haben sich in dem Text ganz neue und zum Teil auch überraschende Aspekte aufgetan, die andernfalls untergegangen wären. Davon abgesehen war jedes Gespräch, jede Begegnung auch persönlich eine große Bereicherung.
Selbstverständlich gibt es in dem fertigen Buch auch Stellen, die ich heute anders übersetzen würde, aber im Großen und Ganzen bin ich mit dem Ergebnis noch immer zufrieden. Beim Übersetzen von Hingede öö habe ich schnell gemerkt, dass Perfektionismus eher hinderlich ist (was nicht heißen soll, dass ich ein gewisses Maß an Akribie für überflüssig halte). Gerade zu Beginn wollte ich alles ganz richtig machen und habe gefühlt jedes zweite Wort nochmal nachgeschlagen, um auf Nummer sicher zu gehen. Mit diesem Vorgehen bin ich natürlich nie in einen Fluss gekommen und das war dem Text auch anzumerken. Erst mit der Zeit habe ich mehr Vertrauen gefasst und nicht mehr versucht, jedes Wort, jede Konstruktion eins zu eins ins Deutsche zu übertragen, was ja gar nicht möglich ist. Irgendwann hatte ich das Gefühl, dass der Text mir vorgibt, wie ich was zu übersetzen habe. Das hat nicht nur mir gutgetan, sondern auch der Übersetzung, zumindest meinem Eindruck nach.
Die erste fertige Übersetzung in Händen zu halten, war ein sehr beglückendes Gefühl. Und eigentlich geht es mir noch heute bei jedem Buch so. Besonders schön ist es, wenn das fertige Buch in der Welt ist und Leser*innen ihre Eindrücke schildern, etwa bei Lesungen. Zur Übersetzung von Hingede öö bekomme ich auch vier Jahre nach Erscheinen noch gelegentlich Resonanz. Außerdem freue ich mich, dass die deutsche Ausgabe den Stein ins Rollen gebracht hat, was Übersetzungen in andere Sprachen betrifft. Vergangenes Jahr ist endlich eine finnische Übersetzung des Romans erschienen, eine englische könnte bald folgen. Hoffentlich bleibt es nicht dabei.