Am 18. Oktober 2024 wird der Deutsche Jugendliteraturpreis vergeben. Der mit 10.000 Euro dotierte Sonderpreis „Neue Talente“ geht in diesem Jahr an eine herausragende Nachwuchsübersetzerin. Nominiert sind Marie Alpermann (Serbisch), Astrid Bührle-Gallet (Französisch) und Leonie Nückell (Arabisch).
Herzlichen Glückwunsch zur Nominierung als „Neues Talent“! Du hast für den Tulipan Verlag den Jugendroman Der Sommer, als ich fliegen lernte von Jasminka Petrović aus dem Serbischen übersetzt. Und ich habe gelesen, du hast den Roman nicht ‚nur‘ übersetzt, sondern es ist auch dir zu verdanken, dass er überhaupt auf Deutsch erschienen ist. Wie kam es denn dazu?
Ja, es war ein langer Weg! Der Sommer, als ich fliegen lernte war eins der ersten Bücher, das ich ins Auge gefasst hatte, als ich angefangen habe zu übersetzen. Das Buch ist mir 2015 zum ersten Mal auf einer Slavistikkonferenz begegnet. Ich habe dort einen Vortrag gehört von einer Autorin aus Bosnien-Herzegowina, Lamija Begagić, zum Thema Kinder- und Jugendliteratur in den Ländern des ehemaligen Jugoslawien. Es ging viel darum, dass die Schulbildung dort sehr nationalistisch ist, zum Teil auch sexistisch, und traditionelle Rollenbilder vermarktet. Aber sie hat auch ein paar positive Gegenbeispiele genannt, unter anderem dieses Buch. Ich habe es dann gelesen und sehr gemocht, besonders die Hauptfigur mit ihren Struggles und ihren Stärken. Es war eins der ersten Bücher, bei dem ich dachte: Das würde ich richtig gerne übersetzen.
Und dann hast du angefangen, nach einem deutschsprachigen Verlag zu suchen?
Ja, das wurde dann 2020 konkret. In dem Jahr habe ich vom Deutschen Übersetzerfonds ein Initiativstipendium bekommen, und das hat mich zusätzlich motiviert. Ich habe gestern nochmal nachgezählt: Insgesamt 30 Verlage habe ich kontaktiert, manche sogar mehrfach. Einige davon postalisch. Es kamen ein paar Absagen zurück, aber die meisten Verlage haben sich gar nicht gemeldet.
Dann habe ich mich noch für ein Seminar zum Übersetzen von Kinder- und Jugendbuchliteratur beworben und durfte mit einer Probeübersetzung aus dem Roman mitmachen. Das war toll, weil ich viele gute Tipps für die Übersetzung bekommen habe – das war ja meine erste Jugendbuchübersetzung. Aber auch zum Exposé: dass ich zum Beispiel am besten noch einen weiteren Ausschnitt übersetzen und den Verlagen im Exposé noch detailliertere Informationen geben soll. Besonders die Lektorin Julia Hanauer und die Übersetzerin Nadine Püschel haben mir sehr geholfen und sogar Kontakte zu Verlagen vermittelt.
Da ist aber auch erstmal nichts draus geworden. Ich habe dann – es war ja noch Pandemie – eine Coronahilfe aus Sachsen-Anhalt bekommen. Heute würde ich das nicht wieder so machen, aber weil ich damals nicht so viel zu tun hatte, habe ich das Buch fertig übersetzt und die Verlage nochmal angeschrieben. Auch der serbische Originalverlag hat die Übersetzung deutschsprachigen Verlagen angeboten und auf diesem Wege hat es dann geklappt. Mit dem Tulipan Verlag hatten sie schon einmal zusammengearbeitet, und der hat letztlich zugesagt. Insgesamt hat es also wirklich drei Jahre gedauert, bis die Übersetzung erscheinen konnte. In Serbien, Bosnien-Herzegowina, Kroatien und Montenegro ist das Buch übrigens extrem bekannt und beliebt, und auch die Verfilmung war ein großer Hit. Aber das macht es eben nicht unbedingt leichter, in Deutschland einen Verlag zu finden. Umso mehr freue ich mich, dass es das Buch jetzt gibt und es so viel Aufmerksamkeit bekommt.
Die Hauptfigur und Erzählerin des Romans ist die 13-jährige Sofija. Sie lebt mit ihrer Familie in Belgrad, ist mitten in der Pubertät und zum ersten Mal verknallt. Es ist Sommer und sie würde die Ferien am liebsten mit ihren Freundinnen oder mit der Clique ihres großen Bruders verbringen. Stattdessen wird sie von ihren Eltern dazu verdonnert, mit ihrer Oma nach Stari Grad zu fahren. Das ist ein Ort auf einer kroatischen Insel, wo Sofijas Oma aufgewachsen ist. Ihre Schwester Lucija, die sie seit 26 Jahren, seit dem Zerfall Jugoslawiens, nicht mehr gesehen hat, lebt immer noch hier. Was erwartet Sofija auf dieser Insel?
Lauter Überraschungen, würde ich sagen. Erstmal hat sie gar keine Lust, sie denkt, es wird total langweilig, und das ist es am Anfang auch. Aber die Schwester der Oma wird für sie eine ganz wichtige Bezugsperson, auch eine Art Vorbild. Zum Beispiel spricht sie mit ihr über Sex, das Leben, Religion und über die Umwelt und darüber, dass man auf die Natur aufpassen muss. Sie hat selbst keine Kinder und eine ganz andere Art, mit ihr zu sprechen als ihre Schwester, Sofijas Oma.
Außerdem lernt Sofija eine ganz neue Welt kennen, die Insel, diesen Teil von Jugoslawien, wo sie noch nie war. Was im Sozialismus selbstverständlich war, nämlich in die anderen Republiken zu reisen, ist es für die junge Generation heute leider nicht mehr. Und sie erfährt ein Familiengeheimnis. Ihre Oma hat nämlich noch einen Bruder, mit dem sie aber seit dem Krieg nicht mehr gesprochen hat. Der Familienkonflikt steht symbolisch dafür, welche Fronten es gab, auch ideologisch. Als überzeugte Sozialistin und Atheistin hat die Oma die Insel verlassen und ist nach Belgrad gegangen, während der Rest der Familie katholisch ist. Und überhaupt ist die Insel einfach eine ganz andere Welt. Sofija kommt ja aus der Großstadt und sieht jetzt, wie die Leute dort leben, dass Kinder in ihrem Alter z. B. schon früh mit anpacken müssen, damit die Familien über die Runden kommen. Auch den Dialekt auf der Insel lernt sie kennen.
Und am Ende verliebt sich Sofija auch noch in einen Jungen, der auf der Insel Urlaub macht …
Die Begegnung mit dem Dialekt und die Mehrsprachigkeit innerhalb der Familie spielen eine ganz wichtige Rolle im Buch. Im zweiten Kapitel schreibt sie über ihre Oma: „Seit wir aber in Stari Grad sind, hat sie einen Hänger und plappert nur noch Bodulisch. Das ist so ein lokaler Dialekt.“ Mit dem Dialekt lernt sie auch nochmal eine ganz neue Seite an ihrer Oma kennen. Wie würdest du das Verhältnis der beiden ‚Sprachen‘ beschreiben?
Einerseits muss man zwischen zwei leicht verschiedenen Varietäten der Standardsprache, also der kroatischen und der serbischen Variante, unterscheiden. Das könnte man zum Beispiel ungefähr mit der österreichischen Standardsprache vergleichen, in der gewisse Wörter akzeptiert und geläufig sind, die wir in Deutschland vielleicht gar nicht kennen. Dazu kommt aber noch, dass die Leute auf der Insel einen Dialekt sprechen, den Sofija vorher nie gehört hat. Offensichtlich hat sich die Oma in Belgrad bemüht, sich anzupassen, und spricht auf der Insel jetzt wieder so, wie sie als Kind gesprochen hat.
Der Roman thematisiert die Unterschiede in den beiden Standardsprachen anhand einzelner Wörter, zum Beispiel, dass man in Belgrad für Kino bioskop sagt und in Kroatien kino. Dann gibt’s aber eben auch noch das Dialektale, mit dem sowohl Sofija und die jungen Leser*innen des Originals als auch ich selbst eine ähnliche Erfahrung machen. Zum Beispiel heißt Milch je nach Varietät mleko oder mlijeko, aber auf der Insel sagen sie mliko. Das kann Sofija irgendwie verstehen und erraten, aber es gibt auch noch Wörter, die sie gar nicht versteht.
Wie bist du damit in der Übersetzung umgegangen?
Da war das Original eigentlich sehr dankbar. Dadurch, dass Sofija die Wörter selbst erst lernt und sie dann auch eingeführt werden im Text, musste ich nichts künstlich einfügen. Die Erklärungen waren schon da. Sofija fragt ja auch oft nach, was ein Wort bedeutet, und lernt es auf diese Weise. Die neuen Wörter, die Sofija lernt, lernen die deutschsprachigen Leser*innen dann auch, das mute ich ihnen zu.
Für den Dialekt der älteren Leute auf der Insel bin ich recht intuitiv vorgegangen und habe sie z. B. Vokale verschlucken und eher das Perfekt als das Präteritum verwenden lassen, habe „ham“ und „haste“ statt „wir haben“ oder „hast du“ geschrieben. Da habe ich ein bisschen improvisiert.
Das funktioniert sehr gut beim Lesen! Vielleicht können wir noch genauer über die Sprache der Erzählerin sprechen. Du hast schon erwähnt, dass Sofija am Anfang ziemlich gelangweilt und auch ein bisschen genervt ist. Sie erzählt immer nachts von dem, was sie den Tag über erlebt hat – und unterbricht ihren Bericht immer wieder, weil ihre Oma im Bett neben ihr so laut schnarcht, sie so sehr schwitzt, die Stechmücken im Zimmer jagt, oder die Mäuse auf dem Dachboden rascheln hört. Das ist oft ziemlich witzig und überhaupt hat Sofija einige flotte Sprüche auf Lager. Wie würdest du den Ton ihrer Erzählung beschreiben?
Ich habe immer versucht, mir vorzustellen, wie dieses junge Mädchen sich das alles selbst erzählt. Sie liegt im Bett und lässt den Tag im Kopf Revue passieren. Es ist kein echtes Tagebuch, das ist alles in ihrem Kopf, und vermischt sich mit dem, was gerade um sie herum passiert. Ich habe versucht, das möglichst direkt wiederzugeben, also als erlebte Rede. Sofija sagt zum Beispiel „Boa wie peinlich!“ und nicht „Das war mir voll peinlich.“ Oder „Seufz!“ statt „Ich seufze tief.“ Manchmal bin ich hier sogar noch ein bisschen weitergegangen als im Original und war noch direkter. Manches ist im Original aber schon vorgegeben: Zum Beispiel kommen viele englische Begriffe vor, wie „fancy Reisekissen“ oder zwischen Dialekt und Hochsprache „switchen“.
Zu diesem Ton hat für mich kein klassischer Vergangenheitserzählstil gepasst. Ein korrekter Konjunktiv in der indirekten Rede hätte ebenfalls komisch geklungen. Statt „Meine Oma sagte, das gehe so nicht.“ habe ich geschrieben: „Meine Oma hat gesagt, das geht so nicht.“ Ich habe öfter das Perfekt benutzt, weil das mündlicher ist, aber bei längeren Erzählpassagen dann Imperfekt, um nicht immerzu „Ich habe…“, „Ich habe…“, „Ich habe…“ zu schreiben. Für mich war die größte Herausforderung, dass es authentisch klingt, aber beim Lesen nicht nervt. Ich konnte vieles einbringen, was ich aus Übersetzungsworkshops mitgenommen hatte. Zum Beispiel darauf zu achten, dass jugendsprachliche Wörter oder Schimpfwörter nicht so sehr herausstechen, sondern sich in einen insgesamt eher umgangssprachlichen Erzählton einfügen. Für den Verlag war das eher unkonventionell. Die Zusammenarbeit mit dem Tulipan Verlag war toll, aber einige meiner Entscheidungen musste ich im Lektorat zunächst verteidigen, bis wir zusammenkamen.
Hast du eine Lieblingsstelle im Buch?
Mir gefällt der Anfang, wo Sofija im Bus sitzt und beschreibt, dass sie ihre Oma total peinlich findet, wenn sie mit ihrem Riesenkissen anderen den Weg versperrt, an der Grenze ewig nach dem Pass sucht, oder ihr ständig etwas zu Essen andrehen will. Das ist wirklich lustig.
Außerdem mag ich sehr, wie beschrieben wird, welche Probleme sie als Mädchen mit ihrem pubertären Körper hat. Zum Beispiel will sie zunächst nicht baden gehen und sitzt im Pulli am Strand. Das fand ich sehr ehrlich. Sofija ist ein selbstbewusstes Mädchen. Das hat mir beim ersten Lesen sehr gefallen: diese Mischung, dass sie total frech und selbstbewusst ist, aber trotzdem noch ihren Weg finden und lernen muss, sich selbst zu akzeptieren.
Und zum Schluss: Was war dein erster Gedanke, als du von der Nominierung erfahren hast?
Ich habe mich einfach wahnsinnig gefreut! Es ist unglaublich zu merken, dass etwas, was ich mir in meinem Kopf überlegt habe, jetzt anderen gefällt und Anerkennung findet.
Marie Alpermann hat Slavistik in Halle (Saale) studiert, Auslandssemester in Sarajevo und Novi Sad verbracht und je ein Jahr in Kyiv und Ljubljana gelebt. Bevor sie auf den Beruf der Literaturübersetzerin kam, hat sie mehrere Jahre im bildungspolitischen und pädagogischen Bereich gearbeitet. Seit 2019 sind in ihrer Übersetzung zeitgenössische Prosawerke u. a. von Lejla Kalamujić, Dragoslava Barzut, Senka Marić, Biljana Jovanović, Maša Kolanović und Antonela Marušić erschienen.