
Am 18. Oktober 2024 wird der Deutsche Jugendliteraturpreis vergeben. Der mit 10.000 Euro dotierte Sonderpreis „Neue Talente“ geht in diesem Jahr an eine herausragende Nachwuchsübersetzerin. Nominiert sind Marie Alpermann (Serbisch), Astrid Bührle-Gallet (Französisch) und Leonie Nückell (Arabisch).
Herzlichen Glückwunsch zur Nominierung als „Neues Talent“! Du hast Möge der Tigris um dich weinen, den Debütroman der französischen Autorin Emilienne Malfatto, für den Orlanda Verlag aus dem Französischen übersetzt. Der Titel klingt nach einem schweren Thema. Worum geht es in dem Buch?
Das Buch spielt im Irak und handelt von einer jungen Frau, die unverheiratet schwanger wird. Es herrscht Krieg und ihr Freund stirbt, bevor er sie heiraten kann. In ihrer Welt gibt es darauf nur eine Antwort: Ihr ältester Bruder wird sie umbringen. Das Buch erzählt in kondensierter Form von der kurzen Zeitspanne zwischen dem Moment, in dem die Protagonistin von ihrer Schwangerschaft erfährt, bis zu ihrer Ermordung. Dabei wechselt die Erzählperspektive zwischen den verschiedenen beteiligten Personen und man erfährt, wie sie denken. Das Ganze läuft unmittelbar auf die Katastrophe zu, die selbst nicht beschrieben wird, aber völlig unausweichlich scheint.
Das Original wurde 2021 mit dem Prix Goncourt du premier roman ausgezeichnet, dem renommiertesten französischen Literaturpreis für Debütromane. Was macht den Text so besonders?
Ein Buchhändler hat mir den Roman 2021 empfohlen, noch vor der Preisvergabe. Ich habe ihn dann bestellt, aber es war damals gar nicht so leicht, an ein Exemplar zu kommen. Als es dann da war und ich angefangen habe zu lesen, hat der Text mich direkt umgehauen. Kein Wort ist zu viel, er ist wie ein geschliffener Diamant, alles stimmt. Es ist ein kurzes Buch und man hat den Eindruck, die Autorin hat alles weggelassen, was nicht unbedingt notwendig war. Was sie sagen will, bringt sie genau auf den Punkt. Ich war total hingerissen. Durch die unterschiedlichen Perspektiven wird man auch direkt in die Geschichte reingezogen.
Wie ging es dir beim Übersetzen damit, so nah an der Thematik dran zu sein?
Ich werfe mich beim Übersetzen eigentlich immer ganz in den Text rein. Und dieses Buch hat mich ja auch beim Lesen schon sehr beeindruckt. Das war auch ein bisschen einschüchternd, weil der Druck dadurch höher ist, dem Original gerecht zu werden. Ich habe versucht, mich in die einzelnen Perspektiven hineinzuversetzen. Obwohl manche Personen nur sehr kurz vorkommen, wird jede Perspektive ein Stück weit nachvollziehbar. Auch der große Bruder, der am Ende den Mord begehen wird, kommt zu Wort.
Du hast das Buch also 2021 zum ersten Mal gelesen. Die Übersetzung ist 2023 erschienen. Wie war der Weg bis dahin?
Die Nachricht über die Auszeichnung mit dem Prix Goncourt du premier roman kam ganz kurz, nachdem ich den Roman gelesen hatte. Da habe ich mir dann gedacht: Jetzt muss ich schnell sein. Und der Preis kann ja auch helfen, deutschsprachige Verlage von dem Projekt zu überzeugen. Ich habe dann direkt bei Elyzad, dem Originalverlag, der seinen Sitz in Tunis hat, nachgefragt, ob die Übersetzungsrechte schon verkauft seien. Der Verlag hat mich an den zuständigen Agenten verwiesen, der auch gleich antwortete: Die Rechte waren noch frei. Also habe ich blitzschnell eine Probeübersetzung angefertigt.
Dann habe ich die Übersetzungsprobe an einige Verlage geschickt, von denen ich dachte, dass sie sich für den Roman interessieren könnten. Viele haben sich auch zurückgemeldet und waren ganz angetan von dem Text, fanden ihn aber zu kurz für eine eigenständige Veröffentlichung. Nach ein paar Monaten kam dann die Zusage vom Orlanda Verlag, aber auch dann hat es noch eine Weile gedauert, bis die Verträge geschlossen werden konnten. Emilienne Malfatto, die auch als Journalistin arbeitet, war nämlich gerade auf Recherchereise und nur sehr schwer zu erreichen.
Der Roman war in Frankreich 2021 durch seine Nominierung und dann die Auszeichnung mit dem Prix Goncourt du premier roman in aller Munde. Ich habe ihn selbst auch im Sommer 2021 gelesen und war ganz überwältigt von der Lektüre. Die Nominierung für den Deutschen Jugendliteraturpreis hat mich dann zuerst überrascht, weil der Roman nicht explizit als Jugendbuch gelabelt ist. Was macht den Text interessant für ein jüngeres Lesepublikum?
In Frankreich ist der Roman inzwischen tatsächlich Schullektüre. Er wird viel gelesen und auch pädagogisches Begleitmaterial dazu ist erhältlich. Die Protagonistin ist ja noch sehr jung. Ihr genaues Alter erfahren wir nicht, aber wir können davon ausgehen, dass sie nicht älter ist als die Schüler*innen der höheren Klassen. Aber die schreckliche Situation, in der sie sich befindet, entspringt einer Lebensrealität, die den meisten Schüler*innen in Frankreich oder auch in Deutschland ziemlich fremd ist. Der Roman erzählt davon einerseits auf sehr klare Weise, ist einfach zu lesen, weil alles auf einen Punkt zuläuft. Andererseits ist er aber auch sehr komplex und subtil, weil jede Perspektive ein Stück weit nachvollziehbar gemacht wird. Niemand wird einfach direkt als böse abgetan. Der Roman macht deutlich, dass die Situation für viele der Beteiligten mit Unfreiheit einhergeht, auch für die Männer. Dadurch kann er auch bei deutschsprachigen Jugendlichen vielleicht ein tieferes Bewusstsein für die dargestellten Zusammenhänge wecken.
Was war bei der Arbeit an der Übersetzung besonders herausfordernd für dich?
Zum einen der Respekt vor dem Text als Kunstwerk. Ich bin noch nicht so lange als Literaturübersetzerin tätig, da war dieser Text natürlich eine Herausforderung. Wenn jedes Wort sitzt, dann kommt es eben auch in der Übersetzung auf jedes Wort an.
Gleichzeitig macht der Stil es notwendig, gewisse Dinge ein wenig zu verändern. Die Autorin ist zum Beispiel recht sparsam mit Verben, manche Sätze sind fast wie Aufzählungen gebaut. Wenn man das auf Deutsch genau so wiedergibt, klingt das nicht sehr schön. Da musste ich ab und zu ein Verb ergänzen und genau abwägen, ob ich das stilistisch wieder ausgleichen muss. Auch der Umgang mit Vergangenheitsformen war nicht immer ganz einfach. Im Französischen gibt es für die gleiche Zeitebene das passé composé und das passé simple. Emilienne Malfatto verwendet das passé composé, das etwas mündlicher daherkommt, wodurch die Wirkung der Erzählung etwas Unmittelbares, Direktes hat. Ich habe mich dann bei der Übersetzung mit dem Präteritum zunächst schwergetan, weil es eine etwas andere Wirkung hat, aber das Perfekt hat auch nicht gepasst. Die Schwierigkeit bestand also darin, im Deutschen beim Präteritum zu bleiben, aber trotzdem den Ton des Originals zu treffen.
Emilienne Malfatto verwebt auch Auszüge aus dem Gilgamesch-Epos in den Roman, einem sehr alten Text, den sie aus einer französischen Übersetzung zitiert. Wie bist du damit umgegangen?
Das war eine weitere Herausforderung. Das Gilgamesch-Epos stammt aus dem Gebiet des heutigen Irak, gehört zu den ältesten schriftlich überlieferten Texten und ist nur in Fragmenten erhalten. Es gibt zahlreiche deutsche Ausgaben, für die die Herausgeber*innen und Übersetzer*innen aber teils unterschiedliche Fragmente ausgewählt haben, auch die Reihenfolge ihrer Anordnung ist nicht immer gleich. Ich habe mir ziemlich viele dieser Ausgaben angeschaut. Es war gar nicht so leicht, eine zu finden, die alle Passagen enthielt, die ich für die Übersetzung brauchte. Und dann musste ich ja auch noch entscheiden, welche Übersetzung vom Ton her am besten passt. Emilienne Malfatto zitiert aus einer modernen französischen Nachdichtung des Epos, die den Text nicht so wortgetreu wiedergibt wie die deutschen Übersetzungen. Meine Wahl fiel schließlich auf die schon etwas ältere Übersetzung von Wolfgang Röllig. Auch hier waren aber ein paar kleine Anpassungen nötig. Dieser ganze Prozess hat insgesamt ziemlich viel Zeit gekostet, aber die Beschäftigung mit diesem uralten Text war auch sehr interessant.
Wie bist du zum Übersetzen von Literatur gekommen?
Auf Umwegen. Und irgendwie doch auch sehr direkt. Meine Oma hätte vielleicht gesagt: von hinten durch die Brust ins Auge. Ich denke, ein gutes Gefühl für Sprachen hatte ich schon immer. Als ich zwei Jahre alt war, sind meine Eltern mit mir für ein paar Jahre nach Rom gezogen. Sprechen gelernt habe ich also zunächst Deutsch und Italienisch. Auch ein Bücherwurm war ich schon als Kind. Praktischerweise gab es sehr viele Bücher bei uns zu Hause, sodass ich immer genug Auswahl hatte. Französisch habe ich dann erst nach Englisch und Latein als dritte Fremdsprache gelernt, obwohl meine Mutter Französischlehrerin war. Sie hatte natürlich eine Menge französischer Bücher im Regal stehen, da konnte ich mich bedienen. Die französische Literatur hat mich dann schnell gepackt. Angefangen habe ich mit Camus, den gab es im Bücherregal meiner Mutter auf Deutsch und auf Französisch, das war perfekt für den Einstieg.
Meine zweite Leidenschaft war die Malerei. Ich habe Kunst und Französisch auf Lehramt studiert, zwischendurch auch eine Weile lang Philosophie. Nach dem Studium habe ich eine Promotion in Französisch angefangen, neben der Kunst fehlte aber irgendwann die Zeit. Dann bekam ich in Lyon eine Stelle als Deutsch-Lektorin und fing an, dort Sprachunterricht zu geben. Das hat mir gut gefallen, also bin ich geblieben. An einer der Hochschulen, an denen ich unterrichtete, hatte ich später einen erfolgreichen Literaturübersetzer als Kollegen. Den Gedanken, Literatur zu übersetzen, trug ich schon seit meinem Studium mit mir herum und wir haben oft über das Übersetzen gesprochen. Lange hat mich das materielle Risiko, das mit der Arbeit als Literaturübersetzerin einhergeht, davon abgehalten, es ernsthaft anzugehen. Aber irgendwann hat sich meine finanzielle Situation verbessert, ich konnte meinen Job als Lehrerin aufgeben und hatte mehr Zeit. 2019 war der erste Auftrag dann da.
Und was liegt im Moment bei dir auf dem Schreibtisch?
Gerade gestern habe ich das zweite Buch von Emilienne Malfatto fertig übersetzt. Auf Deutsch heißt es Die Schlangen werden dich holen. Es ist kein Roman, sondern eine Reportage. Das Buch wird im Herbst erscheinen, ebenfalls im Orlanda Verlag. Die letzten Wochen waren also sehr arbeitsintensiv. Jetzt kann ich erst einmal ein klein wenig durchatmen.
Astrid Bührle-Gallet, geboren 1978 in Stuttgart, studierte Französisch und Kunsterziehung. 2006 kam sie als Deutschlektorin nach Lyon, und unterrichtete dort an mehreren Hochschulen. Heute ist sie Literaturübersetzerin und Malerin.