Ein Leben im Schreiben

Eine Vortragseinladung, eine verschwundene Milchkiste voller Gedichte und der drohende Verlust einer New Yorker Wohnung – Milena Adam liefert den deutschen Sound zu Eileen Myles’ eigenwilligem literarischen Selbstporträt. Von

„Zur Zeit“ erschien bei Matthes & Seitz. Hintergrundbild: Pawel Czerwinski via Unsplash

Eileen Myl­es ist bereits seit den 70er Jah­ren fes­ter Bestand­teil der lite­ra­ri­schen Stadt­kar­te New Yorks, hat bis dato über 20 Gedicht­bän­de und Roma­ne ver­öf­fent­licht und gilt in den USA als Kult­fi­gur der quee­ren Lyrik­sze­ne. Auf Deutsch sind hin­ge­gen nur ein­zel­ne Gedich­te erschie­nen, sowie der Kurz­ge­schich­ten­band Chel­sea Girls bei Matthes & Seitz (im Jahr 2020, schlap­pe 26 Jah­re nach der eng­li­schen Erst­ver­öf­fent­li­chung). Nun hat der Ver­lag mit Zur Zeit einen wei­te­ren Myl­es-Text in sein Pro­gramm auf­ge­nom­men. Die Über­set­zung der Kurz­ge­schich­ten, damals noch von Die­ter Fuchs, traf auf wenig Begeis­te­rung, sie wur­de als umständ­lich bis unge­lenk beschrie­ben. Dies­mal hat sich der Ver­lag umori­en­tiert und mit Mile­na Adam eine jun­ge Über­set­ze­rin aus­ge­wählt, die sich gera­de auch für Matthes & Seitz schon meh­re­ren anspruchs­vol­len Tex­ten gewid­met hat. Ihr Name hat es erfreu­li­cher­wei­se auch auf das anspre­chend gestal­te­te Cover geschafft, das der Leser*innenschaft zur Ein­stim­mung direkt visu­ell die Zäh­ne zeigt (oder einen Mund, der auf­ge­ris­sen ist vor Verzückung?). 

Myl­es bezeich­net sich schon seit eini­gen Jah­ren als que­er bzw. trans, wes­halb dem Umgang mit gen­der­sen­si­bler Spra­che kei­ne gerin­ge Bedeu­tung zukommt, zumal die deut­sche Spra­che anders als die eng­li­sche vom gene­ri­schen Mas­ku­li­num geprägt ist. Man hat sich hier statt etwa für Binnen‑I oder Stern­chen dazu ent­schie­den, die weib­li­chen Endun­gen ohne gro­ße visu­el­le Unter­bre­chung der Wor­te typo­gra­fisch leicht abzu­set­zen, wodurch die flie­ßen­de Qua­li­tät von Myl­es’ Spra­che ele­gant unter­stri­chen wird. Lei­der wird ver­ein­zelt dann doch nur die männ­li­che Form abge­bil­det, was dem Kor­rek­to­rat eigent­lich hät­te auf­fal­len sollen. 

Etwas frag­lich erscheint zudem die Ent­schei­dung des Ver­la­ges, den Kon­text der Ver­öf­fent­li­chung (und damit jeg­li­chen Hin­weis auf das Text­gen­re) uner­wähnt zu las­sen – denn wäh­rend die ori­gi­na­le Yale Uni­ver­si­ty Press-Publi­ka­ti­on bereits auf dem Umschlag wie auch im Klap­pen­text pro­mi­nent dar­auf hin­weist, dass For Now für die Publi­ka­ti­ons­rei­he Why I Wri­te geschrie­ben wur­de (basie­rend auf den renom­mier­ten Wind­ham-Camp­bell Lec­tures), müs­sen deutsch­spra­chi­ge Lesen­de dies aus der Lek­tü­re selbst erschlie­ßen. Myl­es’ Miss­trau­en gegen­über Gen­re­zu­schrei­bun­gen in allen Ehren („weil das alles total aus­ge­dach­tes Zeug ist“), wäre ein kur­zer Ver­weis doch hilf­reich gewe­sen, um sich auf die Begeg­nung mit die­sem inti­men Text über das Leben im Schrei­ben einzustellen.

Zur Zeit ist scho­nungs­los und gibt sich ohne Zuge­ständ­nis­se dem Augen­blick hin. Es ist vol­ler Exkur­se, gleich­zei­tig Ode an das Schrei­ben und Appell, das Schrei­ben nicht zu ver­klä­ren. Es ist lite­ra­ri­sches Selbst­por­trät und Aus­tes­ten sprach­li­cher Mög­lich­kei­ten. Und das Hono­rar für Zur Zeit, so erfah­ren wir als­bald beim Lesen, ent­spricht genau den Anwalts­kos­ten für den Pro­zess um das win­zi­ge Apart­ment in der East 3rd Street, das Myl­es über Jahr­zehn­te als mie­ten­ge­de­ckel­tes Schreib­re­fu­gi­um gedient hat. „Wür­den Sie nicht lie­ber in Texas schrei­ben“, will die neue Ver­mie­te­rin wis­sen, nach­dem das Haus mal wie­der ver­kauft wor­den ist. Und nun muss mit­hil­fe von Anwalt David nach­ge­wie­sen wer­den, dass Myl­es nicht mehr Zeit im von der Mut­ter geerb­ten Eigen­heim im texa­ni­schen Mar­fa ver­bringt als in Apart­ment 3C, da die gesetz­li­che Grund­la­ge für die Mie­ten­de­cke­lung sonst hin­fäl­lig wäre. 

Der Gerichts­pro­zess, der mit der Suche nach alter­na­ti­ven Schreib­or­ten ein­her­geht, dient Myl­es als Aus­gangs­punkt, um die Bedin­gun­gen zu reflek­tie­ren, die ein schrei­ben­des Leben über­haupt erst mög­lich machen. Eine, viel­leicht die Grund­be­din­gung für das Schrei­ben, ist Zeit – und Zeit habe nur, wer nicht über­mä­ßig in Care-Arbeit ein­ge­bun­den sei, und wer sie sich finan­zi­ell leis­ten kön­ne. Myl­es selbst wuchs in beschei­de­nen Ver­hält­nis­sen auf, wes­halb Apart­ment 3C eine tra­gen­de Rol­le dabei zukam, dem poe­ti­schen Schaf­fen einen Raum zu geben. 

Und dann ist da noch die Sache mit der Milch­kis­te: „Ich weiß noch wie ich mal jeman­dem mei­ne Kis­te vol­ler Gedich­te gezeigt habe und die Per­son mein­te hast du kei­ne Kopien. Und ich strahl­te nein. Mir gefällt die Per­ver­si­tät des Ori­gi­nals.“ Über Jahr­zehn­te wan­dern Myl­es’ sämt­li­che Gedich­te (jeden­falls die für wür­dig befun­de­nen) unters Bett, in eine alte Kis­te für Milch­fla­schen. Bis die Kis­te ver­schwin­det, und mit ihr ein rei­ches Archiv an Tex­ten und Foto­gra­fien. Die Suche nach den Ori­gi­na­len beinhal­tet Hell­se­hen­de, einen wei­te­ren David, „der nicht mein Anwalt son­dern mein The­ra­peut ist“, und Nach­rich­ten an zahl­lo­se Ver­flos­se­ne. Und an ihrem Ende, soviel darf wohl ver­ra­ten wer­den, steht kei­ne glück­li­che Wie­der­ver­ei­ni­gung, son­dern viel­mehr die Fra­ge, was ein lite­ra­ri­sches Archiv eigent­lich ausmacht.

It [the cra­te] was hea­vy. I took it to Cape Cod, I took it to Ver­mont, I took it to Mon­ta­na. I had a new girl­fri­end she was pret­ty young and the­re was a non­fic­tion tea­cher on the facul­ty that had us all over for some kind of stew made of ven­i­son and I think she thought I was the big­gest per­vert in the world. I mean come on. Ven­i­son stew. But I brought my box of poems the­re I remem­ber them fee­ling so hea­vy like a cat you inhe­ri­ted from a dead person.

Sie [die Kis­te] war schwer. Ich nahm sie mit nach Cape Cod nach Ver­mont nach Mon­ta­na. Ich hat­te eine neue Freun­din sie war ziem­lich jung und da war die­se Dozen­tin für Sach­li­te­ra­tur an der Fakul­tät und sie lud uns alle zu einer Art Wild­ein­topf ein und ich glau­be sie hielt mich für den größ­ten Per­vers­ling aller Zei­ten. Ich mei­ne ehr­lich mal. Wild­ein­topf. Aber ich habe mei­ne Kis­te mit Gedich­ten mit dahin gebracht ich weiß noch sie hat sich so gewich­tig ange­fühlt wie eine Kat­ze die man von jemand Gestor­be­nem erbt.

Die Sät­ze spru­deln bei die­ser kon­ti­nu­ier­li­chen Such­be­we­gung nur so über die Sei­ten, Inter­punk­ti­on wird zur Neben­sa­che. Man muss sich die Zeit neh­men, um anzu­kom­men in die­ser Sprach­flut, dann schließ­lich umge­ben einen die Wor­te, als wür­de Eileen Myl­es direkt zu einem spre­chen. Kei­ne leich­te Auf­ga­be für die Über­set­ze­rin, die die Rast­lo­sig­keit von Myl­es’ Schrei­ben mutig, fein­füh­lig und nicht zuletzt mit Witz ins Deut­sche über­trägt. Bei der Buch­pre­mie­re der deut­schen Aus­ga­be im April tra­fen Adam und Myl­es in der Ber­li­ner Buch­hand­lung She Said auf­ein­an­der, und Adam beton­te, in ihrer Über­set­zung weni­ger Wort für Wort, son­dern viel­mehr mit Blick auf den beson­de­ren Sprach­rhyth­mus über­setzt zu haben – eine Stra­te­gie, die sich auszahlt.

For me it’s lan­guage purely I think and how I don’t mind losing you at all becau­se the sto­ry is simp­le and it’s all sound. I remem­ber every poem I ever wro­te. I can’t reci­te them but they come back like waves becau­se they are a part of my brain. They are how I have a brain. My brain is insi­de out. Poet­ry pro­ves me. 

Für mich ist das pure Spra­che den­ke ich und dass es mir gar nichts aus­macht euch zu ver­lie­ren weil die Geschich­te sim­pel und alles Klang ist. Ich erin­ne­re mich an jedes Gedicht das ich je geschrie­ben habe. Ich kann sie nicht rezi­tie­ren aber sie kom­men in Wel­len zurück weil sie Teil mei­nes Gehirns sind. Sie sind mei­ne Art von Gehirn. Mein Gehirn ist umge­krem­pelt. Poe­sie beweist mich. 

Im Eng­li­schen wie im Deut­schen for­dern die rast­lo­sen Sät­ze ihre Lesen­den, aber stra­pa­zie­ren ihre Auf­merk­sam­keit nicht über die Maßen. Die unkon­ven­tio­nel­le Syn­tax und feh­len­den Satz­zei­chen unter­strei­chen viel­mehr die spe­zi­el­le Rhyth­mik, eröff­nen in ihrer Poro­si­tät Asso­zia­ti­ons­räu­me, die die Lesen­den zum Betre­ten des Tex­tes einladen. 

Die Stär­ke von Myl­es’ Spra­che liegt nicht zuletzt in ihrer schnör­kel­lo­sen Unmit­tel­bar­keit. In aller Regel trifft Adam die­sen Ton sehr gut, nur ab und an schlei­chen sich im Deut­schen Aus­drü­cke ein, die unnö­tig geküns­telt wir­ken. So wird etwa „dating“ zu „anban­deln“ oder „folds“ zu „Fal­ze“, und aus dem ein­fa­chen Begriff „cart“ macht Adam einen „Hacken­por­sche“ – ein Wort, über das so man­che Lesen­den stol­pern dürf­ten, denen das ber­li­ne­ri­sche Wort für einen Ein­kaufs­trol­ley nicht eben ver­traut ist.

I sat in a chair in my apart­ment and I took a look at each of them.

Ich saß zu Hau­se im Ses­sel und schmökerte.

Auch in die­sem Fall scheint das Sprach­re­gis­ter von Ori­gi­nal und Über­set­zung nicht ganz kon­gru­ent. Myl­es schaut sich hier die Publi­ka­tio­nen von Pat­ti Smith und von Knaus­gaard an, die eben­falls Why I Wri­te-Vor­trä­ge gehal­ten haben. Die Wie­der­ho­lung von „I“ gibt dem Ori­gi­nal ein Tem­po, das im Deut­schen ver­lo­ren geht. Auch evo­ziert das Wort „schmö­ker­te“ ein ande­res Bild als die schlich­te For­mu­lie­rung im Eng­li­schen, man ist hier geneigt, sich Myl­es im Ohren­ses­sel mit Tee­tas­se vor­zu­stel­len, was eher abwe­gig erscheint. 

Manch­mal ver­traut Mile­na Adam dem Sound des Ori­gi­nals dann wohl doch nicht voll­stän­dig und greift zu For­mu­lie­run­gen, die der Stim­me im Eng­li­schen nicht ganz ent­spre­chen. Doch das ist im Gro­ßen und Gan­zen neben­säch­lich. Denn wann immer sie sich von Myl­es’ Sprach­strom trei­ben lässt (und in aller Regel tut sie genau das), gelingt es Adam, auch den deut­schen Text unmit­tel­bar und mit­rei­ßend zum Flie­ßen zu bringen.

The­re are wri­ters I know who never tell anyo­ne when they tra­vel that they are wri­ters. Peo­p­le say what do you wri­te. Why don’t we like that. Or they say I always wan­ted to be a wri­ter. Their eyes get kind of dre­a­my like the way pho­to­graph­ers who take your pic­tu­re are wai­ting for you to look. Peo­p­le think that you go to beau­tiful places to wri­te and your just living the life. And it’s actual­ly true. The part that sucks is that you’re writing.

Ich ken­ne Schrei­ben­de die auf Rei­sen nie­man­dem erzäh­len dass sie schrei­ben. Die Leu­te fra­gen was schrei­ben Sie denn. War­um mögen wir das nicht. Oder sie sagen ich woll­te auch immer schrei­ben. Ihre Augen wer­den irgend­wie ver­träumt so wie man gucken soll wenn man pro­fes­sio­nell foto­gra­fiert wird. Die Leu­te glau­ben dass man an schö­ne Orte reist um zu schrei­ben und ein­fach die­ses Leben lebt. Und das stimmt sogar. Der ätzen­de Part ist dass man schreibt.

Zur Zeit ist eine ein­dring­li­che, bis­si­ge, nach­denk­li­che, wun­der­schö­ne, schrei­end komi­sche und stets dyna­mi­sche Ein­la­dung, sich von Myl­es’ Spra­che mit­rei­ßen zu las­sen, sich nicht zuletzt das (eige­ne?) Leben im Schrei­ben zu erträu­men, mit all sei­nen Unwäg­bar­kei­ten. Ich habe die Lek­tü­re als gro­ße Berei­che­rung erfah­ren und bin froh, dass Eileen Myl­es vor dem „ätzen­den Part“ nicht kapi­tu­liert hat, und Mile­na Adam nicht vor der Über­set­zung die­ser über­aus per­sön­li­chen, sprach­ge­wal­ti­gen und nicht unam­bi­va­len­ten Lie­bes­er­klä­rung an das Schreiben. 

Eileen Myl­es | Mile­na Adam

Zur Zeit



Matthes & Seitz Ber­lin 2023 ⋅ 106 Sei­ten ⋅ 18 Euro


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