In der Reihe „Mein erstes Mal“ berichten Übersetzer:innen von ihrer ersten literarischen Übersetzung. Sie plaudern aus dem Nähkästchen, berichten von den Leiden des jungen Übersetzer:innenlebens und verraten, in welche Falle man als Anfänger:in bloß nicht tappen sollte. Alle Beiträge der Reihe sind hier nachzulesen.
Erratisch fing es bei mir an. Übersetzen war das Mittel meiner Wahl, um Theatertexte besser zu verstehen, mich ihnen anzunähern, möglichst tief in ihre Fiktion einzusteigen. Als 20-jähriger war ich vom Theater begeistert, pilgerte oft ins Schauspielhaus Bochum und erlaubte mir bei Samuel Becketts Warten auf Godot eine folgenschwere Fehlleistung, indem ich die Pause zwischen dem 1. und dem 2. Akt als den Schluss der Vorführung missverstand. Draußen auf dem Theatervorplatz, noch ganz in die Stimmung der Inszenierung getaucht, wurde mir allerdings klar, dass die anderen Zuschauer noch im Theater waren, dass die Warterei also weiterging!
Ich fand es genial, dass ein Stück rund um die Frage Schluss oder weiter auf diese Art und Weise mit dem Publikum spielte und eine Übertragungsebene außerhalb des Theaterkontexts eröffnete. Zugegeben, das restliche Publikum hatte die Pause einfach als Pause verstanden, hatte auf Übertragungen verzichtet und befand sich zu Beginn des 2. Akts daher im Saal und nicht draußen vor der Tür. Im Nachgang beschäftigte mich die Frage, ob die Idee zur missverständlichen Stückpause wohl von der Regie (Frank-Patrick Steckel) oder von Beckett selbst stammte. Der Text musste her. In der Buchhandlung Wicentowicz meines Heimatstädtchens war die dreisprachige Ausgabe (frz./engl./dt.) mit der Tophoven-Übersetzung vorrätig. Tatsächlich: Die Pause zwischen den beiden Akten und das Schließen des Vorhangs hatte der Autor selbst so vorgesehen. Steckel hatte daraufhin für mich den Status des Allerhöchsten verloren und war zum einfachen Regiegott geworden, aber Becketts Text wurde mir zur Bibel und die dreisprachige Godot-Ausgabe zur Vorlage meiner Studienwahl: Theaterwissenschaften im Hauptfach mit den Nebenfächern Französisch und Englisch.
Nach dem Grundstudium in Berlin wechselte ich zum Hauptstudium nach Kanada. Das zweisprachige Montréal (Französisch und Englisch) lockte mit seiner grandiosen zweisprachigen Theaterlandschaft. Bereits zuvor hatte ich ungefragt eine Übersetzung von Yasmina Rezas Theaterstück Kunst angefertigt, das mir in der Helmlé-Sucher-Übersetzung an der Schaubühne Berlin (Regie: Felix Prader) sehr gefallen hatte. Ich wollte wissen, was in dem Stück vielleicht noch an Wissen und Wahrheit steckte, das sich beim Zuschauen nicht sofort offenbarte. Außerdem trieb mich die Neugierde um, wie es wohl so ist, ein Theaterstück zu übersetzen. 1997 beim Praktikum am Mainfranken Theater Würzburg, wo Rezas Kunst wie auf sehr vielen Bühnen in dieser Spielzeit zu sehen war, übersetzte ich einfach drauflos. An unerwarteten Stellen blieb ich hängen, etwa bei der Frage, ob Serge „Kunst liebt“, oder ob er „die Kunst liebt“. War die Verwendung des Artikels an dieser Stelle ein Gallizismus oder richtig oder sogar notwendig? Die offene Frage sowie das ausgedruckte Manuskript verschwanden in einem alten Kellerkoffer. Die Erinnerung an die erlebte Innigkeit mit dem Text beim Übersetzen aber blieb.
In Montréal sorgte dann bei einem Inszenierungsbesuch für ein Dramaturgieseminar ein hartnäckiger Hustenreiz dafür, dass ich mich erneut draußen vor der Tür wiederfand, obwohl das Stück und seine Inszenierung mich ganz entschieden faszinierten. Hustend hatte ich aus La baronne et la truie im Theater Espace Libre rausgehen müssen, um das restliche Publikum nicht zu stören, und bis ich wieder entspannt atmen konnte, war die Vorführung schon fast vorbei. Wie sollte ich, nachdem ich so viel verpasst hatte, eine Stückanalyse durchführen können? Einfach nochmal reingehen, erwies sich als keine Option, die Vorstellung war die Dernière gewesen. Der Text musste her, mal wieder. Veröffentlicht war er noch nicht, also wandte ich mich an die Compagnie Omnibus und wurde tatsächlich an den Autor vermittelt: Michael Mackenzie. Der stammte aus New York, lebte aber schon einige Jahre in Montréal und hatte das Stück zunächst auf Englisch geschrieben: The Baroness and the Pig. Für die Montréaler Uraufführung hatte Paul Lefebvre die französischsprachige Übersetzung La baronne et la truie angefertigt. Francine Alepin hatte inszeniert und auch selbst gespielt, als Baronin, zusammen mit Denise Boulanger, als Sau.
Im Januar 1999 begannen der Autor und ich nach einem ersten Telefonat einen bis heute bestehenden Mailwechsel. In seiner Erstmail entschuldigte Mackenzie sich für die Kürze des Telefonats, derzeit befinde er sich mitten in einem hektischen Projekt, er bedankte sich für mein Interesse an B&P (The Baroness and the Pig) und schicke gern den Dramentext, auch wenn der – da müsse er mich vorwarnen – immer noch ziemlich zusammengestückelt sei, weil er nie die Zeit gehabt habe (er wisse, das klinge lächerlich), die Bühnenanweisungen alle ordentlich einzufügen. Außerdem wolle er wissen, ob ich lieber das englische Original oder die französische Übersetzung hätte und ob ich einen MAC oder IBM-Computer benutzte. Er sei froh über jede Art der Rückmeldung zu dem Stück im derzeitigen Zustand, das a) noch nicht veröffentlicht sei und b) von ihm derzeit zu einem Drehbuch adaptiert werde.
Was für ein Angebot! Dankbar ließ ich mir beide Fassungen schicken und nutzte die französische Übersetzung wie vorgesehen für meine universitäre Stückanalyse. Das englischsprachige Original hingegen – erraten! – übersetzte ich. Diesmal mit dem Ehrgeiz, es an ein deutschsprachiges Theater zu bringen. Obwohl ich Theaterstudent war, hatte ich von Theaterverlagen und ihrer Arbeit bei der Textvermittlung an die Bühnen keine Kenntnis. Auch, dass vor dem Übersetzen die entsprechenden Rechte einzuholen sind, wusste ich noch nicht. Erst im Nachhinein erkundigte ich mich beim Autor, was er von meinem Übersetzungsvorhaben hielt. Seine Antwort kam prompt, er zeigte sich „delighted“ – zum Glück. Ein blutiger Anfänger, der ungefragt losübersetzt, kann auch andere Reaktionen ernten.
Zwei Originale, zwei Übersetzer·innen
Ich erzählte meiner Studienfreundin Hedda von dem Vorhaben, Mackenzies Stück ins Deutsche zu übersetzen, und uns kam die Idee, dies gemeinsam zu tun – teils aus Sorge, der Aufgabe allein nicht gewachsen zu sein, teils aus dem Wunsch, ein solches Abenteuer gemeinsam zu erleben. Auch später in meinem Übersetzerleben werde ich oft im Zweierteam arbeiten, die gute Erfahrung mit Hedda hat dafür gewiss die Weichen gestellt. Hedda studierte damals Jura, konnte gnadenlos gut argumentieren und unsere Diskussionen, etwa darum, welche Wendung die hochgestochen parlierende Baronin und welche die von Schweinen großgezogene Emilie (die Sau) genau von sich gaben, wurden mit harten Bandagen geführt. Unsere Verhandlungen waren umso härter, da wir beide jede Szene parallel vorab alleine übersetzt hatten. So gab es viele Formulierungen, an denen wir hingen und über die beim Erstellen der gemeinsamen Fassung gefeilscht werden musste. Doch ernsten Streit hatten wir nie. Mackenzies Stück ist vor allem eine Komödie, handwerklich gut gemacht, mit vielen Gags und Pointen. Es ist dem „well-made play“ zuzurechnen, beschränkt sich aber nicht auf das Sprechen, ist also kein reines Konversationsstück, sondern besitzt einige stumme Szenen, die das allmähliche Entstehen der Freundschaft zwischen den beiden ungleichen Hauptfiguren mit visuellen Mitteln erzählen.
Eine zentrale Szene im ersten Akt ist das Tischdecken: Emilie lernt von ihrer Gönnerin, der Baronin, den Tisch für eine Abendgesellschaft zu decken. Hedda und ich diskutierten, ob wir an dieser Stelle besser dem Original oder der französischen Übersetzung folgten, da sich die Gedecke in den französischen und englischsprachigen Kulturkreisen unterscheiden. Mal liegen vier Gabeln auf dem Tisch, mal nur drei. Wir kamen zu dem Schluss, dass wir uns allein am „typisch deutschen“ Gedeck orientieren sollten und recherchierten, was die übliche Anzahl und die üblichen Gabelbezeichnungen im Deutschen sind – „Salatgabel“, „Tafelgabel“ und „Dessertgabel“. In der Gabel-Szene war es also unerheblich, ob der Autor von „dinnerfork“ oder „tablefork“ sprach und ob im Französischen mehr Gabeln üblich waren, wir richteten uns lediglich nach den Angaben in deutschsprachigen Tisch-Knigges und auf den noch simplistischen Websites (Mai 1999!) von Villeroy & Boch & Co.
Eine besondere Herausforderung bei der gemeinsamen Übersetzung von Mackenzies Stück war die Szene, in der die Baronin Shakespeares Julius Caesar im Theater angeschaut hat und dann zu Hause zusammen mit Emilie die Ermordung des römischen Kaisers nachspielt. Bei diesem Nachspielen entsteht der Plan, auch dem Herrn Baron zu einem unnatürlichen Tod zu verhelfen. Im Original zitiert Mackenzie in dieser Szene die Worte Shakespeares. Bei der Arbeit an unserer Fassung verstanden wir schnell, dass es sich mit der Messer-Szene genauso verhielt wie zuvor mit den Gabeln. Wir mussten auf eine der klassischen Shakespeare-Übersetzungen zurückgreifen. Doch auf welche? Schlegel und Tieck überzeugten. Die zusätzliche Ebene, die Julius Caesar im Stück eröffnet, lebt von der antiquierten Wortwahl, vom Pathos („Glorreicher, mächtigster, erhabener Caesar!“), von den Konjunktiven („Ich ließe wohl mich rühren, glich‘ ich euch / Mich rührten Bitten, bät ich, um zu rühren.“) und vom jambischen Fünfheber.
Die nächste Phase in der Kommunikation mit dem Autor lautete: „finding publishers“. Wir zäumten das Pferd also von hinten auf. Heute weiß ich, dass vor dem Übersetzen immer erst ein Verlag oder ein Theater verbindlich zugesagt haben sollte. Ansonsten besteht die große Gefahr, ganz einfach kein Honorar zu bekommen. Und so aufregend es sein kann, sich in die Theaterwelt vorzutasten, so wenig taugt das honorarlose Übersetzen als Beruf. Schon mit vertraglich festgelegtem Vorschuss ist die Existenz prekär. Damals wäre es für mich sehr hilfreich gewesen, mit erfahrenen Kolleg·innen in Austausch zu kommen. Doch von den damals bestehenden Möglichkeiten wusste ich 2001 noch nichts, etwa dem Beratungsangebot des VdÜ. Und die meisten anderen Möglichkeiten zur Information über das professionelle Theaterübersetzen, wie es sie heute gibt, waren damals nicht viel mehr als „Quark im Schaufenster“: die Veranstaltungen von Drama Panorama, das Berliner Programm Schreiben&Leben, die Fortbildungsangebote des DÜF und nicht zuletzt Webseiten wie theateruebersetzen.de und plateforme.de.
Ich schickte das übersetzte Manuskript also – immerhin mit dem Wissen und Einverständnis des Autors – sowohl an Theaterverlage, die im deutschsprachigen Raum wie Agenturen fungieren, als auch an die Dramaturgien von Theatern. Der Autor hatte sich vorab erbeten, unsere Fassung an eine befreundete deutsche Theaterfrau zur Prüfung zu schicken, die sie ihrerseits an Freunde aus dem Theaterbereich weiterleitete. Freundin und Freundinnenfreunde gaben grünes Licht, mehr noch, sie lobten, ausgiebig. Vielleicht hat es hier klick gemacht, oder zoom, wie bei Klaus Lage?
In den letzten 20 Jahren habe ich die Phase der Verlagssuche für Die Baronin und die Sau verklärt, hatte sie als kurz und schmerzlos in Erinnerung. Doch der Blick in den Vertrag zeigt, dass die Suche zäh und langwierig war. Zwischen der Fertigstellung des Manuskripts im Mai 1999 und der Vertragsunterzeichnung mit dem S. Fischer Theaterverlag im Oktober 2002 vergingen über drei Jahre. In vielen Dramaturgien hatte das Stück auf den Lesestapeln gelegen, ohne zu überzeugen oder Beachtung zu finden. In vielen Telefonaten habe ich das Stück angepriesen, ohne dass die Initiative zu irgendetwas geführt hätte. Auch der Autor und sein Agent wirkten und taten, wie sie konnten, beschickten, hakten nach, folgten jedem Hinweis.
Dass ich überhaupt bei der Sache geblieben bin, also beim Übersetzen, lag wahrscheinlich an einem anderen Theaterautor, für den, just als ich mit einem seiner Stücke hausieren ging, eine neue deutsche Stimme gesucht wurde. Im Dezember 2001 schloss ich mit dem S. Fischer Theaterverlag einen Vertrag für die Übersetzung von Daniel Danis’ Theaterstück Cendres de cailloux ab. Meine erste Übersetzung brachte mir zwar nicht meinen ersten Vertragsabschluss, aber Die Baronin und die Sau wurde auf deutschsprachigen Bühnen so oft inszeniert, dass die Tantiemensumme den zu verrechnenden Vorschuss bald übertraf. Gemeinsam mit dem Autor verfolgte ich das Eigenleben des Stücks mit viel Interesse. Auch heute gibt es immer mal wieder Initiativen, es nachzuspielen. Ich träume davon, eines Tages mit dem Autor zusammen eine Inszenierung auf Deutsch anzusehen. Er hätte viel Freude daran, wie er schreibt. In weiser Voraussicht würde ich dann Hustenbonbons mitnehmen und den Saal auch nicht früher verlassen, bis das übrige Publikum aufsteht, zur Garderobe geht und sich die Mäntel holt.