Ein Mei­len­stein der Fantasy-Literatur

Elric von Melniboné ist hierzulande nicht die bekannteste Fantasy-Gestalt. Mit der Neuübersetzung von Hannes Riffel für Fischer TOR mag sich das ändern. Von

Das Cover der neuen Elric-Gsamtausgabe. Hintergrundbild: JR Kopa via Unsplash.

2023. Er ist wie­der da. Und man möch­te for­mel­haft aus­ru­fen: „Wo warst du so lan­ge? Was hat dich auf­ge­hal­ten?“ Denn wäh­rend das Fan­ta­sy-Gen­re hier­zu­lan­de in Film und Lite­ra­tur einen Erfolg nach dem ande­ren fei­ert, fris­te­te Elric von Mel­ni­bo­né jahr­zehn­te­lang eher ein Schat­ten­da­sein. Aus­ge­nom­men natür­lich bei ein­ge­fleisch­ten Fans. Zwar wur­den Elrics Aben­teu­er ab 2014 auch in Comics umge­setzt und Hey­ne brach­te – nach der 1984 erschie­ne­nen (und zuletzt 1995 auf­ge­leg­ten) Gesamt­aus­ga­be der dama­li­gen sechs Bän­de – 2002 dann alle acht bis dahin ver­öf­fent­lich­ten Elric-Roma­ne in drei Sam­mel­bän­den her­aus. Seit­dem aber war­te­te der Elric-Zyklus (immer­hin über zwan­zig Jah­re lang) in Deutsch­land auf ein neu­es Gewand. Bis heu­te. Im Okto­ber 2023 erschien bei FISCHER Tor nun die Neu­über­set­zung der Gesamt­aus­ga­be des Elric. Ins Deut­sche über­tra­gen hat den Text Han­nes Riffel.

Wor­an es gele­gen haben mag, dass Elric so lan­ge Stück­werk blieb, kann ich nicht sagen. Mög­li­cher­wei­se dar­an, dass im Lau­fe der Jah­re immer wie­der Erzäh­lun­gen dazu­ka­men, sich der Roman­zy­klus wie eine wuchern­de Pflan­ze immer wei­ter aus­brei­te­te, neue Trie­be bil­de­te und kaum zu bän­di­gen war.  Doch liest man die Vor­wor­te, die nam­haf­te Autor:innen zu den ein­zel­nen Büchern ver­fasst haben, kann kein Zwei­fel dar­an bestehen, wel­che Bedeu­tung Elric für die Fan­ta­sy-Lite­ra­tur und für die schrei­ben­de Zunft im All­ge­mei­nen hat­te. Die Zei­len von Kai Mey­er, Tad Wil­liams, Mar­kus Heitz und ande­ren haben mir wie­der in Erin­ne­rung geru­fen, wie mei­ne ers­te Begeg­nung mit Elric von Mel­ni­bo­né ablief.

Es muss Ende der 1980er gewe­sen sein, als ich durch die Stadt streif­te und bei den Grab­bel­ti­schen vor einem Buch­la­den ste­hen­blieb. Ein fet­ter Wäl­zer fiel mir in die Hän­de, etwa tau­send Sei­ten stark, aber was mei­nen Blick wie magisch anzog, waren weder der Umfang noch der Titel, son­dern die Cover-Illus­tra­ti­on eines merk­wür­di­gen weiß­haa­ri­gen und weiß­ge­sich­ti­gen Krie­gers mit schräg ste­hen­den roten Augen, einer schwar­zen Rüs­tung und einem schwar­zen Schwert in der Hand, der vor einem Dra­chen mit weit auf­ge­ris­se­nem Maul sitzt. Noch heu­te steht die­se Taschen­buch­aus­ga­be des Elric völ­lig zer­fled­dert und abge­wetzt – ein Zei­chen für die viel­fa­che Lek­tü­re – in mei­nem Regal.

Und ich weiß auch noch, was ich fühl­te, als ich das Buch zum ers­ten Mal las. Geprägt durch die klas­si­sche Fan­ta­sy à la Tol­ki­ens Der Herr der Rin­ge und Das Geheim­nis der Gro­ßen Schwer­ter (Tad Wil­liams) und deren Auf­tei­lung in „Gut“ und „Böse“ hat mich die Lek­tü­re von der Welt, in der Elric wütet, erst mal völ­lig aus der Bahn gewor­fen. Dage­gen wirk­ten Fro­dos oder Simons Aben­teu­er auf mich wie Peter­chens Mond­fahrt. Geschockt und teils ange­ekelt las ich von den Grau­sam­kei­ten der Halb­menschen von Mel­ni­bo­né, konn­te mich aber dem Sog der Geschich­te nicht ent­zie­hen. Rück­bli­ckend war dies mei­ne ers­te Begeg­nung mit einem durch und durch ambi­va­len­ten (Anti-)Helden.

Micha­el Moor­cocks Roman­zy­klus bedient die Leser­schaft durch­aus mit klas­si­schen Fan­ta­sy-Ele­men­ten: Die Welt, die er uns vor­setzt, ist mit­tel­al­ter­lich geprägt, mit Schwer­tern, Rüs­tun­gen, Dra­chen, einem opu­len­ten Hof­le­ben und einem Hel­den, der eine Quest unter­nimmt. Und wie wir es aus mit­tel­al­ter­li­chen Roma­nen ken­nen, sieht sich die herr­schen­de Klas­se ihren Unter­ge­be­nen als haus­hoch über­le­gen. Elric unter­schei­det sich von sei­nen Unter­ta­nen, ist sozu­sa­gen – obwohl unein­ge­schränk­ter Herr­scher – der Fremd­kör­per in die­ser Gesell­schaft. Schon optisch hebt er sich ab: Er ist ein Albi­no, mit wei­ßer Haut, wei­ßen Haa­ren und roten Augen, gut­aus­se­hend und mit fei­nen Gesichts­zü­gen. Doch die inne­re Zer­ris­sen­heit, die sich in mora­li­schen Beden­ken gegen die Art sei­ner Herr­schaft äußert, wird ihm zum Ver­häng­nis. Wegen sei­nes schlech­ten Gesund­heits­zu­stands ist er auf Dro­gen und aller­lei Zau­ber­mit­tel ange­wie­sen, um über­haupt auf­recht gehen zu kön­nen. Und sein Schwert Sturm­brin­ger, das See­len frisst und sei­nem Trä­ger Stär­ke ver­leiht, ist der böse Geist, der ihm schließ­lich zum Ver­häng­nis wird: Das Schwert, das ein Eigen­le­ben führt, tötet – geführt von Elrics Hand – die gelieb­te Frau.

Gleich­zei­tig war alles, was Moor­cock schreibt, völ­lig anders. Bei ihm kam ich zum ers­ten Mal mit dem Kon­zept eines Mul­ti­ver­sums in Berüh­rung: Begeg­nun­gen bezie­hen sich auf Din­ge, die sich in der Ver­gan­gen­heit in einem ande­ren Uni­ver­sum ereig­net haben. Die Leser:innen erfah­ren davon aller­dings erst in der Zukunft – also im nächs­ten oder über­nächs­ten Band. Träu­me spie­len eine wich­ti­ge Rol­le – und oft wis­sen die Leser:innen nicht, was Rea­li­tät und was Traum ist, und wer die­sen Traum gera­de träumt. Der Autor erschafft einen gan­zen Kos­mos (oder mehr als einen …) an Wesen und Mons­tern, die alle unter der Herr­schaft der Lords des Cha­os oder der Lords der Ord­nung ste­hen und in einem ewi­gen Kampf ver­strickt zu sein schei­nen. Und dann ist da noch die Spra­che: Wie Micha­el Moor­cock mit Wor­ten umgeht, wie er sei­ne Sät­ze zusam­men­fügt, hat eine enor­me Sogwirkung:

Distant thun­der rol­led; distant light­ning fli­cke­red. A thin rain fell. And the clouds were never still. From dus­ky jet to dead­ly white they swir­led slow­ly, like the cloaks of men and women enga­ged in a tran­ce­li­ke and for­ma­li­stic minuet; the man stan­ding on the shingle of the grim beach was remin­ded of giants dancing to the music of the fara­way storm and felt as one must feel who walks unwit­tingly into a hall whe­re the gods are at play. He tur­ned his gaze from the clouds to the oce­an.
The sea see­med wea­ry. Gre­at waves hea­ved them­sel­ves tog­e­ther with dif­fi­cul­ty and col­lap­sed as if in reli­ef, gas­ping as they struck sharp rocks.

Als ich Moor­cocks Elric zum ers­ten Mal las, hat­te ich noch nicht die Absicht, Über­set­ze­rin zu wer­den. Daher habe ich auch über­setz­te Bücher nie mit den Augen einer (zukünf­ti­gen) Über­set­ze­rin gele­sen.  Wenn ich es ver­mei­den kann, tue ich das auch heu­te nicht, weil es mir das unbe­schwer­te Lesen ver­miest. Daher ist die Auf­ga­be, die jetzt vor mir liegt, für mich völ­lig neu und sehr span­nend. Kon­kret schaue ich mir drei Tex­te an: Moor­cocks Ori­gi­nal, die alte Über­set­zung des Elric von Tho­mas Schlück, Grün­der der Lite­ra­tur­agen­tur Schlück und Über­set­zer von SF-Grö­ßen wie Isaac Asi­mov und Frank Her­bert. Und last but not least habe ich mir die Neu­über­set­zung von Han­nes Rif­fel vor­ge­nom­men. Rif­fel kann sich mit Fug und Recht als Ken­ner der SF- und Fan­ta­sy-Lite­ra­tur bezeich­nen, hat er doch meh­re­re Titel von Neil Gai­man, Ste­phen King und auch J.R.R. Tol­ki­ens Brie­fe vom Weih­nachts­mann ins Deut­sche über­tra­gen. Die Span­nung steigt …

… und die Erwar­tung wird nicht ent­täuscht, denn Han­nes Rif­fel über­setzt Moor­cock mit einer ähn­li­chen Sprach­me­lo­die, ganz dicht am Ori­gi­nal, ohne der eng­li­schen Syn­tax zu verfallen:

Fer­ner Don­ner roll­te; fer­ne Blit­ze zuck­ten. Ein dün­ner Regen fiel. Und die Wol­ken ruh­ten nie. Ob dämm­rig schwarz oder töd­lich weiß – sie wir­bel­ten ein­her wie die Umhän­ge von Män­nern und Frau­en, die ganz in die ein­stu­dier­ten Schrit­te eines Menu­etts ver­sun­ken waren; der Mann, der auf dem Kies des düs­te­ren Stran­des stand, muss­te an Rie­sen den­ken, die zur Melo­die eines weit ent­fern­ten Sturms tanz­ten, als wäre er unab­sicht­lich in einen Saal gera­ten, in dem sich die Göt­ter ver­gnüg­ten. Er wand­te den Blick von den Wol­ken ab und dem Oze­an zu.
Das Meer wirk­te ermat­tet. Mäch­ti­ge Wel­len wälz­ten sich mühe­voll her­an, und wenn sie über spit­ze Fel­sen bra­chen, schnauf­ten sie erleichtert.

Bei einem Buch mit dem Titel Elric erwar­tet man als Lesen­de, sich auf einen domi­nan­ten Prot­ago­nis­ten ein­las­sen zu müs­sen. Und gleich in den ers­ten Absät­zen des ers­ten Kapi­tels liegt das Augen­merk auf dem Hel­den der Geschich­te, und die Leser:innen kom­men ihm sofort sehr nah:

It is the colour of a blea­ched skull, his fle­sh; and the long hair which flows below his should­ers is milk-white. From the tape­ring, beau­tiful head sta­re two slan­ting eyes, crims­on and moo­dy, and from the loo­se slee­ves of his yel­low gown emer­ge two slen­der hands, also the colour of bone, res­t­ing on each arm of a seat which has been car­ved from a sin­gle, mas­si­ve ruby.
The crims­on eyes are trou­bled […] And on the hand which absent­ly car­esses the crown the­re is a ring in which is set a sin­gle rare Acto­ri­os stone who­se core some­ti­mes shifts slug­gish­ly and res­ha­pes its­elf, as if it were sen­ti­ent smo­ke and as rest­less in its jewel­led pri­son as the young albi­no on his Ruby Throne.

Tho­mas Schlück und Han­nes Rif­fel übersetzen:

Es hat die Far­be eines aus­ge­bleich­ten Schä­dels, sein Fleisch; das lan­ge Haar, das gut schul­ter­lang her­ab­fällt, ist mil­chig-weiß. Aus dem schmal zulau­fen­den schö­nen Kopf star­ren schrä­ge Augen rot und bedrückt, und aus den wei­ten Ärmeln sei­nes gel­ben Gewan­des ragen zwei schma­le schlan­ke Hän­de, eben­falls kno­chen­bleich, und ruhen auf den Sei­ten­leh­nen eines Sit­zes, der aus einem ein­zel­nen rie­si­gen Rubin gestal­tet ist.
Die roten Augen wir­ken ner­vös […] An der Hand, die geis­tes­ab­we­send die Kro­ne strei­chelt, steckt ein Ring mit einem gro­ßen raren Acto­ri­os-Stein, des­sen Kern zuwei­len schwer­fäl­lig zer­fließt und sich neu formt, als han­de­le es sich um eine intel­li­gen­te Sub­stanz wie Rauch, die in ihrem Juwe­len­ge­fäng­nis so unru­hig ist wie der jun­ge Albi­no auf sei­nem Rub­in­thron. (Schlück)

Sie hat die Far­be eines aus­geb­li­che­nen Schä­dels, sei­ne Haut; milch­weiß fällt ihm das lan­ge Haar bis über die Schul­tern. Aus sei­nem schma­len, wohl­ge­form­ten Kopf star­ren, blut­rot und mür­risch, zwei leicht schräg ste­hen­de Augen, und aus den wei­ten Ärmeln sei­nes gel­ben Gewan­des kom­men zwei zar­te, blei­che Hän­de zum Vor­schein, um auf den Arm­leh­nen eines Thro­nes zu ruhen, der aus einem ein­zi­gen rie­si­gen Rubin geschnit­ten ist.
Die blut­ro­ten Augen wir­ken beküm­mert […] An einem Fin­ger jener Hand, die gedan­ken­ver­lo­ren die Kro­ne lieb­kost, steckt ein Ring, in den ein ein­zel­ner, sel­te­ner Acto­ri­os-Stein gefasst ist, des­sen Inne­res sich manch­mal trä­ge bewegt und eine neue Gestalt annimmt, als bestün­de es aus leben­dem Rauch, in sei­nem kost­ba­ren Gefäng­nis eben­so ruhe­los wie der jun­ge Albi­no auf sei­nem Rubinthron.

Schlück über­setzt „fle­sh“ im ers­ten Satz mit „Fleisch“ und „seat“ am Ende des ers­ten Absat­zes mit „Sitz“. Aus „moo­dy“ und „trou­bled“ (der Aus­druck der Augen) wird „bedrückt“ und „ner­vös“. Die Hän­de ruhen nicht auf den Arm­leh­nen, son­dern auf den „Sei­ten­leh­nen“ jenes „Sit­zes“. – Die wört­li­che Über­set­zung „Fleisch“ für „fle­sh“ funk­tio­niert in die­sem Fall nicht, denn es ist nicht das Fleisch, das weiß ist, son­dern – wie Rif­fel rich­tig über­trägt – die Haut. Dass Schlück (oder das Lek­to­rat) aus dem logi­schen „Thron“ einen „Sitz“ macht und aus den geläu­fi­gen „Arm­leh­nen“ „Sei­ten­leh­nen“ mag dar­an lie­gen, dass man Wort­wie­der­ho­lun­gen ver­mei­den möch­te: „Thron“ wie­der­holt sich noch ein­mal im letz­ten Satz, und „Ärmel“ und „Arm­leh­nen“ mögen als unschö­ne Dop­pe­lun­gen emp­fun­den wer­den. Lei­der ist es so, dass in die­sen Fäl­len oft gequält wir­ken­de Alter­na­tiv­lö­sun­gen zum Zuge kom­men, die nicht wirk­lich zu pas­sen schei­nen. Man könn­te argu­men­tie­ren, dass „Sitz“ eine durch­aus legi­ti­me Über­set­zung für „seat“ ist – viel­leicht sogar die ers­te Wahl? – aber im Eng­li­schen hat die­ses Wort eben auch die Bedeu­tung „Thron“, und in Ver­bin­dung mit „car­ved from a sin­gle, mas­si­ve ruby“ kann man sich die­sen „Sitz“ nicht vor­stel­len wie einen Küchen­stuhl. Es ist ein­deu­tig ein Thron.

War­um schreibt Schlück, Elrics Augen, die im Eng­li­schen mit „moo­dy“ und „trou­bled“ beschrie­ben wer­den, wirk­ten „bedrückt“ und „ner­vös“? Und war­um sind sie bei Rif­fel „mür­risch“ und „beküm­mert“? – Für bei­de Über­set­zungs­va­ri­an­ten gibt es Für und Wider, beson­ders in der Ver­bin­dung der bei­den beschrei­ben­den Adjek­ti­ve. Man kann sich gut vor­stel­len, dass jemand bedrückt und ner­vös wirkt, genau­so gut wie mür­risch und beküm­mert. Aber was trifft auf Elric zu? 

Die Über­schrift des ers­ten Kapi­tels lau­tet: „A Melan­cho­ly King: A Court Stri­ves to Honour Him.“ „Melan­cho­lisch“ wäre eine wun­der­ba­re Über­set­zung für „moo­dy“, doch dann stün­de die­ses prä­gnan­te Wort zwei­mal kurz hin­ter­ein­an­der im Text. Schlück kommt von der titel­ge­ben­den „Melan­cho­lie“ zu einem „bedrück­ten Aus­druck“, was mei­nes Erach­tens leicht nach­zu­voll­zie­hen ist, wäh­rend Rif­fel einen Bogen schlägt und ihn mür­risch bli­cken lässt. Mög­lich, aber mei­ne ers­te Wahl wäre es nicht gewe­sen. „Schwer­mü­tig“ oder „gedan­ken­schwer“ hät­ten gut gepasst, zumal im nächs­ten Absatz davon die Rede ist, dass Elric sich gedank­lich mit mora­li­schen Fra­gen beschäf­tigt. Hat Schlück es beim ers­ten Adjek­tiv bes­ser gemacht, punk­tet Rif­fel beim zwei­ten: Was im Eng­li­schen „trou­bled“ heißt, ist mit „beküm­mert“ alle­mal bes­ser getrof­fen als mit „ner­vös“.

In der fol­gen­den Lek­tü­re fällt auf, dass Han­nes Rif­fel „moo­dy“ kate­go­risch mit „mür­risch“ über­setzt, was mich nun etwas mür­risch drein­bli­cken lässt, ob die­ses wenig sen­si­blen Umgangs mit dem Wort, in dem so viel mehr an Bedeu­tung steckt. Wenn Elric mit sei­ner Cou­si­ne Cymo­ril, die er innig liebt, einen Aus­ritt in die herr­li­che Land­schaft Imrryrs unter­nimmt und sie sich über das anma­ßen­de Ver­hal­ten sei­nes Riva­len Prinz Yyr­ko­on unter­hal­ten, sind laut Rif­fel Elrics Augen wie­der bzw. immer noch „mür­risch“. Glei­ches gilt für die Bewoh­ner der „Träu­men­den Insel“:

Only slaves visi­ted the grea­ter part of the island, see­king the roots and the shrubs which made men dream mons­trous and magni­fi­cent dreams, for it was in their dreams that the nobles of Mel­ni­bo­né found most of their plea­su­res; they had ever been a moo­dy, inward loo­king race and it was for this qua­li­ty that Imrryr had come to be named the Dre­a­ming City.

Und wei­ter geht es: „The moo­dy whis­pe­rings oft he sea“ wird zum „ver­dros­se­nen Flüs­tern des Mee­res“, und „Soon they were swea­ting beneath a moo­dy sun“ ist im Deut­schen der „mür­ri­sche Him­mel“. Dabei wür­de „lau­nen­haft“ zum Meer doch so gut pas­sen, und ein „mür­ri­scher Him­mel“ ist doch eher gries­grä­mig und wol­ken­ver­han­gen, wäh­rend im Ori­gi­nal die Son­ne scheint und alle zum Schwit­zen bringt. Auch hier wäre die „Lau­nen der Son­ne“ eine gute Lösung gewesen.

Grund­sätz­lich wäre hier mehr Viel­falt ange­bracht gewe­sen, denn Wör­tern wie „moo­dy“ wer­den im Ori­gi­nal in der Regel wei­te­re, erklä­ren­de Begrif­fe bei­gestellt. Als Elrics Augen das ers­te Mal erwähnt wer­den, steht im Satz danach, sei­ne Augen sei­en „trou­bled“, was einen Hin­weis dar­auf gibt, wie „moo­dy“ zu ver­ste­hen ist. Bei der zwei­ten Erwäh­nung gibt uns der Zusam­men­hang Auf­schluss darüber.

“Per­haps their [the Melnibonéan‘s; Anm. d. Verf.] loyal­ty is mis­gui­ded. Per­haps Yyr­ko­on is right and I will betray that loyal­ty, bring doom to the Dra­gon Isle.” His moo­dy, crims­on eyes loo­ked direct­ly into hers. “Per­haps I should have died as I left my mother’s womb. Then Yyr­ko­on would have beco­me emper­or. Has Fate been thwarted?”

Elric reflek­tiert über die Art sei­ner Herr­schaft und dar­über, wie sein Volk ihn sieht. Er kennt sei­ne Schwä­chen – sowohl die kör­per­li­chen als auch die für sei­ne Unter­ta­nen unbe­greif­li­che, grüb­le­ri­sche Ader – und sieht sie durch die Augen der ande­ren. Betrach­te ich Elrics Natur, dann sehe ich ihn in ers­ter Linie als einen außer­or­dent­lich rast­lo­sen, inner­lich zer­ris­se­nen Cha­rak­ter, der mir schlicht­weg nicht per­ma­nent „mür­risch“ vorkommt.

Aber letzt­lich beweist das nur eins: Hat man hun­dert Übersetzer:innen, wird man auch am Ende hun­dert unter­schied­li­che Über­set­zun­gen haben. Und: Eine Über­set­zung ist immer auch eine Inter­pre­ta­ti­on, und die Inter­pre­ta­ti­on eines ein­zel­nen Wor­tes kann immenses Gewicht haben. In die­sem Fall prägt es das Bild der Lesen­den vom Hel­den der Geschichte. 

Ähn­lich inter­es­sant ist die Über­set­zung von Elrics Herr­scher­ti­tel: Er ist der direk­te Nach­fah­re des ers­ten „Sorce­rer Emper­or of Mel­ni­bo­né“. Schlück nennt ihn einen „Zau­be­rer-Herr­scher“, für Rif­fel ist er ein „Magier­kai­ser“. Damit geben bei­de eine Rich­tung vor. Schlücks Über­set­zung ent­stand zu einer Zeit, als die Fan­ta­sy – zumin­dest in Deutsch­land – noch in den Anfän­gen steck­te. Vie­le Begrif­fe, dar­un­ter „Zau­be­rer“, „Magi­er“ und „Hexer“, wur­den noch deut­lich anders kon­no­tiert. Heu­te ver­bin­det so manche:r ver­mut­lich mit „Zau­be­rer“ zual­ler­erst die Welt von Har­ry Pot­ter; zu Schlücks Zei­ten gab es die­se (Lese)Erfahrungen noch nicht. Und mög­li­cher­wei­se ist sei­ne Ent­schei­dung, „Emper­or“ mit dem neu­tra­len „Herr­scher“ zu über­set­zen, das Ergeb­nis der deut­schen Geschich­te, in der ein „Kai­ser“ ein alter Herr mit Schnau­zer und Pickel­hau­be war und man im Wei­te­ren „Kai­ser“ mit Hei­mat­fil­men und einem gewis­sen Fuß­ball­spie­ler verband.

Bei heu­ti­gen Leser:innen sind die­se Bil­der sicher längst nicht mehr so prä­sent, mitt­ler­wei­le sind Kaiser:innen in der Fan­ta­sy eta­bliert (wenn auch zumeist in Tex­ten, die sich an fern­öst­li­che Kul­tu­ren anleh­nen), wes­we­gen Rif­fel sich guten Gewis­sens die­ses Begriffs bedie­nen kann. Ob er gefällt, muss jede:r selbst entscheiden. 

Wenn ein­zel­ne Wor­te die Rich­tung vor­ge­ben, wo füh­ren sie dann hin? Letzt­lich ist doch rele­vant, wie der über­setz­te Text beschaf­fen ist, der zum Schluss zwi­schen den Buch­de­ckeln (oder im E‑Rea­der-Kas­ten) lan­det. Bei Schlücks Über­set­zung merkt man, dass sich der Über­set­zer einer blu­mi­gen, flie­ßen­den Spra­che bedie­nen möch­te, die ein wenig an his­to­ri­sche Erzäh­lun­gen erin­nert, wäh­rend Rif­fel kon­kre­ter und schlich­ter for­mu­liert, ohne platt zu wer­den. Als Schlück an der Über­set­zung arbei­te­te, öff­ne­te sich der deut­sche Buch­markt gera­de dem Fan­ta­sy-Gen­re, und ähn­lich wie bei his­to­ri­schen Roma­nen, die in jener Zeit geschrie­ben oder über­setzt wur­den, sind Wort­wahl und Satz­struk­tur bei ihm hin und wie­der umständ­lich. Sprach­lich agie­ren bei­de Über­set­zer auf einem hohen Niveau. Bei­den gelingt es, die ein­zig­ar­ti­ge Welt von Mel­ni­bo­né und ihren eben­so ein­zig­ar­ti­gen Hel­den in ange­mes­sen schil­lern­den Far­ben und lei­den­schaft­li­chen Wor­ten zum Leben zu erwe­cken. Der qua­li­ta­ti­ve Unter­schied zeigt sich erst im direk­ten Vergleich:

Die meis­ten Pira­ten dach­ten so wie ich – sie ent­stamm­ten allen mög­li­chen Zeit­al­tern der Jun­gen König­rei­che, soviel konn­te ich fest­stel­len. Eini­ge kamen aus der Früh­zeit der Ära, ande­re aus unse­rer Epo­che – ande­re sogar aus der Zukunft. Bei den meis­ten han­del­te es sich um Aben­teu­rer, die irgend­wann ein­mal in ihrem Leben ein sagen­haf­tes Land von gro­ßem Reich­tum gesucht hat­ten, das auf der ande­ren Sei­te eines alten Tors lie­gen soll­te, das mit­ten im Oze­an auf­rag­te; statt­des­sen sahen sie sich hier gefan­gen, unfä­hig, durch das geheim­nis­vol­le Tor zurück­zu­keh­ren. Ande­re waren in See­schlach­ten ver­wi­ckelt und wähn­ten sich ertrun­ken und erwach­ten dann an der Küs­te der Insel. Vie­le, so neh­me ich an, waren frü­her durch­aus ehr­lich, aber da die Insel den Män­nern gro­ße Ent­beh­run­gen auf­nö­tig­te, wur­den sie mit der Zeit zu Wöl­fen, die sich gegen­sei­tig beraub­ten und töte­ten … (Schlück)

Die meis­ten Pira­ten waren der­sel­ben Mei­nung wie ich – sie kamen aus den unter­schied­lichs­ten Zeit­al­tern der Jun­gen König­rei­che. So viel immer­hin habe ich her­aus­ge­fun­den. Man­che stamm­ten aus der Ver­gan­gen­heit, ande­re aus unse­rer Zeit und wie­der ande­re aus der Zukunft. Aben­teu­rer, alle­samt, die irgend­wann in ihrem Leben nach einem legen­dä­ren Land such­ten, das auf der ande­ren Sei­te einer uralten Pfor­te lie­gen soll, die sich aus dem Oze­an erhebt. Statt­des­sen fan­den sie sich hier wie­der. Ande­re waren in eine See­schlacht ver­wi­ckelt gewe­sen, und statt zu ertrin­ken erwach­ten sie am Strand die­ser Insel. Man­che von ihnen mögen frü­her tugend­haft gewe­sen sein, aber auf der Insel gibt es nur wenig Nah­rung, also wur­den sie zu Wöl­fen und fie­len über­ein­an­der her … (Rif­fel)

Bei sol­chen direk­ten Gegen­über­stel­lun­gen wird deut­lich, dass Han­nes Rif­fel eine sehr ele­gan­te und gleich­zei­tig „kna­cki­ge“ Über­set­zung gelingt. Was ich damit mei­ne? Sei­ne Sät­ze sind auf den Punkt, er zielt nicht – wie Schlück es manch­mal tut – von hin­ten durch die Brust ins Auge, er fin­det (meis­tens) die rich­ti­gen Wor­te. Zudem hält er eine per­ma­nen­te Span­nung auf­recht, die mich beim Lesen immer wie­der an eine Bogen­seh­ne den­ken lässt. Auch wenn ich mit sei­ner Wort­wahl in punc­to Cha­rak­ter­be­schrei­bung nicht immer ein­ver­stan­den bin, ist sei­ne Über­tra­gung in ihrer Gesamt­heit her­aus­ra­gend und ein Meis­ter­stück der Über­set­zungs­kunst. Rif­fels Elric wirkt modern, und sei­ne Kon­kret­heit trans­por­tiert den Text mühe­los in die Gegen­wart. Das mag auch dar­an lie­gen, dass Micha­el Moor­cock mit Elric von Mel­ni­bo­né ein zeit­lo­ses Werk geschaf­fen hat, das in sei­ner Kom­ple­xi­tät und durch die Ambi­va­lenz der Figu­ren in den ver­gan­ge­nen Jahr­zehn­ten nichts an Reiz ver­lo­ren hat.

Micha­el Moor­cock | Han­nes Rif­fel

Elric



Fischer Tor 2023 ⋅ 1178 Sei­ten ⋅ 68 Euro


Buchcover des Romans Tiepolo Blau von James Cahill. Auf dem Cover ist eine Büste auf blauem Grund zu sehen, die an der Nasenwurzel abgeschnitten ist.

Das Blau des Himmels

In James Cahills Roman­de­büt „Tie­po­lo Blau“ wird ein zurück­ge­zo­gen leben­der Pro­fes­sor von einem moder­nen Kunstwerk… 
Cover von Pol Guaschs Roman Napalm im Herzen. Illustration eines jungen Menschen mit dunklen Haaren in grellen Rottönen.

Nach der Katastrophe

In „Napalm im Her­zen“ erzählt der kata­la­ni­sche Autor Pol Guasch eine que­e­re Lie­bes­ge­schich­te in einem… 
Cover von Samantha Harveys Roman Umlaufbahnen. Im Hintergrund ist ein Foto der Erdatmosphäre.

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In ihrem Roman „Umlauf­bah­nen“ hin­ter­fragt Saman­tha Har­vey die mensch­li­che Exis­tenz im Uni­ver­sum – und erhielt… 

2 Comments

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  1. 1
    Thorsten

    Ich habe auf der Pro­dukt­sei­te von audi­ble gele­sen, dass in die­sem Gesamt­werk (Buch sowie Hör­buch) nicht alle Roma­ne ent­hal­ten sein sol­len (im Gegen­satz zur eng­li­schen Ori­gi­nal­aus­ga­be). Ist das wirk­lich der Fall? Wenn ja, wel­che Bücher genau feh­len denn dann, die man sich zusätz­lich besor­gen müss­te, wenmn man wirk­lich alles von Elric lesen möchte?

  2. 2
    Alexandra Ernst

    An der Fra­ge der Voll­stän­dig­keit schei­den sich die Geis­ter. Zunächst ein­mal: Die „eng­li­sche Ori­gi­nal­aus­ga­be“ liegt die­ser Über­set­zung nicht zugrun­de, son­dern eine (vor­läu­fi­ge) eng­li­sche „Gesamt­aus­ga­be“. Alle hier ver­öf­fent­lich­ten Bücher sind vor­her bereits ein­zeln erschie­nen – und die Elric-Saga wird fort­ge­schrie­ben. 2022 erschien ein wei­te­res Buch: „The Cyta­del of For­got­ten Myths“. Dar­über hin­aus gibt es Unter­schie­de in der US- und der UK-Gesamt­aus­ga­be, was an irgend­wel­chen Rech­te-Pro­ble­men liegt. Und Elric taucht in den ver­schie­dens­ten Geschich­ten und Roma­nen von Moor­cock auf, in denen er aber nicht die Haupt­rol­le spielt. Das „Pro­jekt Elric“ ist also eine äußerst aus­ufern­de und schein­bar nie enden wol­len­de Angelegenheit.
    Im zwei­ten Band der eng­li­schen Gesamt­aus­ga­be („Storm­brin­ger“) ist am Ende eine aus­führ­li­che Ent­ste­hungs­ge­schich­te der Roma­ne und Erzäh­lun­gen ange­fügt. Ob das in der deut­schen Gesamt­aus­ga­be auch so ist, kann ich nicht sagen, da mir nur eine vor­läu­fi­ge Ver­si­on für die­sen Arti­kel vor­lag. Am bes­ten mal beim Fischer-Ver­lag nachfragen.
    Alex­an­dra Ernst

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