Rio de Janeiro, 17. August 2011. Auf der Via Ápia im Herzen von Rocinha, der größten Favela Brasiliens, herrscht der übliche Trubel. Die Polizei kommt nur gelegentlich vorbei, um Schmiergelder von den Drogenbossen zu kassieren. Als der junge Wesley eines Nachts einer ganzen Truppe von Polizist*innen über den Weg läuft, ist er so überrumpelt, dass er einen von ihnen ohne Umschweife nach dem Grund für den Einsatz fragt. „Bist du Journalist, oder was?“, blafft der ihn an. Man sei nur auf der Suche nach Markenfälschern.
Doch die Situation ist nur ein Vorgeschmack auf das Kommende. Denn die Fußball-WM steht bevor, anschließend die Olympischen Spiele, und zu den sportlichen Großereignissen werden jede Menge Tourist*innen erwartet. Rocinha erstreckt sich bis an die Verbindungsstraße zwischen Stadtmitte und Flughafen, die Sportfans kommen an ihr nicht vorbei. Also soll aufgeräumt werden, von der sogenannten Friedenspolizei (UPP).
Die Spezialeinheit wurde bereits 2008 ins Leben gerufen, um Drogenbanden zu vertreiben. Ihre Einsätze wurden zunächst international lobend erwähnt: Indem die UPP ihre Einsätze stets vorab ankündigte, konnten gewaltvolle Zusammenstöße weitestgehend verhindert werden, und Drogen- wie auch Morddelikte nahmen in den Einsatzgebieten ab. Wie sich über die Jahre zeigte, verlagerte sich die Kriminalität jedoch nur. Soziale und infrastrukturelle Maßnahmen, von denen die Einsätze begleitet werden sollten, um nachhaltige Veränderungen zu schaffen, blieben aus, und damit auch Perspektiven für die Bewohner*innen – für viele von ihnen ist nach wie vor das Drogengeschäft die mit Abstand lukrativste Beschäftigungsmöglichkeit. Zudem begannen sich Anfang der 2010er Jahre bald Berichte über exzessive Polizeigewalt zu häufen – die Anzahl von „verschwundenen“ Personen stieg mit den UPP-Einsätzen um fast 100 Prozent.
In diesem Klima der Gewalt situiert sich Vía Ápia, das Romandebüt von Geovani Martins. Der junge Autor wuchs selbst in Rocinha auf und kellnerte einst bei Kinderfesten, genau wie Wesley und Washington, die im Zentrum des Romans stehen (ihre Namen sind das Produkt der Bewunderung ihrer Mutter für die Schauspieler Wesley Snipes und Denzel Washington). Von Sommer 2011 bis Herbst 2013 begleitet Martins die Brüder und ihre Freunde Murilo, Biel und Douglas. Kurze, tagebuchartig aufgebaute Kapitel folgen dem Alltag der fünf jungen Männer mit wechselnder Fokalisierung, schildern ihre Suche nach Jobs, nach Frauen, nach Gras, nach Sinn – und die vermehrten Zusammenstöße mit der UPP.
Ihr Leben ist geprägt von Freundschaft, Fußball und Kiffen, und wird begleitet von einer großen Portion Frust. Egal, wie viel die Freunde schuften, sie kommen nicht vom Fleck, und das Leben jenseits der Favela bleibt ihnen verschlossen:
„Sobald er das Gebäude betrat, verspürte Douglas den Drang, alles kaputtzumachen. Vasen, Bilder, Spiegel, alles. Nicht, dass er die Leute um ihr Leben beneidete. Aber wenn er die gemusterten Fliesen sah, die makellos sauberen Flure, die massiven Holztüren, den nach Lavendel duftenden Mülleimer, bekam er jedes Mal einen Anfall.“
Martins’ Erzählstil zeichnet sich durch Direktheit und Nüchternheit aus, ist eindringlich, ohne pathosgeladen daherzukommen. Seine Charaktere sind keine Unschuldslämmer und doch zugleich Opfer ihrer Umstände, verstrickt in die strukturelle Perspektivlosigkeit, die ihr Geburtsort mit sich bringt. Der Autor brach selbst mit 15 Jahren die Schule ab, hielt sich mit Gelegenheitsjobs über Wasser, schrieb nebenher. Schließlich wurde er beim FLUP, dem Literaturfest der Peripherien, entdeckt, 2019 erschien sein Kurzgeschichtenband Aus dem Schatten (Originaltitel: O sol na cabeça). Seitdem wird Martins als Stimme der Favela gehandelt, Vía Ápia stand in Brasilien monatelang auf der Bestsellerliste. Dass ein Autor of Color aus der Favela von einem Publikumsverlag aufgenommen und in der breiten Gesellschaft rezipiert wird, kommt in Brasilien einer Sensation gleich.
Dem Hintergrund des Autors getreu, lebt Vía Ápia von wörtlicher Rede im Favela-Slang, und hier beginnen die Hürden für den Übersetzer, Nicolai von Schweder-Schreiner, der auch Aus dem Schatten bereits für Suhrkamp übertragen hat. Die brasilianische Umgangssprache ist von Kontraktionen und Diminutiven geprägt, für die es im Deutschen keine unmittelbare Entsprechung gibt. Darüber hinaus ist sie gespickt mit regionalen Ausdrücken, mitunter variiert der Slang zwischen verschiedenen Zonen der gleichen Favela so stark, dass in einem simplen Gespräch Bedeutungsverluste auf der Tagesordnung stehen. Selbst die portugiesische Ausgabe des Romans ist deshalb mit einem herausnehmbaren Vokabel-Glossar versehen, eine intralinguale Übersetzungshilfestellung seitens des Verlags. Denn Martins macht sich bewusst nicht die Mühe, seine Leser*innen an die Hand zu nehmen und ihnen die Sprache der Peripherie zu erklären – so wie auch ihn niemand an die Hand genommen hat, um ihn ins brasilianische Bildungsbürgertum einzuführen.
Agora vai ser tudo assim, mané. Com esse bagulho de Copa, Olimpíada. Favela aqui na Zona Sul eles vai tomar é tudo. Tu vai ver. Os cara tem que mostrar serviço, geral de olho na cidade, turista pra caralho, vários gringo, fala tu. Já era, cria. Os cara aqui da Sul vai tudo fechar lá na ZN, na ZO. Escreve o que eu tô te falando, só os milícia que vai ficar tranquilão. Porque eles são tudo fechado com a polícia, com a porra toda mermo.
Das machen sie jetzt überall, Mann. Weil bald WM ist, und danach dann Olympiade. Die Favelas in der Zona Sul werden alle eingenommen. Wirst du sehen. Die müssen zeigen, dass sie die Stadt im Griff haben, die ganze Welt schaut auf uns, massenweise Touris, Alter. Das war’s. Die Dealer hier gehen alle hoch in die Zona Norte. Glaub mir. Nur für die Milizen bleibt alles easy, die sind ja eng mit den Scheißbullen und allen.
Anhand dieser Passage, in der Murilo bei einem gemeinsamen Joint treffsicher den bevorstehenden Einsatz der UPP analysiert, werden die übersetzerischen Herausforderungen schnell deutlich. Das Gesagte zu entschlüsseln und für eine deutsche Leserschaft verständlich zu machen, ist eine Leistung für sich, und die gelingt Schweder-Schreiner, der selbst drei Jahre in Rio gelebt hat, zweifelsohne. Um seinen Leser*innen die ferne Lebenswelt nahezubringen, scheint er sich um größtmögliche Kohärenz bemüht zu haben. Entsprechend leichtfüßig lässt es sich durch den Roman blättern, alles erscheint sprachlich aus einem Guss. Doch dabei geht einiges verloren. Wo das Original aneckt, ist die Übersetzung leicht verdaulich. Die dynamischen brasilianischen Dialoge verblassen im Deutschen, wirken mitunter leblos. Ausdrücke wie „bagulho“ (eigentlich: Joint, mittlerweile allgemein verwendet für Kram, Ding) und „pra caralho“ (caralho wörtlich Schwanz, mit der Präposition pra als Steigerungsform verwendet), die im Original permanent als Füllwörter auftauchen und den Sound des Gesprochenen ausmachen, fehlen im Deutschen vollständig.
Ähnlich auch im folgenden Gespräch, in dem Wesley seinem Bruder von seiner jüngsten Begegnung mit der Polizei erzählt. Gegenstandslos ist er zu einem Verhör auf die Wache mitgenommen und seine Habseligkeiten überprüft worden, wegen eines angeblichen Tipps, er sei ein Dealer.
Foda é que, pra isso, eles antes tinha que voltar lá da perícia, bagulho longe pra caralho, lá na cidade da polícia, perto do Jacaré. Sem neurose, eu fiquei com muito ódio. Os cara vive de acharcar neguim com droga, aí tem que ir lá na puta que pariu pra ver se maconha é a maconha mermo? Se foder, porra. Os caro brinca muito.
Die Typen machen nichts anderes als irgendwelche Jungs mit Drogen hochnehmen, und dann müssen sie zum Arsch der Welt fahren, um zu überprüfen, ob das Gras auch Gras ist? Fickt euch. Die wollen mich doch verarschen.
Es sind die gleichen Ausdrücke wie im vorigen Beispiel, die erneut unübersetzt bleiben, durchweg wird im Deutschen eine vage Umgangssprache verwendet. Ein weitere Bedeutungsebene geht bei dem Wort „neguim“ verloren, das im Deutschen zum schlichten „Jungs mit Drogen“ wird. Der brasilianische Ausdruck ist eine Kontraktion des N‑Wortes, wobei die pejorative Konnotation im Slang in den Hintergrund tritt, das Wort wird mittlerweile allgemein für „Leute“ verwendet. Gleichzeitig steckt weiterhin ein Marker in „neguim“ – was in Wesleys saloppem Bericht durchscheint, ist die Tatsache, dass vor allem Schwarze bei der UPP unter Generalverdacht stehen.
Durch den Fokus auf die Freundesgruppe stehen in Via Ápia männliche Perspektiven im Vordergrund, was nicht zuletzt deshalb Sinn ergibt, weil es nicht nur primär Schwarze sind, die von der Polizei verdächtigt werden, sondern Schwarze Männer. Diese perspektivische Dominanz gleicht Martins mit starken Frauenfiguren aus. Da ist etwa die junge Gleyce, die vom Studieren träumt, und die sich selbstbewusst durch die Shopping Mall bewegt und teure Kleider anprobiert, während die meisten Favela-Bewohner*innen die Mall nur aufgrund der Klimaanlage besuchen, ohne sich je als Zielgruppe der angebotenen Produkte zu verstehen. Und da ist die Mutter von Washington und Wesley, vor der die Brüder Respekt haben wie vor kaum einem anderen Menschen.
Enquanto faz o seu prato na mesa da cozinha, Washington percebe o sorriso de satisfação de sua mãe. Aquela mulher que se virou pra criar sozinha os dois filhos, que muitas vezes precisou trabalhar dez, onze, doze horas por dia, pra não sobrar muito mais do que o dinheiro pra comida e pro aluguel. E que, no meio de toda essa correria, ainda encontrava tempo pra botar aquele terror de que, se virasse bandido, não ia visitar ninguém na cadeia, muito menos chorar em velório.
Während er sich Essen auftat, sah Washington seine Mutter zufrieden lächeln. Die Frau, die ganz allein zwei Kinder großgezogen hatte, oft elf oder zwölf Stunden am Tag arbeitete und am Ende kaum mehr als das Geld für Miete und Essen übrig hatte. Und inmitten all der Rennerei noch Zeit fand, ihnen zu drohen, wenn sie Banditen würden, sie sie weder im Gefängnis besuchen noch an ihrem Grab heulen würde.
Dass der Text im Original länger ist, obwohl das Portugiesische gerade in der Alltagssprache fast vollkommen auf Pronomen verzichtet, weil die grammatikalische Information im Verb eingeschlossen ist, ist kein Zufall. Erneut werden kolloquiale Füllwörter abgeschliffen. Martins’ Übersetzerin ins Englische, Julia Sanches, verfolgte bei ihrer Arbeit in Bezug auf genau diese Ausdrücke eine andere Strategie als Schweder-Schreiner (wobei im Englischen bis dato nur Martins’ Kurzgeschichtenband erschienen ist). „Umgangssprache ist einerseits immer in Bewegung, sie atmet und erfindet sich selbst immer wieder neu, und andererseits, vielleicht paradoxerweise, gehört sie zu den sprachlich am stärksten geografisch und zeitlich verankerten Ausdrucksformen, mit denen Übersetzer*innen hantieren können“, schrieb sie in einem Artikel für Words Without Borders (Übersetzung der Autorin). Ihr war es ein Anliegen, die Sprache des Romans nicht in den USA oder in einem anderen anglophonen Kontext zu verorten. Vielmehr versuchte sie in zahlreichen Anläufen (36 verschiedenen Textfassungen finden sich noch auf ihrem Laptop), einen eigenen Sound für die Charaktere zu finden, in den sie Phrasen aus dem brasilianischen Slang einfließen lässt. Ich hätte mir eine ähnliche Vorgehensweise für die deutsche Übersetzung gewünscht, um den Klang der Favela nicht zu überlagern.
Denn es ist diese besondere Sprache, die den Roman im Original ausmacht. Via Ápia fehlt es stellenweise an der literarischen Verdichtung, die Martins’ Kurzgeschichten auszeichnen. Und doch kommt man den Protagonisten ganz nah, folgt ihnen mit Sympathie und Sorge, auch mit Blick auf die aktuelle Lage in Brasilien, die sich in Bezug auf Polizeigewalt kaum gebessert hat. Im Gegenteil stieg unter der Präsidentschaft Jair Bolsonaros die Mordrate durch die Polizei noch einmal erheblich an, treu nach dessen Slogan „Nur ein toter Bandit ist ein guter Bandit.“ 2020 etwa wurde der gerade mal 14-jährige João Pedro Mattos im Haus seines Onkels erschossen – auf der Suche nach Drogenhändlern hatte die Polizei blindlings das Feuer eröffnet und 70 Kugeln auf das Haus abgefeuert. Favela-Bewohner*innen werden von Polizist*innen grundsätzlich mit Misstrauen betrachtet, rund 75 Prozent der von ihr getöteten Menschen sind Schwarze bzw. People of Color. Nachdem Ende 2022 Lula wiedergewählt wurde, versprach dieser zwar, Polizeigewalt bekämpfen zu wollen, doch konkrete Ansätze dafür gibt es wenige, nicht zuletzt aufgrund der Fragilität seiner Regierungskoalition.
Geovani Martins vermag es, seiner Leserschaft ungefiltert das Leben in der Favela näherzubringen. Beklommen verfolgt man die Geschichten über Zusammenstöße mit der Polizei, die als Party-Gags erzählt werden, als würde nicht bei jeder Begegnung die Freiheit der jungen Männer auf dem Spiel stehen, wenn nicht gar ihr Leben. Gleichzeitig werden die tiefen Freundschaften erfahrbar, die den Alltag der Protagonisten mindestens genauso prägen wie die allgegenwärtige Gewalt. Viele der Kapitel haben ihren eigenen Spannungsbogen, immer wieder scheint sich eine Katastrophe anzukündigen, immer wieder bleibt sie aus. Bis man sie schon nicht mehr erwartet, und sie schließlich ihre volle erschütternde Wirkung entfalten kann.