In Dimosthenis Papamarkos’ preisgekröntem und von der Kritik und dem Lesepublikum gefeierten Erzählungsband Gjak, der nun dank der Übersetzung von Angelika Gravert und Athanassios Tsingas auch auf Deutsch vorliegt, ergreifen Kriegsveteranen das Wort. Die Erzählenden sind Arvaniten, Nachkommen albanischer Bevölkerungsgruppen, die sich insbesondere zwischen dem 14. und dem 16. Jahrhundert im heutigen Staatsgebiet Griechenlands niederließen. Beinahe alle Erzählenden sind Männer – eine nicht zufällige Hervorhebung der Verbindung zwischen Krieg und Männlichkeit. Einzige Ausnahme bildet die in der Mitte des Buches situierte, in Versen geschriebene Ballade „Auf Leben und Tod“, in der eine Frau den personifizierten Tod, Charos genannt, bittet, ihren gefallenen Mann zurückzubringen.
Die Herkunft der Figuren drückt sich unter anderem in ihrer Zweisprachigkeit aus: neben dem Griechischen sprechen sie auch arvanitischen Dialekt, eine durch das Griechische beeinflusste albanische Sprachvariante, die heutzutage vom Aussterben bedroht ist. Der Titel „Gjak“ stammt aus diesem Dialekt und bedeutet – wie man aus einer Definition, die den Kurzgeschichten vorangestellt ist, erfährt – „Blut“, „Blutverwandtschaft“, „Blutrache“ oder „Sippe“; und in der Tat fließt in diesen Geschichten reichlich Blut. Hintergrund der Erzählungen ist der Griechisch-Türkische Krieg 1919–1922 in Kleinasien, in dem die Protagonisten kämpfen mussten und von dem sie nun aus völlig antiheroischer Perspektive berichten.
Die Grausamkeit des Krieges und die unzähligen Kriegsverbrechen, die von den Figuren begangen wurden, werden aber nicht ins Zentrum der Geschichten gestellt, sondern finden eher am Rande statt, werden fast nur beiläufig erwähnt. Den Hauptstrang der Erzählung bildet jeweils eine private Geschichte, die sich vor diesem Hintergrund abspielt und familiäre Bindungen, Geheimnisse, Eide, Rache, oder verlorene Liebe thematisiert. Gezeigt wird vor allem, wie der Krieg das Bewusstsein und das Leben derjenigen zerstört, die ihn am eigenen Leib erfahren haben: Er hält sie in einem endlosen Kreislauf der Gewalt gefangen, aus dem sie nicht aussteigen können, und entfernt sie von den Gemeinschaften und Gesellschaften, aus denen sie kommen und in die sie sich nach Kriegsende nicht wieder eingliedern können.
Neben dieser Thematik – die spätestens seit dem Krieg in der Ukraine wieder hochaktuell ist – spielt bei Gjak auch die Sprache selbst eine wichtige Rolle. Erzählt wird immer in der ersten Person, in Form eines Monologs, bei dem sich der Ich-Erzähler an einen (stummen) Zuhörer wendet, der insbesondere am Anfang und am Ende jeder Erzählung ganz deutlich angesprochen wird. Man erfährt sogar, wo diese Gespräche stattfinden, welchem Zweck sie dienen oder was die Beziehung zwischen dem Erzähler und dem Zuhörer ist. All dies erweckt den Eindruck, dass die Monologe aus längeren Gesprächen zwischen Erzähler und Zuhörer herausgelöst worden sind, und das fast theatrale Setting bestimmt weitgehend die Sprache der Erzählungen, die sich durch eine starke Mündlichkeit auszeichnet. Diese drückt sich nicht nur im Vokabular, das von umgangssprachlichen Formulierungen und älteren, volkstümlichen Wörtern wimmelt, oder im rauen, direkten Ton, sondern auch im freieren Umgang mit der Syntax und dem lebhaften, spontanen Rhythmus aus.
Wie diese Sprache funktioniert, und wie sie von den beiden Übersetzer*innen ins Deutsche übertragen wurde, lässt sich schon am Beginn der ersten Erzählung sehen:
Aφού με ρώτηξες θα σου πω, Αντώνη. Κι έτσι είν’ και το πρεπό μιας κι ήρθα στο σπίτι σ’ μέσα και σου ζητάω ό,τι σου ζητάω. Θα μου δώσεις όμως μπέσα πως θα μείνει σε τούτο δω το τραπέζι. Εγώ κι εσύ και κανένας άλλος. Δεν είναι που το ’χω ντροπή, αλλά κάλλιο μη μαθευτεί. Μετά δε θα βαστιέται το πράμα. Κάνε υπομονή και θα καταλάβεις το γιατί.
Hör mal, Antonis, auf die Frage kriegste ne Antwort, weils sich so gehört. Und außerdem – ich bins, der zu dir ins Haus gekommen ist, denn ich will was von dir. Aber ich brauch deine Besa, dein Ehrenwort, dass alles hier am Tisch bleibt. Das geht nur dich und mich was an, sonst niemand. Es ist nichts Verwerfliches, aber besser, es bleibt unter uns. Nicht, dass noch ne große Sache draus wird. Nur Geduld, wirst gleich sehn, was ich meine.
Vergleicht man den griechischen mit dem deutschen Text, kann man bereits erste Schlussfolgerungen über die Herangehensweise der Übersetzer*innen ziehen. Der griechische Text enthält einige Wortformen, die eher volkstümlich sind, heutzutage als altmodisch gelten und daher (zumindest in den urbanen Räumen) nicht mehr verwendet werden. So zum Beispiel das Adjektiv „πρεπό“ (prepó), das im heutigen Griechischen nunmehr als „πρέπον“ (prépon) vorkommt, was „richtig, angemessen“ bedeutet und hier mit dem Verb „es gehört sich“ übersetzt wurde; oder auch die Formen „ρώτηξες“ (rótixes = fragtest/gefragt hast; hier übersetzt als: „auf die Frage“) und „κάλλιο“ (kálio = besser). Da es aber im Deutschen keine Entsprechungen für diese Sprachdifferenzierungen geben kann, ist es nicht verwunderlich, dass die Wörter neutral übersetzt wurden und daher im deutschen Text gar nicht mehr wie im Griechischen historisch und lokal gefärbt sind. Das Wort „μπέσα“ (bésa), das etymologisch aus dem Albanischen stammt, aber ins Griechische integriert wurde und – vor allem in früheren Jahrzehnten – in der gesprochenen Sprache häufig vorkam, haben Gravert und Tsingas in ihrer Übersetzung hervorgehoben, indem sie es als fremdes Wort im deutschen Text belassen und im Anschluss übersetzt haben („deine Besa, dein Ehrenwort“).
Wenn man von der Ebene der einzelnen Wörter auf die Satzebene übergeht, stellt man fest, dass auch hier manches neutraler wiedergegeben wurde, als es im griechischen Text der Fall ist. So wurde beispielsweise der griechische Satz „δεν είναι που το ’χω ντροπή“ (den einai pou to ‘cho dropi), der in etwa „es ist nicht so, dass ich mich schäme“ bedeutet, allerdings einen starken mündlichen Charakter aufweist, als „es ist nichts Verwerfliches“ übersetzt. Der Satz, der mit „das geht nur dich und mich was an, sonst niemand“ übertragen wurde, ist im Original elliptisch und wirkt daher viel mündlicher: „Εγώ κι εσύ και κανένας άλλος“ (egó ki esy kai kanénas állos), was sich wörtlich mit „ich und du und niemand sonst“ übersetzen ließe (gemeint ist so etwas wie: Ich und du und niemand sonst sollen davon wissen).
Auf der anderen Seite wird schon an diesem ersten Abschnitt des Buches klar, dass die Übersetzer*innen dem deutschen Text einen mündlichen Charakter verleihen wollen, der sich dem Ton des Originals annähern sollte, und zu diesem Zweck auch eine Reihe von Entscheidungen getroffen haben. So werden in der gesamten Übersetzung Formen der gesprochenen Sprache wie Verschmelzungen („kriegste“, „weils“, „bins“), Elisionen („ne“, „draus“, „sehn“) und andere Verkürzungen systematisch verwendet. Auch am Umgang mit den Zeitformen kann man die Absicht der Übersetzer*innen beobachten, die Mündlichkeit des griechischen Textes zwar zu bewahren, sie aber nicht eins zu eins übertragen, wie aus dem folgenden Auszug hervorgeht:
Όντως κι έτσι κάναμε, αλλά στον Αϊ-Λια που φτάσαμε δε βρήκαμε κανένα. Καθόμαστε να περιμένουμε, ξανασυζητάμε σε ποια μεριά να κοιτάξουμε μετά, αλλά περνάει η ώρα, φτάνει μεσημέρι και δεν έχει φανεί ψυχή. Λέει ο θειος μ’, πάμε σαπάν’, κει που ψάχουνε αυτοί και θα τους πετύχουμε στο δρόμο.
So habn wirs dann auch gemacht, aber als wir an die Kapelle kamen, war keiner da. Wir habn uns hingesetzt, gewartet und nachgedacht, wo wir noch nicht gewesen warn und wo wir noch suchen sollten. Die Zeit ist vergangen, es ist Mittag geworden und kein Mensch hat sich blicken lassen. Mein Onkel hat gemeint, wir müssen höher steigen, dorthin, wo die andern suchen, irgendwo werden wir denen schon über den Weg laufen.
Während im griechischen Text der Erzähler nach dem ersten Punkt vom Präteritum zum historischen Präsens wechselt und dadurch die Ereignisse lebendiger erscheinen lässt und sie dem Zuhörer (und den Lesenden) so näher bringt (eine Strategie, auf die der Autor oft im Buch zurückgreift), wird an den gleichen Stellen in der deutschen Übersetzung Perfekt verwendet: „Wir habn uns hingesetzt, gewartet und nachgedacht“ statt: „Wir setzen uns hin, um zu warten, und diskutieren nochmal“) und „Die Zeit ist vergangen, es ist Mittag geworden“ statt: „Die Zeit vergeht, es wird Mittag“). Da im Deutschen bekanntlich das Präteritum die üblichste Zeitform für schriftliche Erzählungen ist, während man im mündlichen Sprachgebrauch stattdessen häufiger zum Perfekt neigt, und weil auch die Verwendung des historischen Präsens im Deutschen nicht so üblich wie im Griechischen oder anderen europäischen Sprachen ist, kann die Entscheidung der Übersetzer*innen, an dieser und anderen ähnlichen Stellen im Buch das Perfekt zum Zweck der Mündlichkeit zu verwenden, als plausibel und gelungen betrachtet werden.
Wie sind die Übersetzer*innen mit dem Dialekt umgegangen, der gelegentlich, insbesondere in emotionsgeladenen Momenten in den Erzählungen vorkommt? Gravert und Tsingas haben sich – wie Letzterer in einem Interview auf dem deutsch-griechischen Kulturportal diablog.eu erklärt hat – bewusst gegen eine Übertragung des arvanitischen Dialekts in einen deutschen Dialekt, etwa ins Bayerische oder ins Berlinerische entschieden. Zu Recht: Eine solche Auswahl wäre in der Tat willkürlich gewesen. Sie haben die Passagen – genau so, wie es im Original der Fall ist – als Fremdkörper im Erzählfluss behalten, die Transliteration des Arvanitischen aus der griechischen in die lateinische Schrift hat dabei Thede Kahl, Professor für Südslawistik an der Universität Jena, übernommen. Eine Übersetzung dieser Einsprengsel findet sich jeweils in einer Fußnote. Wie diese Sprach-Collage aussieht, zeigt folgendes Beispiel:
Κι αντί να μας πουν φχαριστώ, μας βαράνε στα μουλωχτά. το λοιπόν, αυτό δε θα μείνει έτσ’. Σας δίνω το λέφτερο να κάνετε σα θοτ μέντι.*
*Ό,τι βούλεται ο καθείς.
Und statt danke zu sagen, gabs Kugeln aus dem Hinterhalt. Das wird Folgen haben. Jeder soll jetzt tun, sa thot médi.*
* Was ihm beliebt.
Papamarkos’ Sprache zeichnet sich auch durch einen starken Rhythmus aus. Die Abfolge von kurzen Hauptsätzen, wobei dem Verb eine zentrale Bedeutung zukommt, trägt zu einem lebhaften Rhythmus bei, ebenso wie die Einführung von direkter Rede in den Erzählfluss, das Weglassen einiger Wörter und das Spiel mit der Syntax: Im Griechischen ist es nämlich insbesondere in der gesprochenen Sprache üblich, von der „korrekten“ Reihenfolge der Wörter in einem Satz abzuweichen. Durch diese leicht unregelmäßige Syntax werden nicht nur bestimmte Wörter stärker betont, sondern die Rede erhält auch einen spontanen, lebendigen Charakter. Eine solche syntaktische und rhythmische Unregelmäßigkeit ins Deutsche (wo es strengere syntaktische Regeln gibt) zu übertragen, ist natürlich keine einfache Sache. Die Übersetzer*innen haben aber auch hier interessante Lösungen gefunden und rhythmische Flexibilität bewiesen, wie das folgende Beispiel zeigt:
Γι’ αυτό πήγα στον παππού σ’ τον Μήτσο και του ’πα το και το, άτιμος δεν είμαι να πειράξω την κόρη σ’ κι έπειτα να την απαρατήξω, να σπάσουμε τον αρρεβώνα τώρα και να δώσουμε τα χέρια.
Deshalb hab ich deinen Großvater Mitsos aufgesucht und ihm die ganze Geschichte erzählt. Deine Tochter berühren und dann fallenlassen, so einer bin ich nicht. Aber so, wie die Dinge stehn, können wir die Verlobung lösen und uns die Hände reichen.
Eine grobe Wort-für-Wort-Übersetzung würde ungefähr so lauten: „Deshalb ging ich zu deinem Großvater Mitsos und sagte zu ihm, so gemein bin ich nicht, deine Tochter zu berühren und dann zu verlassen, lösen wir die Verlobung und reichen uns die Hände.“
Als erstes fällt auf, dass aus dem einen Satz im Original drei kürzere, durch Punkte getrennte Sätze in der Übersetzung wurden. Dies scheint in diesem Fall nicht unlogisch zu sein, denn die Umkehrung der Reihenfolge einiger Wörter („άτιμος δεν είμαι“, „gemein bin ich nicht“), die Verwendung von direkter Rede sowie die elliptische, wackelige Syntax im griechischen Text verleihen dem Satz trotz seiner Länge einen abgehackten Staccato-Rhythmus – was in der deutschen Übersetzung, wo der besseren Verständlichkeit halber manche ausführlichere Formulierungen benutzt wurden („die ganze Geschichte“, „so, wie die Dinge stehen“) durch die drei getrennten Sätze erfolgreich übertragen wurde. Außerdem weist der zweite Satz („Deine Tochter berühren und dann fallenlassen, so einer bin ich nicht“) darauf hin, dass sich die Übersetzer*innen am Original orientiert und es geschafft haben, durch syntaktische Umkehrungen den Eindruck der Mündlichkeit zu verstärken.
Wie aus diesen Beispielen ersichtlich wird, zeigt Gjak deutlich, wie anspruchsvoll es ist, die Sprache der „einfachen Leute“, und insbesondere die gesprochene Sprache einer früheren Epoche zu übersetzen. Ansprache, Rhythmus, Syntax, lexikalische und kulturelle Besonderheiten spielen hier eine wesentliche Rolle. Dass ein junger Autor wie Dimosthenis Papamarkos aus einem solchen Material eine wirksame literarische Sprache der Gegenwart geschaffen hat, ist zweifellos bemerkens- und lobenswert. Ein Lob verdient gerade deshalb auch die Leistung von Angelika Gravert und Athanassios Tsingas, die die Herausforderung, die das Buch für Übersetzer*innen darstellt, so gut gemeistert haben und eine Übersetzung geliefert haben, die die Rauheit und Fremdheit des Originals nicht verdeckt und zugleich einen stimmigen Ton im Deutschen findet und viel Lesefreude bereitet.