ich plädiere dafür das wasser / auch in zukunft / mit dem strom zu schöpfen.
So heißt es im Klappentext des in diesem Jahr erstmals in deutscher Übersetzung erschienenen Gedichtbandes Barfuß des samischen Künstlers Niillas Holmberg. Danach folgt – erst einmal Stille. Zumindest im sprachlichen Sinne: Seite um Seite präsentiert sich ohne Text, in einem Schwarz, das beim Umblättern geradezu an den Fingerspitzen haftet, nur unterbrochen von einer schemenhaften Zeichnung, die sich wie der bereits erwähnte Strom über die Doppelseiten zieht. Dann endlich erscheint der erste Text:
Der himmel ist dick verhangen / bäume trotzen der hektik – dreiflüglige hast.
Wie eltern vor ihren kindern verbergen die birken / die spuren führen eine missverständliche frage /
auf ihren ursprung zurück.
Dem Anfang und dem Ende – das weiß, wer schon einmal einen Text verfasst oder ein Musikstück vorgetragen hat – kommt immer eine besondere Bedeutung zu. So wirft denn auch dieser Einstieg seinen Schatten voraus: Die Worte, die uns hier begegnen, deuten bereits die Vielfalt der Herangehensweisen an, mit denen sich Niillas Holmberg seinem Thema nähert, und die Besonderheiten der Gestaltung werden die Lesenden durch das gesamte Buch begleiten.
Dieses Lesen geschieht dabei nur auf Deutsch, anders als etwa in Holmbergs zweisprachigem Gedichtband Der dem Wind auf dem Schoß sitzt (2017). Und auch diese Rezension ist ohne Kenntnis der Originalsprache entstanden, was für die Beurteilung einer Übersetzung eigentlich eine wichtige Voraussetzung darstellt. Die Herangehensweise an den Text erfolgt daher mit besonderem Vertrauen in die Leistung der Übersetzerin Christine Schlosser: Ihre Wortwahl im Deutschen ist präzise und abwechslungsreich und die Länge der Wörter und Sätze dabei so genau bemessen, dass der Text im Einklang mit den Zeichnungen fließen kann und der Gedichtband als Gesamtkunstwerk erhalten bleibt. Auch gebührt der Übersetzerin eine besondere Wertschätzung für den von ihr vermittelten Einblick in die zeitgenössische literarische Kultur des Nordsamischen, einer Sprache mit 20.000 bis 25.000 Sprecher*innen, die in Deutschland noch weniger bekannt sein dürfte als das Finnische. Dabei ist sie als Mitglied der finno-ugrischen Sprachfamilie mit dem Finnischen verwandt und hat im Norden Lapplands bereits seit 1992 den Status einer offiziellen Minderheitensprache inne. Bis dahin war es jedoch ein leidvoller Weg: Noch in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts war es samischen Kindern im Zuge einer gewaltvollen kulturellen Assimilierung seitens des finnischen Staates verboten, in der Schule die eigene Sprache zu sprechen, und auch heute kämpfen samische Aktivist*innen weiterhin um Anerkennung sowie Selbst- und Mitbestimmung in regional- und nationalpolitischen Fragen.
Bei der Gestaltung des Gedichtbands fällt zunächst auf, wie viel Raum er dem Nicht-Sprachlichen gibt. Die fließenden, mal rein aus Formen bestehenden und mal figürlichen Zeichnungen der samischen Künstlerin Inga-Wiktoria Påve bilden eine durchgehende Linie, die weder beim Umblättern noch beim Schließen des Buches abbricht – stattdessen setzt sie sich auf dem Rückcover fort und geht über den Buchrücken nahtlos in das vordere Cover und die ersten Seiten über. Hier von Anfang und Ende zu sprechen, ist also eigentlich müßig, denn wo das Buch der gewohnten Leserichtung nach endet, da beginnt die Zeichnung von Neuem. Die Farbe der Seiten wechselt von schwarz zu einem unmerklich heller werdenden Grau, in der Mitte des Buches dann ein kurzer Lichtblick – „Dem düsteren labyrinth entkommt man / nur mit diplomatie.“ – und eine sonnenartige Gestalt löst sich aus den Schemen, bevor es auf den Seiten allmählich wieder dunkel wird. Die Gedichte selbst präsentieren sich ohne Überschriften und mit Ausnahme der Satzanfänge unter nahezu vollständigem Verzicht auf Großschreibung. Zumeist unauffällig unten auf der Seite platziert und beinahe versteckt stehen sie unter den Zeichnungen, von diesen unterteilt in fünf locker zusammenhängende Einheiten. Das Lesen bekommt so den Rhythmus eines Spaziergangs, auf dem im gemächlichen Takt der Schritte Eindrücke aufgenommen und verarbeitet werden und immer neue Gedanken entstehen.
Diese Vorstellung eines Erlaufens der Welt, „wie wir das leben im gehen ermessen / als hätten füße ein linguistisches nervensystem“, kommt auch in den Gedichten zur Sprache. Dabei geht es Niillas Holmberg jedoch um mehr als die längst dem Credo der Produktivität unterworfene Förderlichkeit von Bewegung für die Gedanken – man denke nur an die allseits beschworenen Walking Meetings, bei denen durch Besprechungen im Gehen noch mehr Potenzial ausgeschöpft werden soll. Mithilfe des Bildes vom menschlichen Fuß, der mal nackt, mal in Stiefeln und mal als Holzbein der Erde begegnet, erforscht Holmberg stattdessen das eigene, das samische und das gesamtgesellschaftliche Verhältnis nicht nur zum Boden unter unseren Füßen, sondern zur Natur an sich: wie wir uns von ihr nähren, über sie sprechen, ihr Eigenschaften andichten und sie nach unseren Vorstellungen zu verändern suchen.
Wie die Gedanken auf einer Wanderung kehren einige Motive dabei immer wieder und offenbaren mit jedem Mal neue sprachliche, poetische, philosophische und auch politische Facetten: die flüchtige Küstenseeschwalbe, die Fußsohle, überraschend in ihrer Beredsamkeit, die blitzenden, duftenden Birken, Wölfe und entlaufene Hütehunde. Und schließlich der Schuhmacher, der heimtückisch seine Sicht der Dinge verbreitet, zuerst die Scham vor den eigenen Zehen lehrt und dann das Bedürfnis nach immer bequemeren Stiefeln schürt. Die aus dieser Schuhmacher-Gestalt sprechende Entfremdung von der Natur in einer auf ständiges Wachstum ausgerichteten, kapitalistischen Welt und die strukturelle Unterdrückung von Minderheiten – Selbstbestimmung und barfußlaufen sind hier nicht gestattet. / Warum sollte der schuhmacher mich verfolgen / wenn er ebenso gut mein ziel als kriminell ausgeben kann? – dienen Holmberg dabei jedoch nicht als Schlussfolgerung, sondern erst als Ausgangspunkt für seine Betrachtungen: Mit poetischer Vielschichtigkeit spinnen sich die Motive weiter, untersuchen die tiefe Körperlichkeit der Sinneserfahrungen – den Geschmack der Beere unter sulzigem Schnee, das Knarren im Schaukelstuhl der Großmutter wie von Ruderschlägen, mit denen sie unbeirrt weiter und weiter hinausgleitet – ebenso wie die Unzulänglichkeit der Sprache, die uns angesichts der allumfassenden Realität der Natur mit hinkenden Adjektiven und welkenden Komparativen alleine lässt.
Dieser Unzulänglichkeit kommt im Gedichtband eine besondere Bedeutung zu. Wie der Text bisweilen von den Zeichnungen geradezu in die Ecke gedrängt wird, so verblassen in Holmbergs Gedichten auch die Möglichkeiten der Sprache, im Umgang mit anderen Menschen ebenso wie in der Konfrontation mit der Natur: Vom Schuhmacher ist kein ehrliches Verb zu erwarten, Verwandte heulen wie die Wölfe, und zwischen der Erde und dem Reden über sie tut sich eine Kluft auf, die eine tiefe Sehnsucht nach Wiedervereinigung weckt. Doch ist eine solche Wiedervereinigung überhaupt möglich? Auch hier gibt Holmberg keine eindeutige Antwort. Denn: Sprache vermag auch Flügel zu verleihen, ist Rückzugsort der sensiblen Seele und Überwinderin von Grenzen und zugleich für Sprecher*innen einer Minderheitensprache wie dem Nordsamischen von überlebenswichtiger Bedeutung.
So bleibt nach dem – zumindest der gewohnten Lesart nach – letzten Gedicht schließlich eine leise Wehmut wie nach einer langen Reise zurück. Man fühlt sich voll von Eindrücken, die erst verarbeitet werden müssen, und hofft, durch die zurückliegende Lektüre Einblick in die Gedanken eines Anderen bekommen zu haben, ohne sich sicher sein zu können, ob man nicht lediglich die eigene Reflexion betrachtet hat.
Barfuß (im Original 2018 erschienen als Juolgevuođđu) ist der sechste Gedichtband von Niillas Holmberg und war 2020 für den bedeutenden Literaturpreis des Nordischen Rates nominiert. Wie der Band selbst beschränkt sich auch Holmberg in seinem künstlerischen Schaffen nicht auf eine Ausdrucksform, sondern hat neben Gedichten bereits einen Roman veröffentlicht und als Sänger und Komponist mehrere Alben herausgebracht. Holmberg, der auch unter dem Namen Skuvll’albmá Áslat Veikko Niillas auftritt, ist zudem bekannt als Aktivist für die Selbstbestimmungsrechte der Sámi und den Schutz ihrer traditionellen Siedlungsgebiete vor der Ausbeutung durch den finnischen Staat sowie nationale und internationale Konzerne. Die kritische Analyse von kolonialistischen Machtstrukturen in diesem spezifischen Kontext liegt auch den Gedichten in Barfuß zugrunde: Zwar lassen sich die Texte ohne diesen Hintergrund als Betrachtung eines allgemein definierten Menschseins im Zeitalter des Anthropozäns lesen, wie es auch der Klappentext nahelegt, doch diese Lesart kann nur eine von mehreren sein, will man es nicht dem Schuhmacher gleichtun und eine weitere marginalisierte Stimme der mehrheitsgesellschaftlichen Deutung unterwerfen:
Er habe nämlich die pfade des lebens studiert seiner / erklärung nach wüssten die herrschsüchtigen fersen nicht / hätten es jahrhundertelang nicht gewusst / was das beste sei.
Ebenso wäre bei der Wahl des Titels seitens des Verlags eine größere Offenheit wünschenswert gewesen: Während das Original mit Juolgevuođđu („Fußsohle“) mehr Raum für die thematische Vielfalt der Gedichte lässt, tendiert der deutsche Titel stark in eine Richtung und macht sich beinahe schon daran, das von Holmberg aufgeworfene Problem zu lösen, bevor man die erste Zeile gelesen hat.
Dies soll hier jedoch der einzige Kritikpunkt bleiben. Insgesamt ist Barfuß eine äußerst lohnende und anregende Lektüre, die den eigenen Horizont um ebenso viele Fragen wie Erkenntnisse erweitert, und eine in Deutschland noch immer seltene Gelegenheit, samische Kunst zu erleben. Angesichts der Vielfalt von Holmbergs Schaffen – im vergangenen Jahr etwa performte er bei der Premiere von Roope Mäenpääs Symphonie „Luovus“ im nordfinnischen Inari an der Seite des Kammerorchesters Lappland Joik und Lyrik – bleibt zu hoffen, dass es in Zukunft noch viele solcher Gelegenheiten geben wird.
Anm. d. Red.: Dieser Beitrag wurde ohne Kenntnis der Originalsprache verfasst. Mehr zum Thema hier.