Kaf­ka glo­bal: 100 Jah­re im Schnelldurchlauf

Heute vor 100 Jahren starb der Prager Schriftsteller Franz Kafka. Längst gehört er zu den berühmtesten und meistgelesenen Autor*innen weltweit. Im Trubel des Jubiläumsjahrs tauchen wir ein in die Geschichte der Kafka-Übersetzungen. Von

Verschiedene Versionen von Kafka, von Midjourney erstellt.

Man könn­te das Gefühl bekom­men, er ver­fol­ge uns. Seit Beginn des Jah­res schaut das iko­ni­sche Gesicht Franz Kaf­kas uns stän­dig ent­ge­gen: auf Fly­er und Pla­ka­ten, die für Aus­stel­lun­gen und Lesun­gen wer­ben, in der Zei­tung, im Fern­se­hen, von Buch­co­vern in Buch­hand­lun­gen, Biblio­the­ken und Ver­lags­vor­schau­en, in Comics, auf Tik­tok und Insta­gram, und manch­mal sogar auf T‑Shirts, Taschen, Jute­beu­teln, Notiz­bü­chern, Radier­gum­mis und so wei­ter und so fort.

Täg­lich geht es zur­zeit in ver­schie­dens­ten Ver­an­stal­tun­gen um Kaf­ka, kaum einer sei­ner Tex­te ist aktu­ell nicht als Thea­ter-Adap­ti­on an Deut­schen Büh­nen zu sehen und stän­dig erschei­nen neue Roma­ne, Erzäh­lun­gen, Sach­bü­cher, Essays und For­schungs­bei­trä­ge über den Autor. Auch die „sie­ben wich­tigs­ten Wer­ke des Jahr­hun­dert­schrift­stel­lers“ erschei­nen im S. Fischer Ver­lag in einer Neu­aus­ga­be, die drei­bän­di­ge Bio­gra­phie von Rei­ner Stach erscheint in einer limi­tier­ten Son­der­aus­ga­be. Wir kön­nen Kaf­ka im Kino erle­ben, im Psy­cho­test her­aus­fin­den, wel­che Kaf­ka-Figur wir sind (Joseph K.? Fräu­lein Bürst­ner? Gre­gor Samsa? oder doch Gre­te Mit­zel­bach?) oder im Video­spiel in Kaf­kas-Welt ein­tau­chen. Und wäh­rend Literaturwissenschaftler*innen und Schriftsteller*innen uner­müd­lich ver­su­chen, der Fas­zi­na­ti­on um Franz Kaf­ka auf den (uner­gründ­li­chen?) Grund zu gehen, tau­schen sich jun­ge Men­schen auf Tik­Tok, Insta­gram und Co. über ihre Kaf­ka-Lek­tü­ren aus, und zwar weltweit.

Die Fas­zi­na­ti­on für das Werk Franz Kaf­kas scheint nicht nur unge­bro­chen, sie scheint noch zu wach­sen. Die gro­ße Mehr­heit der Leser*innenschaft liest Kaf­ka aber natür­lich nicht im ‚Ori­gi­nal‘ (wobei die Fra­ge nach der Ori­gi­nal­fas­sung im Fall von Kaf­ka ohne­hin oft gar nicht so leicht zu beant­wor­ten ist), son­dern in Über­set­zun­gen. Und längst nicht alle, die Die Ver­wand­lung, den Pro­ceß oder Das Schloss auf Bas­kisch, Far­si, Fin­nisch, Hin­di, Islän­disch, Mara­thi, Tür­kisch, Ukrai­nisch oder in einer der ande­ren etwa 50 Spra­chen lesen, in die die Wer­ke Kaf­kas über­setzt wur­den, wer­den sich beim Lesen bewusst machen, dass Franz Kaf­ka die Wör­ter einer ande­ren Spra­che ver­wen­det hat, als den Text schrieb.

Übersetzer*innen prä­gen das Bild des Autors also schon lan­ge mit. Sie span­nen Kaf­kas Werk als ein glo­ba­les Netz auf. Ihre Ver­sio­nen sei­ner Tex­te unter­schei­den sich je nach Ent­ste­hungs­zeit­punkt und ‑kon­text, Lese­ge­wohn­heit und lite­ra­ri­schen Trends ihrer Kul­tur sowie ihrer jewei­li­gen Inter­pre­ta­tio­nen der Tex­te. Inzwi­schen sind es so vie­le, dass selbst ein gan­zes Leben nicht aus­rei­chen wür­de, sie alle zu lesen.

Schon der Ver­such, eine voll­stän­di­ge Biblio­gra­phie aller Aus­ga­ben von Kaf­ka-Tex­ten zu erstel­len, ist zum Schei­tern ver­ur­teilt. Es gäbe sicher vie­le span­nen­de Geschich­ten aus der Geschich­te der Kaf­ka-Über­set­zun­gen zu erzäh­len, wenn man genug Zeit hät­te, sie auf­zu­spü­ren – und über aus­rei­chen­de Sprach­kennt­nis­se ver­fü­gen wür­de, in die Bio­gra­phien der unzäh­li­gen Übersetzer*innen ein­zu­tau­chen. Die Aus­wahl der Daten und Anek­do­ten, die im Fol­gen­den nicht mehr als einen luf­ti­gen Pur­zel­baum durch 100 Jah­re Über­set­zungs­ge­schich­te schla­gen, kann also nur eine belie­bi­ge sein, und stützt sich auf die Vor­ar­beit Anderer.

1924

Franz Kaf­ka stirbt im Alter von 40 Jah­ren in einem Sana­to­ri­um bei Wien an Tuber­ku­lo­se. Er hat zu Leb­zei­ten nur weni­ge Erzäh­lun­gen ver­öf­fent­licht und hin­ter­lässt drei Roman­frag­men­te sowie eine Rei­he kür­ze­rer Erzäh­lun­gen, Brie­fe und Tage­bü­cher – aber kein Tes­ta­ment. Kaf­kas Fami­lie ernennt sei­nen engen, lang­jäh­ri­gen Freund, den Schrift­stel­ler Max Brod, zum Nach­lass­ver­wal­ter. Schon 1925 beginnt er, die unver­öf­fent­lich­ten Tex­te her­aus­zu­ge­ben: zunächst Der Pro­zeß (1925), es fol­gen Das Schloss (1926) und Ame­ri­ka (1927; heu­te bekann­ter unter dem Titel Der Ver­schol­le­ne).

In einem berühmt gewor­de­nen Brief vom 29. Novem­ber 1922 hat­te Kaf­ka, bereits schwer krank, an Brod geschrie­ben: „alles, was sonst an Geschrie­be­nem von mir vor­liegt […] ist aus­nahms­los und am liebs­ten unge­le­sen (doch weh­re ich Dir nicht hin­ein­zu­schau­en, am liebs­ten wäre es mir aller­dings wenn Du es nicht tust, jeden­falls aber darf nie­mand ande­rer hin­ein­schau­en) – alles dies ist aus­nahms­los zu ver­bren­nen und dies mög­lichst bald zu tun bit­te ich Dich.“ Der Her­aus­ge­ber der kri­ti­schen Kaf­ka-Edi­ti­on, Hans-Gerd Koch, ver­mu­tet, dass die­se Auf­for­de­rung nicht unbe­dingt ernst gemeint war. Er stellt den Brief in den Kon­text ande­rer Brie­fe, in denen Brod und Kaf­ka sich Hand­lungs­an­wei­sun­gen für die Zeit nach ihrem jewei­li­gen Tod gaben, zum Teil wohl eher scherz­haft, und geht davon aus, dass Kaf­ka Brod vor allem von der „Ver­ant­wor­tung für sei­ne Tex­te und deren Deu­tung befrei­en“ woll­te.1 Jeden­falls hält Max Brod sich nicht daran.

1925

Auch die ers­te Über­set­zung einer län­ge­ren Erzäh­lung erscheint bereits im Jahr nach Kaf­kas Tod, und zwar in der Revis­ta de Occi­den­te in Madrid: eine spa­ni­sche Über­set­zung der Ver­wand­lung. Der oder die Übersetzer*in bleibt anonym. Ers­te Über­set­zun­gen kür­ze­rer Erzäh­lun­gen waren bereits ab 1920 erschie­nen, und zwar ins Tsche­chi­sche, Nie­der­län­di­sche, Unga­ri­sche, Nor­we­gi­sche und Kata­la­ni­sche. Die aller­ers­te Über­set­zung einer Erzäh­lung Franz Kaf­kas stammt von Mile­na Jesens­ká. 1919 hat­te sie Kaf­ka in einem Brief um Erlaub­nis gebe­ten, sei­ne Erzäh­lung Der Hei­zer ins Tsche­chi­sche über­set­zen zu dür­fen. Ihre Über­set­zung wird 1920 unter dem Titel Topič in der Pra­ger Lite­ra­tur­zeit­schrift Kmen ver­öf­fent­licht. Berühmt ist Mile­na Jesens­ká heu­te aller­dings nicht als Über­set­ze­rin und (spä­ter auch) erfolg­rei­che Jour­na­lis­tin, son­dern als ‚Mile­na‘, genau­er gesagt ‚Kaf­kas Mile­na‘, eine von sei­nen Gelieb­ten. Als sol­che kommt sie in Roma­nen, Fil­men und Seri­en vor. Die Bezie­hung zwi­schen den bei­den währ­te nicht lan­ge, und spiel­te sich größ­ten­teils in Brie­fen und bei nur weni­gen kur­zen Tref­fen ab. Kaf­kas „Brie­fe an Mile­na“ erschie­nen 1952; die Brie­fe, die sie ihm schrieb, sind nicht erhal­ten (Jesens­ká wur­de 1944 im Kon­zen­tra­ti­ons­la­ger Ravens­brück ermor­det). Das Bild von Mile­na Jesens­ká als Kaf­kas Gelieb­te (und ers­ter Über­set­ze­rin!) ent­stand also um ihr Schwei­gen herum. 

1928

Mit Euge­ne Jolas Über­set­zung von Das Urteil unter dem Titel The Sen­tence erscheint die ers­te eng­li­sche Über­set­zung eines Kaf­ka-Tex­tes. In Frank­reich erscheint in der pres­ti­ge­träch­ti­gen Nou­vel­le Revue Fran­çai­ses die ers­te fran­zö­si­sche Kaf­ka-Über­set­zung: Alex­and­re Vial­et­tes La méta­mor­pho­se (Die Ver­wand­lung). In bei­den Spra­chen nahm die Kaf­ka-Rezep­ti­on schnell Fahrt auf, in Frank­reich beson­ders bedingt durch den Sur­rea­lis­mus, des­sen Ver­tre­ter in Kaf­ka wegen der traum­ähn­li­chen, absur­den Bil­der­wel­ten sei­ner Erzäh­lun­gen einen Weg­be­rei­ter zu erken­nen glaubten.

1930

Wil­la und Edwin Muir, ein Ehe­paar aus Schott­land, legt mit The Cast­le (Das Schloß) die ers­te Über­set­zung eines Kaf­ka-Romans vor. Wil­la Muir hat­te als eine der ers­ten Frau­en in Schott­land Klas­si­sche Phi­lo­lo­gie stu­diert, 1919 den Dich­ter Edwin Muir gehei­ra­tet und war anschlie­ßend mit ihm nach Euro­pa auf­ge­bro­chen. Bei län­ge­ren Auf­ent­hal­ten in Deutsch­land und Tsche­chi­en lern­te sie bei­de Spra­chen und begann zu über­set­zen. Das Über­set­zen wur­de für die Muirs schnell zu einer wich­ti­gen Ein­kom­mens­quel­le. Eine gan­ze Rei­he von Kaf­ka-Tex­ten erschien im Lau­fe der 1930er-Jah­re „über­setzt von Edwin und Wil­la Muir“. 

1936

Auch in Polen wird Kaf­kas Werk in lite­ra­ri­schen Krei­sen zunächst eupho­risch auf­ge­nom­men. 1936 erscheint die pol­ni­sche Über­set­zung des Pro­ceß. Der Über­set­zer? Der bekann­te Schrift­stel­ler Bru­no Schulz, angeb­lich. Spä­ter stell­te sich her­aus, dass eigent­lich sei­ne Ver­lob­te Józe­fi­na Sze­lińs­ka den Text über­setzt und er ihr dabei wohl nur bera­tend zur Sei­te gestan­den hat­te. Nach dem zwei­ten Welt­krieg erschwer­te die Kunst­dok­trin des Sozia­lis­mus, ähn­lich wie in ande­ren kom­mu­nis­tisch regier­ten Län­dern Mit­tel- und Ost­eu­ro­pas, die Ver­öf­fent­li­chung von Kaf­ka-Tex­ten und Sze­lińs­kas Über­set­zung blieb lan­ge die maß­geb­li­che Fassung.

1937

Fast zeit­gleich erschei­nen die ers­ten bei­den eng­li­schen Über­set­zun­gen von der Ver­wand­lung: die von A.L. Lloyd in Lon­don bei Faber & Faber und die von Euge­ne Jolas in dem US-ame­ri­ka­ni­schen Maga­zin Tran­si­ti­on, bei­de unter dem Titel The Meta­mor­pho­sis.
Die Ver­wand­lung wur­de schnell zum mei­st­über­setz­ten Kaf­ka-Text und ist es noch heu­te. Der Lite­ra­tur­wis­sen­schaft­ler Patrick O’Neil zählt für sein 2014 erschie­ne­nes Buch Trans­forming Kaf­ka. Trans­la­ti­on Effects ins­ge­samt 175 Über­set­zun­gen in 42 ver­schie­de­ne Spra­chen, davon allein 16 eng­lisch­spra­chi­ge. Inzwi­schen dürf­ten noch wei­te­re dazu gekom­men sein.

Beson­de­res Kopf­zer­bre­chen berei­te­te den Übersetzer*innen von Die Ver­wand­lung immer wie­der der ers­te Satz der Erzählung: 

„Als Gre­gor Samsa eines Mor­gens aus unru­hi­gen Träu­men erwach­te, fand er sich in sei­nem Bett zu einem unge­heu­ren Unge­zie­fer verwandelt.“ 

Neben „unru­hi­ge Träu­me“ und „ver­wan­delt“ ist es vor allem das „unge­heu­re[] Unge­zie­fer“, das sich der Über­set­zung zu ver­sper­ren scheint. Kaf­ka hat­te die Geschich­te sorg­fäl­tig so gestal­tet, dass nicht klar wird, um was für ein Tier es sich genau han­delt. Auch gegen eine Illus­tra­ti­on des Tex­tes mit einer Käfer-Zeich­nung wehr­te er sich vor des­sen Erschei­nen vehe­ment. Neben der zoo­lo­gi­schen Vag­heit ist auch die abwer­ten­de Bedeu­tung von „Unge­zie­fer“ wich­tig. In ande­ren Spra­chen gibt es aber weder für „Unge­zie­fer“ noch für „unge­heu­er“ ein ent­spre­chen­des Wort. Und auch klang­lich-rhyth­misch ist es gar nicht so leicht, die Auf­fäl­lig­keit die­ses Aus­drucks nach­zu­bil­den, ohne dass das Ergeb­nis furcht­bar plump klingt. 
Allein im Eng­li­schen exis­tiert eine gan­ze Rei­he ver­schie­de­ner Über­set­zun­gen – die Gre­gor Samsa als ver­wan­del­te Krea­tur zum Teil recht unter­schied­lich aus­se­hen lassen: 

„enorm­ous bug“
„some mons­trous kind of ver­min“
„a gigan­tic insect“
„a mons­trous ver­min“
„a mons­trous insect“
„some kind of mons­trous ver­min“
„a mons­trous cock­roach“
„a huge ver­mi­nous insect“
„an enorm­ous bedbug“
„some sort of mons­trous insect“ 

(Euge­ne Jolas, 1936)
(A. L. Lloyd, 1937)
(Edwin und Wil­la Muir, 1948)
(Stan­ley Corn­gold, 1972)
(Mal­colm Pas­ley, 1992)
(Joy­ce Crick, 2006)
(Micha­el Hof­mann, 2006)
(John R. Wil­liams, 2014)
(Chris­to­pher Mon­crieff, 2014)
(Sus­an Ber­nof­sky, 2014)

Im Fran­zö­si­schen fin­den sich u.a. „une for­mi­da­ble ver­mi­ne“ (Alex­and­re Vial­et­te, 1928), „un mon­s­trueux insec­te“ (Ber­nard Lortho­la­ry, 1988) und „un énor­me can­cre­lat“ (Clau­de David, 1989), im Spa­ni­schen neben „un mons­truo­so insec­to“ (Jor­ge Luis Bor­ges, 1938) auch Über­set­zun­gen mit „cuca­racha“ (also Küchen­scha­be). Im Ita­lie­ni­schen heißt es meist „inset­to“, das aber mal als „immon­do“, mal als „mons­truo­so“ und mal als „gigan­tes­co“ beschrie­ben wird (Rodol­fo Pao­li, 1934; Ani­ta Rho, 1935; Lui­gi Cop­pé, 1974).

1940

Die ers­te Kaf­ka-Über­set­zung in eine nicht-euro­päi­sche Spra­che ist Kôi­chi Moto­nos japa­ni­sche Über­set­zung von Der Pro­ceß unter dem Titel Shin­pan. Wei­te­re japa­ni­sche Über­set­zun­gen fol­gen ab 1950, korea­ni­sche Über­set­zun­gen ab 1955 und chi­ne­si­sche Über­set­zun­gen ab 1960. 

1947

In Bogo­tá (Kolum­bi­en) fällt einem lite­ra­tur­be­geis­ter­ten Jura­stu­den­ten ein klei­nes Buch in die Hän­de, das sei­nem Leben einen neu­en Weg weist und des­sen Satz er noch 40 Jah­re spä­ter aus­wen­dig auf­sa­gen kön­nen wird: eine spa­ni­sche Über­set­zung von Die Ver­wand­lung. Der spä­te­re Lite­ra­tur­no­bel­preis­trä­ger Gabri­el Gar­cía Már­quez erzählt in sei­nem 1982 erschie­nen Gesprächs­band Geruch der Gua­ya­ve von sei­ner ers­ten Begeg­nung mit Kaf­ka. Er ist einer von unzäh­li­gen jun­gen Schriftsteller*innen welt­weit, für die die Begeg­nung mit dem Werk Franz Kaf­kas prä­gend war. Vie­le haben über ‚ihren Kaf­ka‘ geschrie­ben oder gespro­chen, vie­le tun es aktu­ell anläss­lich des Jubi­lä­ums wie­der, hier­zu­lan­de z.B. in einer Rei­he der Süd­deut­schen Zei­tung, im Lite­ra­tur­ma­ga­zin Les­art beim Deutsch­land­funk Kul­tur oder in dem von Sebas­ti­an Gug­golz her­aus­ge­ge­be­nen Band Kaf­ka gele­sen.

1953

Wil­la Muir, die seit über zwei Jahr­zehn­ten als Über­set­ze­rin tätig ist, schreibt in ihr Tagebuch:

„even the trans­la­ti­ons I had done were no lon­ger my own ter­ri­to­ry, for ever­yo­ne assu­mes that Edwin did them. He is refer­red to as ‘THE’ trans­la­tor. By this time he may even belie­ve that he was. He has let my repu­ta­ti­on sink, by default; […] And the fact remains: I am a bet­ter trans­la­tor than he is. The who­le cur­rent of patri­ar­chal socie­ty is set against this fact, howe­ver, and sweeps it into obli­vi­on, sim­ply becau­se I did not insist on shou­ting aloud: „Most of this trans­la­ti­on, espe­ci­al­ly Kaf­ka, has been done by ME. Edwin only hel­ped.“2 

Wil­la Muir hat­te bereits 1925 in der Hogarth Press von Vir­gi­nia und Leo­nard Woolf einen femi­nis­ti­schen Auf­satz mit dem Titel Woman: An Inquiry ver­öf­fent­licht, in den 1930ern folg­ten zwei Roma­ne. Zwei wei­te­re Roma­ne blie­ben unver­öf­fent­licht, dar­un­ter Mrs. Mut­toe and the Top Storey. Die Hand­lung ist stark auto­bio­gra­phisch: Die Geschich­te spielt im Lon­don der 1930er Jah­re, Haupt­fi­gur ist die Über­set­ze­rin Ali­son Mut­toe. Sie ver­dient Geld mit Über­set­zun­gen deutsch­spra­chi­ger Autoren (dar­un­ter auch einer, der an Kaf­ka den­ken lässt), wäh­rend ihr Mann im Stock­werk über ihr (‚in the top storey‘) sitzt und als Dich­ter nach Selbst­ver­wirk­li­chung strebt.3

Die Muir-Über­set­zun­gen wur­den spä­ter viel­fach kri­ti­siert, sie sei­en unge­nau und bil­de­ten die sti­lis­ti­schen Beson­der­hei­ten von Kaf­kas Pro­sa nicht aus­rei­chend ab. Wil­la Muir selbst schreibt in ihrem Memoi­re Belon­ging, nicht in Bezug  auf Kaf­ka, son­dern ihre beson­ders erfolg­rei­che Über­set­zung von Lion Feucht­wan­gers Jud Süß: „what we pro­du­ced was a polished ren­de­ring“; vie­le der Tex­te, die sie über­setzt habe, hät­ten bei bri­ti­schen Ver­la­gen nur in geglät­te­ter, „domes­ti­zier­ter“ Form Anklang gefun­den. Und da das Ehe­paar Muir nun ein­mal von ihrem Ein­kom­men als Über­set­ze­rin abhän­gig war, pass­te sie sich an.4 

1963

Anläss­lich Kaf­kas 80. Geburts­tag ver­an­stal­tet der tsche­cho­slo­wa­ki­sche Schrift­stel­ler­ver­band zusam­men mit der Aka­de­mie der Wis­sen­schaf­ten eine Kaf­ka-Tagung, die soge­nann­te Libli­ce-Kon­fe­renz, im tsche­chi­schen Libli­ce. Kaf­ka galt in den kom­mu­nis­ti­schen Län­dern als indi­vi­dua­lis­tisch, als typi­sches Bei­spiel deka­den­ter Ästhe­tik. Vor 1963 waren in der DDR kei­ne Aus­ga­ben von Kaf­ka-Tex­ten erschie­nen, auch rus­si­sche Über­set­zun­gen gab es offi­zi­ell nicht. Die Kon­fe­renz woll­te nun die Rol­le des Autors aus mar­xis­tisch-leni­nis­ti­scher Sicht neu bewer­ten (d. h. auf­wer­ten). Schließ­lich war Kaf­ka ein Pra­ger Autor. 

Gela­den waren acht­zehn tsche­cho­slo­wa­ki­sche und neun aus­län­di­sche Teil­neh­mer aus der DDR, aus Öster­reich, Frank­reich, Ungarn, Polen und Jugo­sla­wi­en. Sowje­ti­sche Wis­sen­schaft­ler waren nicht ver­tre­ten. Kern­punkt der Debat­ten war der Begriff der Ent­frem­dung, im mar­xis­ti­schen Sinn, und die Fra­ge, ob Kaf­kas Roma­ne die­sen ästhe­tisch umsetz­ten. Die­se Fra­ge ent­hielt eine sol­che poli­ti­sche Spreng­kraft, dass von der Kon­fe­renz nicht nur lite­ra­ri­sche, son­dern auch poli­ti­sche Impul­se aus­gin­gen, die fünf Jah­re spä­ter in den Pra­ger Früh­ling führ­ten.5

1964

Ers­te Über­set­zun­gen ins Rus­si­sche erschei­nen in der Sowjet­uni­on. Auch tsche­chi­sche und slo­wa­ki­sche Über­set­zun­gen sowie die ers­te DDR-Aus­ga­be fol­gen auf die Kon­fe­renz in Libli­ce. Nach dem Pra­ger Früh­ling im August 1968 waren Publi­ka­tio­nen von Kaf­ka-Tex­ten nicht mehr mög­lich. Eine neue Pha­se der Kaf­ka-Rezep­ti­on begann erst wie­der nach 1989.

1973

„kaf­ka­esk“ wird in den Duden auf­ge­nom­men: kaf­ka­esk, Adjek­tiv, in der Art der Schil­de­run­gen Kaf­kas; auf uner­gründ­li­che Wei­se bedrohlich.

Auch in eini­gen ande­ren Spra­chen gibt es ein Adjek­tiv mit die­ser Bedeu­tung: kaf­kovs­ký im Tsche­chi­schen, kaf­ki­a­no im Spa­ni­schen, kaf­kaes­que im Eng­li­schen, kaf­kaï­en im Fran­zö­si­schen, kaf­kow­ski im Pol­ni­schen, kaf­ka­ar­tad im Schwe­di­schen und カフカ的 oder カフカの im Japanischen.

DWDS-Wort­ver­laufs­kur­ve für „kaf­ka­esk“, erstellt durch das Digi­ta­le Wör­ter­buch der deut­schen Spra­che, abge­ru­fen am 30.5.2024.


1974

Der Sohn und Erbe des ers­ten fran­zö­si­schen Kaf­ka-Über­set­zers Alex­and­re Vial­et­te gewinnt in Paris einen für die dor­ti­ge Kaf­ka-Rezep­ti­on fol­gen­rei­chen Gerichts­pro­zess gegen den Ver­lag Gal­li­mard. Gegen­stand war die Ver­öf­fent­li­chung von Clau­de Davids Über­ar­bei­tun­gen von Vial­et­tes Über­set­zun­gen von Das Urteil, Die Ver­wand­lung und wei­te­ren Tex­ten, die er für eine kom­men­tier­te Gesamt­aus­ga­be für die Rei­he Biblio­t­hè­que de la Plé­ia­de ange­fer­tigt hat­te. David ver­ant­wor­te­te den Band als Her­aus­ge­ber und hielt es für not­wen­dig, Vial­et­tes Über­set­zun­gen, die auf­ge­nom­men wer­den soll­ten, anzu­pas­sen. Der Sohn des Über­set­zers klag­te – und bekam recht. Die Plé­ia­de-Aus­ga­be erschien mit Vial­et­tes Über­set­zun­gen. Davids Kor­rek­tu­ren wur­den in einen umfas­sen­den Anmer­kungs­ap­pa­rat ver­bannt. Das trug mit dazu bei, dass Kaf­ka-Tex­te in Frank­reich noch lan­ge in Vial­et­tes Über­set­zun­gen gele­sen wur­den, obwohl sie tat­säch­lich recht wenig von dem, was man land­läu­fig „Text­treue“ nennt, auf­wei­sen.6

1982

1982 erscheint im S. Fischer Ver­lag der ers­te Band der von Hans-Gerd Koch her­aus­ge­ge­ben kri­ti­schen Aus­ga­be von Kaf­kas Wer­ken. Max Brod hat­te als Her­aus­ge­ber teil­wei­se stark in die Tex­te ein­ge­grif­fen, geglät­tet und stel­len­wei­se regel­recht zen­siert. Mit der Neu­aus­ga­be der Wer­ke wer­den die­se noch ein­mal neu zugäng­lich, kön­nen noch ein­mal neu ent­deckt wer­den – und wer­den des­halb viel­fach auch neu übersetzt.

1994

Am 31.12.1994, am letz­ten Tag des 70. Jah­res nach Kaf­kas Tod, wer­den sei­ne Tex­te gemein­frei. Ver­la­ge, die einen Kaf­ka-Text – auf Deutsch oder in Über­set­zung – ver­öf­fent­li­chen wol­len, müs­sen jetzt also kei­ne Lizenz mehr kau­fen. Die Fol­ge wie so oft: Neu­aus­ga­ben und Neuübersetzungen.

2000

Die aktua­li­sier­te Fas­sung der ursprüng­lich ab 1982 erschie­ne­nen Inter­na­tio­na­len Kaf­ka-Biblio­gra­phie, her­aus­ge­ge­ben von Maria Lui­se Capu­to-Mayr und Juli­us Micha­el Herz, lis­tet auf ins­ge­samt 1.400 Sei­ten auch Kaf­ka-Über­set­zun­gen in über 40 Spra­chen auf. Für den Pro­ceß führt sie 78 deutsch­spra­chi­ge, 61 eng­li­sche, 43 spa­ni­sche, 35 ita­lie­ni­sche und 28 fran­zö­si­sche unter zahl­rei­chen wei­te­ren Aus­ga­ben an.

2014

Das tsche­chi­sche Sta­tis­tik­amt gibt neue Zah­len zum Tou­ris­mus bekannt: 2014 erwirt­schaf­tet die Tou­ris­mus­bran­che in Tsche­chi­en 8,8 Mil­li­ar­den Euro, 1,5 % mehr als im Vor­jahr. Aus­län­di­sche Tou­ris­ten geben pro Tag im Schnitt 180 Euro aus. 225.000 Men­schen sind im tou­ris­ti­schen Bereich beschäf­tigt. Vie­le der aus­län­di­schen Besu­cher zieht es in die Stadt, in der Kaf­ka gelebt hat, sie pil­gern an sein Grab auf dem Neu­en Jüdi­schen Fried­hof, besich­ti­gen das Kaf­ka Muse­um (wo übri­gens auch ver­schie­de­ne Über­set­zun­gen sei­ner Wer­ke aus­ge­stellt sind). So ganz kön­nen die Pra­ger die­sen Wir­bel um den Autor meist nicht nach­voll­zie­hen, obwohl Kaf­ka inzwi­schen auch in tsche­chi­schen Buch­hand­lun­gen und Biblio­the­ken teil­wei­se wie­der im Regal mit den ‚tsche­chi­schen Autoren‘ zu fin­den ist.

2016

Jon Foss, inzwi­schen Lite­ra­tur­no­bel­preis­trä­ger, über­setzt Kaf­kas Ver­wand­lung ins Nyn­orsk. Bis dahin lagen nur Über­set­zun­gen von Kaf­ka-Tex­ten in Bok­mål, der ande­ren Stan­dard­va­rie­tät des Nor­we­gi­schen vor. Nach anfäng­li­chen Schwie­rig­kei­ten, einen Ver­lag von dem Pro­jekt zu über­zeu­gen, ist der Erfolg so groß, dass er 2022 auch noch den Pro­ceß über­setzt.7

Falls Jon Fos­se der ein­zi­ge Lite­ra­tur­no­bel­preis­trä­ger sein soll­te, der Kaf­ka über­setzt hat, so ist er bei sei­nen Preis­trä­ger­kol­le­gen doch in guter Gesell­schaft mit die­sem Pro­jekt. Vie­le von ihnen haben die ent­schei­den­de Rol­le Kaf­kas für ihr Arbei­ten her­vor­ge­ho­ben, wur­den mit Kaf­ka ver­gli­chen, haben ihn zum Held oder Gegen­stand ihrer Tex­te gemacht oder Wer­ke Kaf­kas her­aus­ge­ge­ben. Von Kaf­kas Wirk­macht kön­nen aber auch die meis­ten Nobel­preis­trä­ger nur träumen.

2024

Die Welt im Kaf­ka-Rausch. In Prag fährt eine innen wie außen mit Kaf­ka-Moti­ven und ‑Zita­ten bedruck­te Tram durch die Stra­ßen. Illus­tra­tio­nen zur Ver­wand­lung, Kaf­ka-Memes, Kaf­ka-Zita­te tren­den in den Sozia­len Medi­en – und das in etli­chen Spra­chen. #kaf­ka hat über 1 Mil­li­ar­de Klicks auf Tik­Tok, auf Insta­gram gibt es über 900.000 Tref­fer für #franz­kaf­ka. Ten­denz: steigend.


  1. Hans-Gerd Koch (2014): „Wem gehört Franz Kaf­ka?“, in: Höh­ne, Stef­fen; Udolph, Lud­ger (Hg.): Franz Kaf­ka: Wir­kung und Wir­kungs­ver­hin­de­rung, Köln: Böhlau 2014, S. 416f. ↩︎
  2. zitiert nach: Michel­le Woods (2014): Kaf­ka Trans­la­ted: How Trans­la­tors have Shaped our Rea­ding of Kaf­ka, New York: Bloomsbu­ry 2014, S. 46. ↩︎
  3. vgl. ebd. S. 45. ↩︎
  4. vgl. Michel­le Woods (2014): Kaf­ka Trans­la­ted: How Trans­la­tors have Shaped our Rea­ding of Kaf­ka, New York: Bloomsbu­ry 2014, S. 56. ↩︎
  5. vgl. Man­fred Wein­berg (2014): „Die ver­säum­te Suche nach einer ver­lo­re­nen Zeit. Anmer­kun­gen zur ers­ten Liblic-Kon­fe­renz“, in: Höh­ne, Stef­fen; Udolph, Lud­ger (Hg.): Franz Kaf­ka: Wir­kung und Wir­kungs­ver­hin­de­rung, Köln: Böhlau 2014, S. 209−235. ↩︎
  6. vgl. Patrick O’Neil (2014): Trans­forming Kaf­ka: Trans­la­ti­on Effects, Toron­to: TUP, S. 20 und Phil­ip­pe Well­nitz (2014): „Tra­dut­to­re, tra­dit­to­re. Die fran­zö­si­schen Kaf­ka-Über­set­zun­gen von Alex­and­re Vial­et­te bis heu­te“, in: Höh­ne, Stef­fen; Udolph, Lud­ger (Hg.): Franz Kaf­ka: Wir­kung und Wir­kungs­ver­hin­de­rung, Köln: Böhlau 2014, S. 355−365. ↩︎
  7. Jon Fos­se (2024): „Kaf­ka bleibt Kaf­ka“, aus dem Nor­we­gi­schen von Hin­rich Schmidt-Hen­kel, in: Gug­golz, Sebas­ti­an (Hg.): Kaf­ka gele­sen, Ber­lin: S. Fischer, S. 15−19. ↩︎

Lite­ra­tur:
Capu­to-Mayr, Maria Lui­se; Herz, Juli­us M. (Hg.) (2000): Inter­na­tio­nal Biblio­gra­phy of Pri­ma­ry and Secon­da­ry Lite­ra­tu­re, Ber­lin, Bos­ton: K. G. Saur. 3 Bän­de.
Gug­golz, Sebas­ti­an (Hg.) (2014): Kaf­ka gele­sen, Ber­lin: S. Fischer.
Höh­ne, Stef­fen; Udolph, Lud­ger (Hg.) (2014): Franz Kaf­ka: Wir­kung und Wir­kungs­ver­hin­de­rung, Köln: Böhlau.
O’Neil, Patrick (2014): Trans­forming Kaf­ka: Trans­la­ti­on Effects, Toron­to: TUP.
Ozick, Cyn­thia (1999): „The Impos­si­bi­li­ty of Trans­la­ting Franz Kaf­ka“, The New Yor­ker, 3. Janu­ar 1999.
Woods, Michel­le (2014): Kaf­ka Trans­la­ted: How Trans­la­tors have Shaped our Rea­ding of Kaf­ka, New York: Bloomsbury.


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