Man könnte das Gefühl bekommen, er verfolge uns. Seit Beginn des Jahres schaut das ikonische Gesicht Franz Kafkas uns ständig entgegen: auf Flyer und Plakaten, die für Ausstellungen und Lesungen werben, in der Zeitung, im Fernsehen, von Buchcovern in Buchhandlungen, Bibliotheken und Verlagsvorschauen, in Comics, auf Tiktok und Instagram, und manchmal sogar auf T‑Shirts, Taschen, Jutebeuteln, Notizbüchern, Radiergummis und so weiter und so fort.
Täglich geht es zurzeit in verschiedensten Veranstaltungen um Kafka, kaum einer seiner Texte ist aktuell nicht als Theater-Adaption an Deutschen Bühnen zu sehen und ständig erscheinen neue Romane, Erzählungen, Sachbücher, Essays und Forschungsbeiträge über den Autor. Auch die „sieben wichtigsten Werke des Jahrhundertschriftstellers“ erscheinen im S. Fischer Verlag in einer Neuausgabe, die dreibändige Biographie von Reiner Stach erscheint in einer limitierten Sonderausgabe. Wir können Kafka im Kino erleben, im Psychotest herausfinden, welche Kafka-Figur wir sind (Joseph K.? Fräulein Bürstner? Gregor Samsa? oder doch Grete Mitzelbach?) oder im Videospiel in Kafkas-Welt eintauchen. Und während Literaturwissenschaftler*innen und Schriftsteller*innen unermüdlich versuchen, der Faszination um Franz Kafka auf den (unergründlichen?) Grund zu gehen, tauschen sich junge Menschen auf TikTok, Instagram und Co. über ihre Kafka-Lektüren aus, und zwar weltweit.
Die Faszination für das Werk Franz Kafkas scheint nicht nur ungebrochen, sie scheint noch zu wachsen. Die große Mehrheit der Leser*innenschaft liest Kafka aber natürlich nicht im ‚Original‘ (wobei die Frage nach der Originalfassung im Fall von Kafka ohnehin oft gar nicht so leicht zu beantworten ist), sondern in Übersetzungen. Und längst nicht alle, die Die Verwandlung, den Proceß oder Das Schloss auf Baskisch, Farsi, Finnisch, Hindi, Isländisch, Marathi, Türkisch, Ukrainisch oder in einer der anderen etwa 50 Sprachen lesen, in die die Werke Kafkas übersetzt wurden, werden sich beim Lesen bewusst machen, dass Franz Kafka die Wörter einer anderen Sprache verwendet hat, als den Text schrieb.
Übersetzer*innen prägen das Bild des Autors also schon lange mit. Sie spannen Kafkas Werk als ein globales Netz auf. Ihre Versionen seiner Texte unterscheiden sich je nach Entstehungszeitpunkt und ‑kontext, Lesegewohnheit und literarischen Trends ihrer Kultur sowie ihrer jeweiligen Interpretationen der Texte. Inzwischen sind es so viele, dass selbst ein ganzes Leben nicht ausreichen würde, sie alle zu lesen.
Schon der Versuch, eine vollständige Bibliographie aller Ausgaben von Kafka-Texten zu erstellen, ist zum Scheitern verurteilt. Es gäbe sicher viele spannende Geschichten aus der Geschichte der Kafka-Übersetzungen zu erzählen, wenn man genug Zeit hätte, sie aufzuspüren – und über ausreichende Sprachkenntnisse verfügen würde, in die Biographien der unzähligen Übersetzer*innen einzutauchen. Die Auswahl der Daten und Anekdoten, die im Folgenden nicht mehr als einen luftigen Purzelbaum durch 100 Jahre Übersetzungsgeschichte schlagen, kann also nur eine beliebige sein, und stützt sich auf die Vorarbeit Anderer.
1924
Franz Kafka stirbt im Alter von 40 Jahren in einem Sanatorium bei Wien an Tuberkulose. Er hat zu Lebzeiten nur wenige Erzählungen veröffentlicht und hinterlässt drei Romanfragmente sowie eine Reihe kürzerer Erzählungen, Briefe und Tagebücher – aber kein Testament. Kafkas Familie ernennt seinen engen, langjährigen Freund, den Schriftsteller Max Brod, zum Nachlassverwalter. Schon 1925 beginnt er, die unveröffentlichten Texte herauszugeben: zunächst Der Prozeß (1925), es folgen Das Schloss (1926) und Amerika (1927; heute bekannter unter dem Titel Der Verschollene).
In einem berühmt gewordenen Brief vom 29. November 1922 hatte Kafka, bereits schwer krank, an Brod geschrieben: „alles, was sonst an Geschriebenem von mir vorliegt […] ist ausnahmslos und am liebsten ungelesen (doch wehre ich Dir nicht hineinzuschauen, am liebsten wäre es mir allerdings wenn Du es nicht tust, jedenfalls aber darf niemand anderer hineinschauen) – alles dies ist ausnahmslos zu verbrennen und dies möglichst bald zu tun bitte ich Dich.“ Der Herausgeber der kritischen Kafka-Edition, Hans-Gerd Koch, vermutet, dass diese Aufforderung nicht unbedingt ernst gemeint war. Er stellt den Brief in den Kontext anderer Briefe, in denen Brod und Kafka sich Handlungsanweisungen für die Zeit nach ihrem jeweiligen Tod gaben, zum Teil wohl eher scherzhaft, und geht davon aus, dass Kafka Brod vor allem von der „Verantwortung für seine Texte und deren Deutung befreien“ wollte.1 Jedenfalls hält Max Brod sich nicht daran.
1925
Auch die erste Übersetzung einer längeren Erzählung erscheint bereits im Jahr nach Kafkas Tod, und zwar in der Revista de Occidente in Madrid: eine spanische Übersetzung der Verwandlung. Der oder die Übersetzer*in bleibt anonym. Erste Übersetzungen kürzerer Erzählungen waren bereits ab 1920 erschienen, und zwar ins Tschechische, Niederländische, Ungarische, Norwegische und Katalanische. Die allererste Übersetzung einer Erzählung Franz Kafkas stammt von Milena Jesenská. 1919 hatte sie Kafka in einem Brief um Erlaubnis gebeten, seine Erzählung Der Heizer ins Tschechische übersetzen zu dürfen. Ihre Übersetzung wird 1920 unter dem Titel Topič in der Prager Literaturzeitschrift Kmen veröffentlicht. Berühmt ist Milena Jesenská heute allerdings nicht als Übersetzerin und (später auch) erfolgreiche Journalistin, sondern als ‚Milena‘, genauer gesagt ‚Kafkas Milena‘, eine von seinen Geliebten. Als solche kommt sie in Romanen, Filmen und Serien vor. Die Beziehung zwischen den beiden währte nicht lange, und spielte sich größtenteils in Briefen und bei nur wenigen kurzen Treffen ab. Kafkas „Briefe an Milena“ erschienen 1952; die Briefe, die sie ihm schrieb, sind nicht erhalten (Jesenská wurde 1944 im Konzentrationslager Ravensbrück ermordet). Das Bild von Milena Jesenská als Kafkas Geliebte (und erster Übersetzerin!) entstand also um ihr Schweigen herum.
1928
Mit Eugene Jolas Übersetzung von Das Urteil unter dem Titel The Sentence erscheint die erste englische Übersetzung eines Kafka-Textes. In Frankreich erscheint in der prestigeträchtigen Nouvelle Revue Françaises die erste französische Kafka-Übersetzung: Alexandre Vialettes La métamorphose (Die Verwandlung). In beiden Sprachen nahm die Kafka-Rezeption schnell Fahrt auf, in Frankreich besonders bedingt durch den Surrealismus, dessen Vertreter in Kafka wegen der traumähnlichen, absurden Bilderwelten seiner Erzählungen einen Wegbereiter zu erkennen glaubten.
1930
Willa und Edwin Muir, ein Ehepaar aus Schottland, legt mit The Castle (Das Schloß) die erste Übersetzung eines Kafka-Romans vor. Willa Muir hatte als eine der ersten Frauen in Schottland Klassische Philologie studiert, 1919 den Dichter Edwin Muir geheiratet und war anschließend mit ihm nach Europa aufgebrochen. Bei längeren Aufenthalten in Deutschland und Tschechien lernte sie beide Sprachen und begann zu übersetzen. Das Übersetzen wurde für die Muirs schnell zu einer wichtigen Einkommensquelle. Eine ganze Reihe von Kafka-Texten erschien im Laufe der 1930er-Jahre „übersetzt von Edwin und Willa Muir“.
1936
Auch in Polen wird Kafkas Werk in literarischen Kreisen zunächst euphorisch aufgenommen. 1936 erscheint die polnische Übersetzung des Proceß. Der Übersetzer? Der bekannte Schriftsteller Bruno Schulz, angeblich. Später stellte sich heraus, dass eigentlich seine Verlobte Józefina Szelińska den Text übersetzt und er ihr dabei wohl nur beratend zur Seite gestanden hatte. Nach dem zweiten Weltkrieg erschwerte die Kunstdoktrin des Sozialismus, ähnlich wie in anderen kommunistisch regierten Ländern Mittel- und Osteuropas, die Veröffentlichung von Kafka-Texten und Szelińskas Übersetzung blieb lange die maßgebliche Fassung.
1937
Fast zeitgleich erscheinen die ersten beiden englischen Übersetzungen von der Verwandlung: die von A.L. Lloyd in London bei Faber & Faber und die von Eugene Jolas in dem US-amerikanischen Magazin Transition, beide unter dem Titel The Metamorphosis.
Die Verwandlung wurde schnell zum meistübersetzten Kafka-Text und ist es noch heute. Der Literaturwissenschaftler Patrick O’Neil zählt für sein 2014 erschienenes Buch Transforming Kafka. Translation Effects insgesamt 175 Übersetzungen in 42 verschiedene Sprachen, davon allein 16 englischsprachige. Inzwischen dürften noch weitere dazu gekommen sein.
Besonderes Kopfzerbrechen bereitete den Übersetzer*innen von Die Verwandlung immer wieder der erste Satz der Erzählung:
„Als Gregor Samsa eines Morgens aus unruhigen Träumen erwachte, fand er sich in seinem Bett zu einem ungeheuren Ungeziefer verwandelt.“
Neben „unruhige Träume“ und „verwandelt“ ist es vor allem das „ungeheure[] Ungeziefer“, das sich der Übersetzung zu versperren scheint. Kafka hatte die Geschichte sorgfältig so gestaltet, dass nicht klar wird, um was für ein Tier es sich genau handelt. Auch gegen eine Illustration des Textes mit einer Käfer-Zeichnung wehrte er sich vor dessen Erscheinen vehement. Neben der zoologischen Vagheit ist auch die abwertende Bedeutung von „Ungeziefer“ wichtig. In anderen Sprachen gibt es aber weder für „Ungeziefer“ noch für „ungeheuer“ ein entsprechendes Wort. Und auch klanglich-rhythmisch ist es gar nicht so leicht, die Auffälligkeit dieses Ausdrucks nachzubilden, ohne dass das Ergebnis furchtbar plump klingt.
Allein im Englischen existiert eine ganze Reihe verschiedener Übersetzungen – die Gregor Samsa als verwandelte Kreatur zum Teil recht unterschiedlich aussehen lassen:
„enormous bug“
„some monstrous kind of vermin“
„a gigantic insect“
„a monstrous vermin“
„a monstrous insect“
„some kind of monstrous vermin“
„a monstrous cockroach“
„a huge verminous insect“
„an enormous bedbug“
„some sort of monstrous insect“
(Eugene Jolas, 1936)
(A. L. Lloyd, 1937)
(Edwin und Willa Muir, 1948)
(Stanley Corngold, 1972)
(Malcolm Pasley, 1992)
(Joyce Crick, 2006)
(Michael Hofmann, 2006)
(John R. Williams, 2014)
(Christopher Moncrieff, 2014)
(Susan Bernofsky, 2014)
Im Französischen finden sich u.a. „une formidable vermine“ (Alexandre Vialette, 1928), „un monstrueux insecte“ (Bernard Lortholary, 1988) und „un énorme cancrelat“ (Claude David, 1989), im Spanischen neben „un monstruoso insecto“ (Jorge Luis Borges, 1938) auch Übersetzungen mit „cucaracha“ (also Küchenschabe). Im Italienischen heißt es meist „insetto“, das aber mal als „immondo“, mal als „monstruoso“ und mal als „gigantesco“ beschrieben wird (Rodolfo Paoli, 1934; Anita Rho, 1935; Luigi Coppé, 1974).
1940
Die erste Kafka-Übersetzung in eine nicht-europäische Sprache ist Kôichi Motonos japanische Übersetzung von Der Proceß unter dem Titel Shinpan. Weitere japanische Übersetzungen folgen ab 1950, koreanische Übersetzungen ab 1955 und chinesische Übersetzungen ab 1960.
1947
In Bogotá (Kolumbien) fällt einem literaturbegeisterten Jurastudenten ein kleines Buch in die Hände, das seinem Leben einen neuen Weg weist und dessen Satz er noch 40 Jahre später auswendig aufsagen können wird: eine spanische Übersetzung von Die Verwandlung. Der spätere Literaturnobelpreisträger Gabriel García Márquez erzählt in seinem 1982 erschienen Gesprächsband Geruch der Guayave von seiner ersten Begegnung mit Kafka. Er ist einer von unzähligen jungen Schriftsteller*innen weltweit, für die die Begegnung mit dem Werk Franz Kafkas prägend war. Viele haben über ‚ihren Kafka‘ geschrieben oder gesprochen, viele tun es aktuell anlässlich des Jubiläums wieder, hierzulande z.B. in einer Reihe der Süddeutschen Zeitung, im Literaturmagazin Lesart beim Deutschlandfunk Kultur oder in dem von Sebastian Guggolz herausgegebenen Band Kafka gelesen.
1953
Willa Muir, die seit über zwei Jahrzehnten als Übersetzerin tätig ist, schreibt in ihr Tagebuch:
„even the translations I had done were no longer my own territory, for everyone assumes that Edwin did them. He is referred to as ‘THE’ translator. By this time he may even believe that he was. He has let my reputation sink, by default; […] And the fact remains: I am a better translator than he is. The whole current of patriarchal society is set against this fact, however, and sweeps it into oblivion, simply because I did not insist on shouting aloud: „Most of this translation, especially Kafka, has been done by ME. Edwin only helped.“2
Willa Muir hatte bereits 1925 in der Hogarth Press von Virginia und Leonard Woolf einen feministischen Aufsatz mit dem Titel Woman: An Inquiry veröffentlicht, in den 1930ern folgten zwei Romane. Zwei weitere Romane blieben unveröffentlicht, darunter Mrs. Muttoe and the Top Storey. Die Handlung ist stark autobiographisch: Die Geschichte spielt im London der 1930er Jahre, Hauptfigur ist die Übersetzerin Alison Muttoe. Sie verdient Geld mit Übersetzungen deutschsprachiger Autoren (darunter auch einer, der an Kafka denken lässt), während ihr Mann im Stockwerk über ihr (‚in the top storey‘) sitzt und als Dichter nach Selbstverwirklichung strebt.3
Die Muir-Übersetzungen wurden später vielfach kritisiert, sie seien ungenau und bildeten die stilistischen Besonderheiten von Kafkas Prosa nicht ausreichend ab. Willa Muir selbst schreibt in ihrem Memoire Belonging, nicht in Bezug auf Kafka, sondern ihre besonders erfolgreiche Übersetzung von Lion Feuchtwangers Jud Süß: „what we produced was a polished rendering“; viele der Texte, die sie übersetzt habe, hätten bei britischen Verlagen nur in geglätteter, „domestizierter“ Form Anklang gefunden. Und da das Ehepaar Muir nun einmal von ihrem Einkommen als Übersetzerin abhängig war, passte sie sich an.4
1963
Anlässlich Kafkas 80. Geburtstag veranstaltet der tschechoslowakische Schriftstellerverband zusammen mit der Akademie der Wissenschaften eine Kafka-Tagung, die sogenannte Liblice-Konferenz, im tschechischen Liblice. Kafka galt in den kommunistischen Ländern als individualistisch, als typisches Beispiel dekadenter Ästhetik. Vor 1963 waren in der DDR keine Ausgaben von Kafka-Texten erschienen, auch russische Übersetzungen gab es offiziell nicht. Die Konferenz wollte nun die Rolle des Autors aus marxistisch-leninistischer Sicht neu bewerten (d. h. aufwerten). Schließlich war Kafka ein Prager Autor.
Geladen waren achtzehn tschechoslowakische und neun ausländische Teilnehmer aus der DDR, aus Österreich, Frankreich, Ungarn, Polen und Jugoslawien. Sowjetische Wissenschaftler waren nicht vertreten. Kernpunkt der Debatten war der Begriff der Entfremdung, im marxistischen Sinn, und die Frage, ob Kafkas Romane diesen ästhetisch umsetzten. Diese Frage enthielt eine solche politische Sprengkraft, dass von der Konferenz nicht nur literarische, sondern auch politische Impulse ausgingen, die fünf Jahre später in den Prager Frühling führten.5
1964
Erste Übersetzungen ins Russische erscheinen in der Sowjetunion. Auch tschechische und slowakische Übersetzungen sowie die erste DDR-Ausgabe folgen auf die Konferenz in Liblice. Nach dem Prager Frühling im August 1968 waren Publikationen von Kafka-Texten nicht mehr möglich. Eine neue Phase der Kafka-Rezeption begann erst wieder nach 1989.
1973
„kafkaesk“ wird in den Duden aufgenommen: kafkaesk, Adjektiv, in der Art der Schilderungen Kafkas; auf unergründliche Weise bedrohlich.
Auch in einigen anderen Sprachen gibt es ein Adjektiv mit dieser Bedeutung: kafkovský im Tschechischen, kafkiano im Spanischen, kafkaesque im Englischen, kafkaïen im Französischen, kafkowski im Polnischen, kafkaartad im Schwedischen und カフカ的 oder カフカの im Japanischen.
DWDS-Wortverlaufskurve für „kafkaesk“, erstellt durch das Digitale Wörterbuch der deutschen Sprache, abgerufen am 30.5.2024.
1974
Der Sohn und Erbe des ersten französischen Kafka-Übersetzers Alexandre Vialette gewinnt in Paris einen für die dortige Kafka-Rezeption folgenreichen Gerichtsprozess gegen den Verlag Gallimard. Gegenstand war die Veröffentlichung von Claude Davids Überarbeitungen von Vialettes Übersetzungen von Das Urteil, Die Verwandlung und weiteren Texten, die er für eine kommentierte Gesamtausgabe für die Reihe Bibliothèque de la Pléiade angefertigt hatte. David verantwortete den Band als Herausgeber und hielt es für notwendig, Vialettes Übersetzungen, die aufgenommen werden sollten, anzupassen. Der Sohn des Übersetzers klagte – und bekam recht. Die Pléiade-Ausgabe erschien mit Vialettes Übersetzungen. Davids Korrekturen wurden in einen umfassenden Anmerkungsapparat verbannt. Das trug mit dazu bei, dass Kafka-Texte in Frankreich noch lange in Vialettes Übersetzungen gelesen wurden, obwohl sie tatsächlich recht wenig von dem, was man landläufig „Texttreue“ nennt, aufweisen.6
1982
1982 erscheint im S. Fischer Verlag der erste Band der von Hans-Gerd Koch herausgegeben kritischen Ausgabe von Kafkas Werken. Max Brod hatte als Herausgeber teilweise stark in die Texte eingegriffen, geglättet und stellenweise regelrecht zensiert. Mit der Neuausgabe der Werke werden diese noch einmal neu zugänglich, können noch einmal neu entdeckt werden – und werden deshalb vielfach auch neu übersetzt.
1994
Am 31.12.1994, am letzten Tag des 70. Jahres nach Kafkas Tod, werden seine Texte gemeinfrei. Verlage, die einen Kafka-Text – auf Deutsch oder in Übersetzung – veröffentlichen wollen, müssen jetzt also keine Lizenz mehr kaufen. Die Folge wie so oft: Neuausgaben und Neuübersetzungen.
2000
Die aktualisierte Fassung der ursprünglich ab 1982 erschienenen Internationalen Kafka-Bibliographie, herausgegeben von Maria Luise Caputo-Mayr und Julius Michael Herz, listet auf insgesamt 1.400 Seiten auch Kafka-Übersetzungen in über 40 Sprachen auf. Für den Proceß führt sie 78 deutschsprachige, 61 englische, 43 spanische, 35 italienische und 28 französische unter zahlreichen weiteren Ausgaben an.
2014
Das tschechische Statistikamt gibt neue Zahlen zum Tourismus bekannt: 2014 erwirtschaftet die Tourismusbranche in Tschechien 8,8 Milliarden Euro, 1,5 % mehr als im Vorjahr. Ausländische Touristen geben pro Tag im Schnitt 180 Euro aus. 225.000 Menschen sind im touristischen Bereich beschäftigt. Viele der ausländischen Besucher zieht es in die Stadt, in der Kafka gelebt hat, sie pilgern an sein Grab auf dem Neuen Jüdischen Friedhof, besichtigen das Kafka Museum (wo übrigens auch verschiedene Übersetzungen seiner Werke ausgestellt sind). So ganz können die Prager diesen Wirbel um den Autor meist nicht nachvollziehen, obwohl Kafka inzwischen auch in tschechischen Buchhandlungen und Bibliotheken teilweise wieder im Regal mit den ‚tschechischen Autoren‘ zu finden ist.
2016
Jon Foss, inzwischen Literaturnobelpreisträger, übersetzt Kafkas Verwandlung ins Nynorsk. Bis dahin lagen nur Übersetzungen von Kafka-Texten in Bokmål, der anderen Standardvarietät des Norwegischen vor. Nach anfänglichen Schwierigkeiten, einen Verlag von dem Projekt zu überzeugen, ist der Erfolg so groß, dass er 2022 auch noch den Proceß übersetzt.7
Falls Jon Fosse der einzige Literaturnobelpreisträger sein sollte, der Kafka übersetzt hat, so ist er bei seinen Preisträgerkollegen doch in guter Gesellschaft mit diesem Projekt. Viele von ihnen haben die entscheidende Rolle Kafkas für ihr Arbeiten hervorgehoben, wurden mit Kafka verglichen, haben ihn zum Held oder Gegenstand ihrer Texte gemacht oder Werke Kafkas herausgegeben. Von Kafkas Wirkmacht können aber auch die meisten Nobelpreisträger nur träumen.
2024
Die Welt im Kafka-Rausch. In Prag fährt eine innen wie außen mit Kafka-Motiven und ‑Zitaten bedruckte Tram durch die Straßen. Illustrationen zur Verwandlung, Kafka-Memes, Kafka-Zitate trenden in den Sozialen Medien – und das in etlichen Sprachen. #kafka hat über 1 Milliarde Klicks auf TikTok, auf Instagram gibt es über 900.000 Treffer für #franzkafka. Tendenz: steigend.
- Hans-Gerd Koch (2014): „Wem gehört Franz Kafka?“, in: Höhne, Steffen; Udolph, Ludger (Hg.): Franz Kafka: Wirkung und Wirkungsverhinderung, Köln: Böhlau 2014, S. 416f. ↩︎
- zitiert nach: Michelle Woods (2014): Kafka Translated: How Translators have Shaped our Reading of Kafka, New York: Bloomsbury 2014, S. 46. ↩︎
- vgl. ebd. S. 45. ↩︎
- vgl. Michelle Woods (2014): Kafka Translated: How Translators have Shaped our Reading of Kafka, New York: Bloomsbury 2014, S. 56. ↩︎
- vgl. Manfred Weinberg (2014): „Die versäumte Suche nach einer verlorenen Zeit. Anmerkungen zur ersten Liblic-Konferenz“, in: Höhne, Steffen; Udolph, Ludger (Hg.): Franz Kafka: Wirkung und Wirkungsverhinderung, Köln: Böhlau 2014, S. 209−235. ↩︎
- vgl. Patrick O’Neil (2014): Transforming Kafka: Translation Effects, Toronto: TUP, S. 20 und Philippe Wellnitz (2014): „Traduttore, tradittore. Die französischen Kafka-Übersetzungen von Alexandre Vialette bis heute“, in: Höhne, Steffen; Udolph, Ludger (Hg.): Franz Kafka: Wirkung und Wirkungsverhinderung, Köln: Böhlau 2014, S. 355−365. ↩︎
- Jon Fosse (2024): „Kafka bleibt Kafka“, aus dem Norwegischen von Hinrich Schmidt-Henkel, in: Guggolz, Sebastian (Hg.): Kafka gelesen, Berlin: S. Fischer, S. 15−19. ↩︎
Literatur:
Caputo-Mayr, Maria Luise; Herz, Julius M. (Hg.) (2000): International Bibliography of Primary and Secondary Literature, Berlin, Boston: K. G. Saur. 3 Bände.
Guggolz, Sebastian (Hg.) (2014): Kafka gelesen, Berlin: S. Fischer.
Höhne, Steffen; Udolph, Ludger (Hg.) (2014): Franz Kafka: Wirkung und Wirkungsverhinderung, Köln: Böhlau.
O’Neil, Patrick (2014): Transforming Kafka: Translation Effects, Toronto: TUP.
Ozick, Cynthia (1999): „The Impossibility of Translating Franz Kafka“, The New Yorker, 3. Januar 1999.
Woods, Michelle (2014): Kafka Translated: How Translators have Shaped our Reading of Kafka, New York: Bloomsbury.