Eileen Myles ist bereits seit den 70er Jahren fester Bestandteil der literarischen Stadtkarte New Yorks, hat bis dato über 20 Gedichtbände und Romane veröffentlicht und gilt in den USA als Kultfigur der queeren Lyrikszene. Auf Deutsch sind hingegen nur einzelne Gedichte erschienen, sowie der Kurzgeschichtenband Chelsea Girls bei Matthes & Seitz (im Jahr 2020, schlappe 26 Jahre nach der englischen Erstveröffentlichung). Nun hat der Verlag mit Zur Zeit einen weiteren Myles-Text in sein Programm aufgenommen. Die Übersetzung der Kurzgeschichten, damals noch von Dieter Fuchs, traf auf wenig Begeisterung, sie wurde als umständlich bis ungelenk beschrieben. Diesmal hat sich der Verlag umorientiert und mit Milena Adam eine junge Übersetzerin ausgewählt, die sich gerade auch für Matthes & Seitz schon mehreren anspruchsvollen Texten gewidmet hat. Ihr Name hat es erfreulicherweise auch auf das ansprechend gestaltete Cover geschafft, das der Leser*innenschaft zur Einstimmung direkt visuell die Zähne zeigt (oder einen Mund, der aufgerissen ist vor Verzückung?).
Myles bezeichnet sich schon seit einigen Jahren als queer bzw. trans, weshalb dem Umgang mit gendersensibler Sprache keine geringe Bedeutung zukommt, zumal die deutsche Sprache anders als die englische vom generischen Maskulinum geprägt ist. Man hat sich hier statt etwa für Binnen‑I oder Sternchen dazu entschieden, die weiblichen Endungen ohne große visuelle Unterbrechung der Worte typografisch leicht abzusetzen, wodurch die fließende Qualität von Myles’ Sprache elegant unterstrichen wird. Leider wird vereinzelt dann doch nur die männliche Form abgebildet, was dem Korrektorat eigentlich hätte auffallen sollen.
Etwas fraglich erscheint zudem die Entscheidung des Verlages, den Kontext der Veröffentlichung (und damit jeglichen Hinweis auf das Textgenre) unerwähnt zu lassen – denn während die originale Yale University Press-Publikation bereits auf dem Umschlag wie auch im Klappentext prominent darauf hinweist, dass For Now für die Publikationsreihe Why I Write geschrieben wurde (basierend auf den renommierten Windham-Campbell Lectures), müssen deutschsprachige Lesende dies aus der Lektüre selbst erschließen. Myles’ Misstrauen gegenüber Genrezuschreibungen in allen Ehren („weil das alles total ausgedachtes Zeug ist“), wäre ein kurzer Verweis doch hilfreich gewesen, um sich auf die Begegnung mit diesem intimen Text über das Leben im Schreiben einzustellen.
Zur Zeit ist schonungslos und gibt sich ohne Zugeständnisse dem Augenblick hin. Es ist voller Exkurse, gleichzeitig Ode an das Schreiben und Appell, das Schreiben nicht zu verklären. Es ist literarisches Selbstporträt und Austesten sprachlicher Möglichkeiten. Und das Honorar für Zur Zeit, so erfahren wir alsbald beim Lesen, entspricht genau den Anwaltskosten für den Prozess um das winzige Apartment in der East 3rd Street, das Myles über Jahrzehnte als mietengedeckeltes Schreibrefugium gedient hat. „Würden Sie nicht lieber in Texas schreiben“, will die neue Vermieterin wissen, nachdem das Haus mal wieder verkauft worden ist. Und nun muss mithilfe von Anwalt David nachgewiesen werden, dass Myles nicht mehr Zeit im von der Mutter geerbten Eigenheim im texanischen Marfa verbringt als in Apartment 3C, da die gesetzliche Grundlage für die Mietendeckelung sonst hinfällig wäre.
Der Gerichtsprozess, der mit der Suche nach alternativen Schreiborten einhergeht, dient Myles als Ausgangspunkt, um die Bedingungen zu reflektieren, die ein schreibendes Leben überhaupt erst möglich machen. Eine, vielleicht die Grundbedingung für das Schreiben, ist Zeit – und Zeit habe nur, wer nicht übermäßig in Care-Arbeit eingebunden sei, und wer sie sich finanziell leisten könne. Myles selbst wuchs in bescheidenen Verhältnissen auf, weshalb Apartment 3C eine tragende Rolle dabei zukam, dem poetischen Schaffen einen Raum zu geben.
Und dann ist da noch die Sache mit der Milchkiste: „Ich weiß noch wie ich mal jemandem meine Kiste voller Gedichte gezeigt habe und die Person meinte hast du keine Kopien. Und ich strahlte nein. Mir gefällt die Perversität des Originals.“ Über Jahrzehnte wandern Myles’ sämtliche Gedichte (jedenfalls die für würdig befundenen) unters Bett, in eine alte Kiste für Milchflaschen. Bis die Kiste verschwindet, und mit ihr ein reiches Archiv an Texten und Fotografien. Die Suche nach den Originalen beinhaltet Hellsehende, einen weiteren David, „der nicht mein Anwalt sondern mein Therapeut ist“, und Nachrichten an zahllose Verflossene. Und an ihrem Ende, soviel darf wohl verraten werden, steht keine glückliche Wiedervereinigung, sondern vielmehr die Frage, was ein literarisches Archiv eigentlich ausmacht.
It [the crate] was heavy. I took it to Cape Cod, I took it to Vermont, I took it to Montana. I had a new girlfriend she was pretty young and there was a nonfiction teacher on the faculty that had us all over for some kind of stew made of venison and I think she thought I was the biggest pervert in the world. I mean come on. Venison stew. But I brought my box of poems there I remember them feeling so heavy like a cat you inherited from a dead person.
Sie [die Kiste] war schwer. Ich nahm sie mit nach Cape Cod nach Vermont nach Montana. Ich hatte eine neue Freundin sie war ziemlich jung und da war diese Dozentin für Sachliteratur an der Fakultät und sie lud uns alle zu einer Art Wildeintopf ein und ich glaube sie hielt mich für den größten Perversling aller Zeiten. Ich meine ehrlich mal. Wildeintopf. Aber ich habe meine Kiste mit Gedichten mit dahin gebracht ich weiß noch sie hat sich so gewichtig angefühlt wie eine Katze die man von jemand Gestorbenem erbt.
Die Sätze sprudeln bei dieser kontinuierlichen Suchbewegung nur so über die Seiten, Interpunktion wird zur Nebensache. Man muss sich die Zeit nehmen, um anzukommen in dieser Sprachflut, dann schließlich umgeben einen die Worte, als würde Eileen Myles direkt zu einem sprechen. Keine leichte Aufgabe für die Übersetzerin, die die Rastlosigkeit von Myles’ Schreiben mutig, feinfühlig und nicht zuletzt mit Witz ins Deutsche überträgt. Bei der Buchpremiere der deutschen Ausgabe im April trafen Adam und Myles in der Berliner Buchhandlung She Said aufeinander, und Adam betonte, in ihrer Übersetzung weniger Wort für Wort, sondern vielmehr mit Blick auf den besonderen Sprachrhythmus übersetzt zu haben – eine Strategie, die sich auszahlt.
For me it’s language purely I think and how I don’t mind losing you at all because the story is simple and it’s all sound. I remember every poem I ever wrote. I can’t recite them but they come back like waves because they are a part of my brain. They are how I have a brain. My brain is inside out. Poetry proves me.
Für mich ist das pure Sprache denke ich und dass es mir gar nichts ausmacht euch zu verlieren weil die Geschichte simpel und alles Klang ist. Ich erinnere mich an jedes Gedicht das ich je geschrieben habe. Ich kann sie nicht rezitieren aber sie kommen in Wellen zurück weil sie Teil meines Gehirns sind. Sie sind meine Art von Gehirn. Mein Gehirn ist umgekrempelt. Poesie beweist mich.
Im Englischen wie im Deutschen fordern die rastlosen Sätze ihre Lesenden, aber strapazieren ihre Aufmerksamkeit nicht über die Maßen. Die unkonventionelle Syntax und fehlenden Satzzeichen unterstreichen vielmehr die spezielle Rhythmik, eröffnen in ihrer Porosität Assoziationsräume, die die Lesenden zum Betreten des Textes einladen.
Die Stärke von Myles’ Sprache liegt nicht zuletzt in ihrer schnörkellosen Unmittelbarkeit. In aller Regel trifft Adam diesen Ton sehr gut, nur ab und an schleichen sich im Deutschen Ausdrücke ein, die unnötig gekünstelt wirken. So wird etwa „dating“ zu „anbandeln“ oder „folds“ zu „Falze“, und aus dem einfachen Begriff „cart“ macht Adam einen „Hackenporsche“ – ein Wort, über das so manche Lesenden stolpern dürften, denen das berlinerische Wort für einen Einkaufstrolley nicht eben vertraut ist.
I sat in a chair in my apartment and I took a look at each of them.
Ich saß zu Hause im Sessel und schmökerte.
Auch in diesem Fall scheint das Sprachregister von Original und Übersetzung nicht ganz kongruent. Myles schaut sich hier die Publikationen von Patti Smith und von Knausgaard an, die ebenfalls Why I Write-Vorträge gehalten haben. Die Wiederholung von „I“ gibt dem Original ein Tempo, das im Deutschen verloren geht. Auch evoziert das Wort „schmökerte“ ein anderes Bild als die schlichte Formulierung im Englischen, man ist hier geneigt, sich Myles im Ohrensessel mit Teetasse vorzustellen, was eher abwegig erscheint.
Manchmal vertraut Milena Adam dem Sound des Originals dann wohl doch nicht vollständig und greift zu Formulierungen, die der Stimme im Englischen nicht ganz entsprechen. Doch das ist im Großen und Ganzen nebensächlich. Denn wann immer sie sich von Myles’ Sprachstrom treiben lässt (und in aller Regel tut sie genau das), gelingt es Adam, auch den deutschen Text unmittelbar und mitreißend zum Fließen zu bringen.
There are writers I know who never tell anyone when they travel that they are writers. People say what do you write. Why don’t we like that. Or they say I always wanted to be a writer. Their eyes get kind of dreamy like the way photographers who take your picture are waiting for you to look. People think that you go to beautiful places to write and your just living the life. And it’s actually true. The part that sucks is that you’re writing.
Ich kenne Schreibende die auf Reisen niemandem erzählen dass sie schreiben. Die Leute fragen was schreiben Sie denn. Warum mögen wir das nicht. Oder sie sagen ich wollte auch immer schreiben. Ihre Augen werden irgendwie verträumt so wie man gucken soll wenn man professionell fotografiert wird. Die Leute glauben dass man an schöne Orte reist um zu schreiben und einfach dieses Leben lebt. Und das stimmt sogar. Der ätzende Part ist dass man schreibt.
Zur Zeit ist eine eindringliche, bissige, nachdenkliche, wunderschöne, schreiend komische und stets dynamische Einladung, sich von Myles’ Sprache mitreißen zu lassen, sich nicht zuletzt das (eigene?) Leben im Schreiben zu erträumen, mit all seinen Unwägbarkeiten. Ich habe die Lektüre als große Bereicherung erfahren und bin froh, dass Eileen Myles vor dem „ätzenden Part“ nicht kapituliert hat, und Milena Adam nicht vor der Übersetzung dieser überaus persönlichen, sprachgewaltigen und nicht unambivalenten Liebeserklärung an das Schreiben.