In dieser Reihe stellen Übersetzer:innen Bücher aus „ihrem“ Land vor – spannend, wegweisend, romantisch, subtil, haarsträubend oder urkomisch – aber in jedem Fall lesenswert. Ob Klassiker oder Zeitgenössisches, Krimis, Poesie oder Kinderbücher … diese ganz persönliche Leseliste lädt dazu ein, die literarische Landschaft des Landes vom Sofa aus zu bereisen. Viel Spaß beim Schmökern!
Roman
Fríða Ísberg: Die Markierung
Aus dem Isländischen übersetzt von Tina Flecken. Hoffmann & Campe 2022
Reykjavík in der nahen Zukunft: Vier Protagonist*innen hadern mit einer Gesellschaft, die Gewaltfreiheit anstrebt, aber zu einer Diktatur der politischen Korrektheit mutiert. Wer einen freiwilligen Empathie-Test besteht, kann sich markieren lassen und genießt Privilegien. „Unmarkierten“, die durch den Test gefallen sind, wird eine Psychotherapie verordnet, sie werden öffentlich geoutet. Nun soll über die Einführung einer allgemeinen Markierungspflicht abgestimmt werden, und zwei politische Parteien spalten die Bevölkerung. Die unter Panikattacken leidende Lehrerin Vetur wird von ihrem Ex-Freund gestalkt, sehnt sich nach Sicherheit, zweifelt aber am System. Der Psychologe Ólafur ist ein glühender Verfechter der neuen Gesellschaftsutopie. Schulabbrecher Tristan will sich nicht markieren lassen und gerät in einen Teufelskreis aus Schulden, Einbrüchen und Drogenkonsum. Die erfolgreiche Investmentbankerin Eyja wird von ihrem Chef zu dem Test gezwungen, weil sie nicht mit ihm ins Bett will. Die Perspektive und der Sprachstil wechseln zwischen den Personen. Eyjas schnell getaktetes Leben spiegelt sich in atemlosen, abgehackten Sätzen, Tristan monologisiert in schlichter Sprache mit grammatikalischen Fehlern und Slang. Die Autorin jongliert mit Social Media Feeds und Chat-Nachrichten, lässt in prägnanten Metaphern die Lyrikerin durchscheinen und erzählt subtil ironisch. Dieser vielschichtige – übrigens vor Corona geschriebene – Debütroman ist ein spannendes Gedankenspiel über die Gefahren von Ideen, die zu Ideologien werden.
Roman
Kristín Steinsdóttir: Im Schatten des Vogels
Aus dem Isländischen übersetzt von Anika Lüders (Wolff). C.H. Beck 2011
Das erschütternde Porträt einer Frau im späten 19. Jahrhundert, die im abgeschiedenen Osten Islands in einfachsten Verhältnissen auf einem Torfhof aufwächst. Eltern, Kinder, Knechte und Mägde schlafen in einem Raum, die Enge ist erdrückend, aber die Hofgemeinschaft gibt auch Sicherheit und Geborgenheit. Das Leben in der Einsamkeit zwischen gewaltigen Gletschern, unüberwindbaren Gebirgszügen und dem stürmischen Nordatlantik ist durchdrungen von alten Volksmärchen und Sagengestalten. Schon als Kind leidet die aufgeweckte, sensible Pálína unter seelischen Spannungen, die von dem ambivalenten Verhältnis zu ihrem Vater geprägt sind. Sie nehmen im Erwachsenenalter zu und werden zu dem, was man heute als bipolare Störung bezeichnen würde. Die Familie steht der psychischen Erkrankung, dem Vogel in Pálínas Brust, der ihr die Luft zum Atmen nimmt, hilflos gegenüber. Die Übersetzung von Anika Lüders trifft den klaren, einfühlsamen Stil der Autorin, die mit wenigen Worten eine ganze Welt entstehen lässt.
Gedichte
Sjón: bewegliche berge
Aus dem Isländischen übersetzt von Tina Flecken und Betty Wahl. Edition Rugerup 2018
Lyrischer Nebel, der Berge bewegen kann. Eine Schöpfergöttin, die in Melancholie verfällt, weil sie nicht erwartet hat, dass sich ihr Schöpfungswerk derart schnell verändern würde. Ein träumendes Ich, das sich in den Karteikartenkästen der Nationalbibliothek verirrt. Eine zahnende Welt, in der Weisheitszähne Schnellstraßen zermahlen. Ein Kinderlied im algenblauen, pechroten, mondbraunen, butterblumengrauen, blutgrünen, erdgelben Land der Seeigel. Grotesk, surreal und tiefgründig sind die Gedichte des bekannten Romanciers Sjón, der – wie so viele isländische Schriftsteller*innen – immer wieder zu seinen lyrischen Wurzeln zurückkehrt. Präzise, zweizeilige Naturgedichte wecken mit blaubeerblauem Sternenfunkeln, dem Brustkorb eines verfaulten Schwans und einem pfeilgeraden Regenbogen unmittelbar Assoziationen an Island. Suggestive Traumgedichte führen in die Südsee und Überlegungen im Bus M29 bei der Betrachtung nummerierter Bäume geradewegs in die Berliner Bürokratie.
Roman
Bergsveinn Birgisson: Die Landschaft hat immer recht
Aus dem Isländischen übersetzt von Eleonore Gudmundsson. Residenz Verlag 2018
Was für eine wilde Mischung! Satire, philosophische Betrachtung, Chronik einer untergehenden Welt, grandiose Naturschilderung, Kapitalismuskritik und melancholischer Humor. Der Küstenfischer Halldór lebt mit einem Haufen raubeiniger Kollegen im Seemannswohnheim eines gottverlassenen Dorfs in den Westfjorden. Die Finanzkrise zeichnet sich drohend am Horizont ab, das Fangquotensystem bedroht die Existenzgrundlage der kleinen Fischer, und Frauen wurden im Dorf schon lange nicht mehr gesichtet. In Halldórs Tagebuch geht es immer ums Wetter, das Meer und den Fisch, doch eigentlich um nichts Geringeres als den Sinn des Lebens. Er hadert mit sich und der Welt, sucht Rat bei dem alten, bettlägerigen Jónmundur, der zufrieden ist, wenn er nur durchs Fenster die Landschaft und die Wolken betrachten kann. Als Halldór sich unsterblich in die neue Haushälterin verliebt, geht alles schief, was schiefgehen kann. Mal ganz nah am Original, mal spielerisch-kreativ, fängt die Übersetzung von Eleonore Gudmundsson den eigenwilligen Ton perfekt ein.
Literarische Rundreise
Halldór Guðmundsson: Island. Insel aus Geschichten
Aus dem Isländischen übersetzt von Kristof Magnusson, mit Fotografien von Dagur Gunnarsson. Corso Verlag 2021
In Island gibt es nur wenige Kulturdenkmäler, aber wenn man genauer hinschaut, lässt sich die isländische Geschichte nahezu überall in der Landschaft erspüren. Erstaunlich oft ist sie mit Literatur verbunden. Diese literarische Rundreise führt an dreißig Orte, die einen besonderen Bezug zur isländischen Kultur und Literatur haben. Fundiert und kurzweilig erzählt der Verleger und Kulturvermittler von Schaffensorten isländischer Schriftsteller*innen, von Schauplätzen literarischer Werke quer durch alle Epochen und Genres und ganz nebenbei auch viel über die Mentalität der Menschen. Einige der erwähnten Bücher sind ins Deutsche übersetzt: Halldór Laxness‘ am Snæfellsjökull angesiedelter Roman Am Gletscher, Hallgrímur Helgasons Heringsroman 60 Kilo Sonnenschein, der in einem vom nordisländischen Siglufjörður inspirierten fiktiven Fjord spielt, oder etwa Gunnar Gunnarssons Klassiker Schwarze Vögel über einen historischen Kriminalfall am Strand Rauðisandur in den Westfjorden. Das Buch macht neugierig auf hierzulande noch unbekannte Autor*innen und Orte abseits der einschlägigen Reiserouten. Erklärungsbedürftige Stellen wurden in der Übersetzung von Kristof Magnusson behutsam ergänzt.
Noch mehr zur isländischen Sprache, Literatur und Kultur erfahrt ihr in unserem Beitrag Große kleine Sprache Isländisch!