Als Literaturübersetzer bin ich in der glücklichen Position, gelegentlich eigene Projekte entwickeln zu können. Ich gehe gern Spuren, die mich inspirieren, nach, und manchmal wird etwas Größeres daraus. So auch bei Susan Glaspell. Im Frühjahr 2022 recherchiere ich zum Werk der Autorin in der New York Public Library. Die Modernistin war zu Lebzeiten extrem bekannt und beliebt und ist in den USA Schulstoff, in Deutschland mangels Übersetzungen aber unbekannt. Auch mir war sie kein Begriff – bis die International Susan Glaspell Society mich bat, eine Übersetzung einer ihrer Geschichten zu prüfen. Mit einem Gottsched-Stipendium des Deutschen Übersetzerfonds konnte ich meiner Unkenntnis abhelfen. Jetzt möchte ich auch deutsche Leser:innen mit der großen Autorin bekannt machen.
Susan Glaspell (1876−1948) arbeitete nach ihrem Studium in Iowa ab 1899 als Reporterin und Journalistin und veröffentlichte bald nach der Jahrhundertwende ihre ersten kurzen Prosastücke in Magazinen. Zehn Jahre später erschien ihr erster Roman The Glory of the Conquered, 1911 mit The Visioning schon der nächste und kurz darauf, 1912, mit Lifted Masks eine Sammlung von Kurzgeschichten. Mit den Veröffentlichungen in Magazinen konnte sie sich ein Auskommen sichern und perfektionierte dabei die kurze Form immer mehr.
Sie war schon recht bekannt, als sich ihr 1915 künstlerisch ein ganz neuer Horizont öffnete: Mit ihrem Mann George Cram Cook gründete sie die Provincetown Players und schrieb zahlreiche Theaterstücke, in deren Inszenierungen sie nicht selten auch selbst auftrat. Die Truppe hatte ab 1916 ein Theater in Greenwich Village in New York City. Nach dem Tod ihres Mannes 1924 konnte sie mit ihrer Theatergruppe nicht mehr zusammenfinden, sodass sie danach nur noch zwei Theaterstücke schrieb, von denen ihr eines, Alison’s House, den Pulitzer-Preis einbrachte. Jedoch schrieb sie weiter Romane und Kurzgeschichten. Insgesamt wurden es mehr als siebzig. Immer genauer komponierte sie ihre zentralen Themen: Geschlechterrollen, speziell natürlich die von Frauen in der Gesellschaft; aber auch die Arbeiterbewegung und der Sozialismus, die damals in den USA ungemein stark waren.
Zunächst muss ich mir einen Überblick über das Werk verschaffen. Dabei konzentriere ich mich am Anfang auf die Theaterstücke, da ich selbst vom Theater komme. Übersetzen möchte ich aber erst einmal ihre Prosa, denn als Übersetzer möchte ich mir diese Gattung erobern. Welche Geschichten wähle ich aus? Was steht überhaupt zur Auswahl? Existiert ein Gesamtverzeichnis? Wo muss ich danach suchen? Über die Fachleute, die in der International Susan Glaspell Society zusammengeschlossen sind, finde ich einige Antworten, aber da ihr Werk bei weitem noch nicht restlos erforscht ist, bleibt einiges zu recherchieren.
Im April 2022 komme ich also über zwei Wochen hinweg immer wieder in die Berg Collection in der New York Public Library, wo viele der Materialien aus dem Nachlass von Glaspell und ihrem Mann verwahrt werden. Ich finde Briefe, ein Redemanuskript und Entwürfe, vielleicht zu einer nicht geschriebenen Geschichte. Vorsichtig in den Materialien zu stöbern, die mir jeweils auf Anfrage gebracht werden, und Aufzeichnungen in ihrer Handschrift zu lesen, bringt mir die Autorin persönlich näher. Im Katalog der NYPL finde ich auch ihre Geschichte The Anarchist — His Dog und hoffe, einmal auf ein Manuskript oder Originalmaterial zu stoßen. Dieses Buch ist jedoch in einem anderen Gebäudeteil verwahrt. Ich muss dazu über den Gang, durch die beiden großen öffentlichen Lesesäle hindurch, und gelange in The Brooke Russell Astor Reading Room for Rare Books and Manuscripts, wo die George Arents Collection verwahrt wird. Auch diese Sammlung vermittelt mir dadurch, dass man nur nach vorheriger Anmeldung eingelassen wird, den Eindruck des Besonderen.
Der junge Bibliothekar ist ein gut gelaunter, enthusiastischer Mann, der mir die Geschichte, die ich bereits reserviert habe, aus dem hinteren Bereich holt. Ich werde aufgefordert, mich doch derweil schon an einem der langen Lesetische niederzulassen. Kurze Zeit später tritt der Mann heran und legt das Gesuchte vorsichtig auf den Tisch. Vor mir liegt ein winziges Büchlein, ungefähr so groß wie eine Streichholzschachtel. Der Pappdeckel ist mit dem Gesicht eines Jungen illustriert. Ich kenne die Geschichte bereits, daher weiß ich, dass es den Protagonisten Stubby darstellt. Und seinen Hund. Das geht ja lustig los.
Die Geschichte: Der Zeitungsjunge Stubby muss als Kind sehr armer Eltern schon als Zehnjähriger Geld verdienen. Er und die anderen Jungen müssen sehr früh aufstehen, um die Zeitungen abzuholen und mit dem Fahrrad ihre Route abzufahren, sodass die Abonnenten ihr Blatt schon zum Frühstück lesen können. Alle Jungen werden nicht nur auf ihren Routen immer wieder von Hunden verfolgt, sondern die meisten haben ihre eigenen Hunde zur Gesellschaft. Nur Stubby nicht. Doch irgendwann läuft ihm einer zu.
Er behält ihn, sie werden innige Freunde. Und ein Freund ist genau das, was Stubby braucht. Deswegen wirkt es besonders herzlos, als der zeitungslesende Vater den Jungen warnt, dass für Hunde eine Steuer von fast zwei Dollar im Jahr fällig wird. Wer sie nicht zahlt, dem werde der Hund wieder abgenommen. Auf diese brutalen Realitäten reagiert Stubby zunächst mit ratloser Schockstarre. Nach schwierigen Tagen des inneren Ringens beschließt er, das Geld für die Hundesteuer selbst zu verdienen, und zwar heimlich, denn eigentlich muss er jeden verdienten Cent an die Eltern abgeben. Trotz größter Anstrengungen bekommt er die notwendige Summe nicht zusammen.
Schließlich erfährt Stubby aus der Zeitung seines Vaters etwas über Anarchisten. Das sind Leute, erklärt der Vater, die gegen das Gesetz sind und Polizisten erschießen. Sogleich erkennt Stubby sich selbst in dieser Beschreibung. Er wird den Polizisten, der seinen Hund holen wird, töten müssen. Jedoch schreibt er als guter Junge einen warnenden Brief an den zuständigen Beamten, dass er ihn umbringen müsse, würde er den Hund tatsächlich holen kommen. Und es wäre keine Glaspell-Geschichte, hätte sie am Ende nicht eine unerwartete Wendung.
Susan Glaspell hat die Geschichte 1914 verfasst. Sie ließe sich, wie viele ihrer Erzählungen, als Modellstück für die Komposition von Kurzgeschichten verwenden, und ich vermute, das ist auch bereits vorgekommen. In Dem Anarchisten sein Hund, so später der Titel meiner deutschen Übersetzung, fährt Glaspell ihr reiches Arsenal an Empathie und Humor voll aus. Aber wie kommt Glaspell ausgerechnet auf Anarchisten? Sie schrieb ihre Geschichten häufig inspiriert von realen Ereignissen. Der Junge sieht sich angesichts der strengen elterlichen und dann staatlichen Herrschaft zu radikalen Maßnahmen gezwungen. (Auf ganz und gar andere Weise spielt sie diesen Topos in ihrer Erzählung Eine Frage der Pose aus, die wiederum gar nicht lustig ist.)
Wenn man genauer hinliest, schnappt der junge Protagonist diesen Begriff von seinem Vater auf, der ihn aus seiner Zeitung erfährt. Welche Art von Zeitung, frage ich mich, wird der weitgehend mittellose Mann in seinem Häuschen in den Vereinigten Staaten von Amerika Anfang des zwanzigsten Jahrhunderts gelesen haben? Ist es eine Arbeiterzeitung? Und was wird darin über Anarchisten stehen? Zum Thema Gewaltakte gegen den Staat: Wenn die Geschichte in ihrem Erscheinungsjahr 1914 spielt, könnte das Attentat gemeint sein, das Gavrilo Princip auf den Thronfolger Österreich-Ungarns Erzherzog Franz Ferdinand und seine Gemahlin Sophie Chotek, Herzogin von Hohenberg, in Sarajevo verübte. Allerdings war Princip als Mitglied oder Handlanger des nationalistischen, pro-serbischen, geheimen Terrorbunds Schwarze Hand alles andere als ein Anarchist. Was amerikanische Zeitungen daraus machen, ist natürlich eine andere Sache.
Wahrscheinlicher ist, dass Glaspell auf die Geschichte der anarchistischen Bewegung in den USA Bezug nimmt, die in den dreißig Jahren zuvor, spätestens mit den Heumarkt-Ereignissen in Chicago am 1. Mai 1886 spektakulär Aufsehen erregt hatte. Hier komme ich einer spannenden, fast vergessenen Geschichte auf die Spur. Mir wird bewusst, dass der Beginn der Arbeiterbewegung in den USA sich mit Glaspells Erwachsenenleben überschneidet. Die radikal linke Arbeiterbewegung in den USA und Susan Keating Glaspell sind gemeinsam groß geworden. Mit diesen Kreisen − der breiten Szene mit ihren vielen radikalen deutschsprachigen Zeitschriften mit ikonischen Namen wie Freiheit (Most, London), Die Autonomie, Der Vorbote, Die Fackel, Freie Arbeiter Stimme (auf Jiddisch), Die freie Gesellschaft (ebenfalls auf Jiddisch) und vielen anderen − war Glaspell vertraut. Aber wie landet diese Geschichte in der Sammlung Arents? Und warum zum Teufel erschien sie in diesem possierlichen Format?
Nachdem ich mich in der Bibliothek mit dem guten Stück Prosa eingehend befasst habe, löchere ich den Bibliothekar mit Fragen, der mir bereitwillig und detailliert Auskunft gibt: Im Jahr 1914 druckt Winthrop Press in New York für die American Tobacco Company eine Sammlung von dreiunddreißig der besten Kurzgeschichten jener Zeit. Es gab wohl Pläne, einhundert Texte zu veröffentlichen, doch es wurden nur dreiunddreißig. Immerhin. Im Bibliothekskatalog wird die Geschichte als Teil der Katalognummer S 1751 geführt, wo die American Tobacco Company als weitere Autorin verschlagwortet ist. Jedes einzelne Büchlein wird als „Arents S 1751 no. [1−33]“ gelistet. The Anarchist — His Dog ist die Nummer 13. „31 Seiten, Sammlerstück, 71x55 mm.“ Die American Tobacco Company lässt sie in einer Spezialausgabe in Form dieser winzigen Büchlein herstellen. Wozu? Sie werden Zigarettenschachteln der Marken Egyptienne Straights, Omar und Sovereign sowie den Piccadilly Little Cigars als Kaufprämien beigefügt.
Ich stelle mir vor, wie ketterauchende Werbemacher à la Mad Men die Sammelkarten mit berühmten Baseballspielern (die im American Card Catalog der Bibliothek ebenfalls aufgeführt sind) und die hübschen Seidenfahnen, die den Egyptienne Straights zeitweise beilagen, allmählich langweilig fanden; wie sie in ihrem Großraumbüro herumsaßen und rauchten und nicht auf überzeugende Ideen für neue Werbefeldzüge kamen und also eine Zeitung oder irgendwas herumliegendes Geschriebenes nahmen, um sich abzulenken, und sich derart abgelenkt wohlfühlten. Das Rauchen-beim-Lesen war wohl naheliegend.
Ein schöner Essay von George Orwell aus dem Jahr 1946 trägt sogar den Titel Books vs. Cigarettes. Darin vergleicht er die Kosten des Lesens mit denen anderer erbaulicher Zeitvertreibe, z. B. des Rauchens, Trinkens und des Kinos.1 Und dann springt einer dieser Typen rauchend auf und sagt erregt und konzentriert zugleich, indem er mit den beiden zigarettehaltenden Fingern seiner Hand in die Luft oder auf die Kollegen deutet, um seinen Gedanken noch mehr Nachdruck zu verleihen: Und wenn wir das nun umdrehten? Alle gucken verständnislos. Schenken wir den Leuten doch zum bezahlten Rauchgenuss das Lesen, für das sie (laut Orwell) zu bezahlen zu geizig sind.2 Begeisterter Applaus im Team. Dass nun die Tabakindustrie, um offensive Strategien der Suchterzeugung zwecks Absatzsteigerung nie verlegen, den Spieß umdreht und nämlich das Lesen-beim-Rauchen propagiert, ist in seiner subtilen Akzentverschiebung eine zugegeben originelle Idee.
Der junge Mann hinterm Tresen sieht mich beeindruckt und lässt das kurz wirken. Dann geht er mit einem „Warten Sie doch bitte noch“ erneut nach hinten. Als er zurückkommt, präsentiert er mir mit gebührendem Stolz eine Schachtel mit der vollständigen Sammlung, die gesamte Reihe dieser Büchlein, in der ich trotz der kleinen Schrift schon beim ersten Blick viele Klassiker erkenne: Rudyard Kiplings The Taking of Lungtungpen, Edgar Allan Poes A Cask of Amontillado, O. Henry mit The Ethics of Pig. Auch The Headless Hottentot von Jerome Beatty macht mich neugierig. Und unter den wenigen Frauen ist Glaspell (neben Olive Mary Briggs) gleich zweimal vertreten, denn die Nummer 12 im Katalog ist die Geschichte According to His Lights, die ich noch nicht kenne. Sein Kollege, erklärt der kompetente Mann, habe eigens diese drei Pappschachteln im stilvollen Schuber maßgefertigt, in der sie die dreiunddreißig Exemplare zu jeweils elf Stück aufbewahren können.
Ich gebe ihm Recht, es ist eine beachtliche Sammlung, und auch ansehnlich, sowohl die Sammlung als auch die Schachteln. So viel schöne Literatur, die ja zugleich sehr bekannt und aber auch wenig umfangreich zu sein hatte, versammelt auf derart kompaktem Raum, ist ein charmantes Juwel der Arents Collection und gibt einigen Aufschluss über eine lange vergangene Epoche, als Genussformen hochkarzinogener Nervengifte mit gesellschaftlich erstrebenswerten Vergnügungen gepaart werden konnten. Werbung für Tabakerzeugnisse ist in Deutschland dank erfolgreicher Lobbyarbeit der Industrie nur sehr allmählich und langsamer als in anderen europäischen Ländern eingeschränkt worden. Wo ich heute Zigarettenschachteln sehe, starren mir morbide Bildwerke entgegen. Ich muss den Blick jedes Mal schnellstmöglich abwenden, denn die abgebildeten Geschwüre und zerstörten Organe verursachen mir einen Würgereiz. Der Versuch, Leuten eine Teerlunge vermittels hochkarätiger zeitgenössischer Literatur schmackhaft zu machen, verblüfft mich nachhaltig − eine unbestreitbar beachtliche Marketingleistung jener Zeit.
Als Übersetzer genieße ich diese Arbeit, etwas aufspüren, recherchieren, ein Publikationsprojekt entwickeln. Für dieses Projekt übersetze ich im nächsten Schritt probehalber zwei Geschichten und habe 2022 das Glück, in Sabine Dörlemann eine interessierte Verlegerin für das Projekt zu finden. Der Zürcher Dörlemann Verlag spezialisiert sich auf Autor:innen der Moderne, das passt also genau. Mit einem weiteren Stipendium des Deutschen Übersetzerfonds im Programm extensiv-initiativ wird die Finanzierung ermöglicht. Nun erarbeite ich über die nächsten Monate hinweg eine Auswahl von Geschichten, übersetze sie und versehe sie schließlich mit einem einordnenden Nachwort. Im September 2023 gebe ich sie bei Dörlemann unter dem Titel Die Rose im Sand heraus. Dort kann man jetzt auch Dem Anarchist sein Hund auf Deutsch lesen.
- „it looks as though the cost of reading, even if you buy books instead of borrowing them and take in a fairly large number of periodicals, does not amount to more than the combined cost of smoking and drinking.“ ↩︎
- „at least let us admit that it is because reading is a less exciting pastime than going to the dogs, the pictures or the pub, and not because books, whether bought or borrowed, are too expensive“ ↩︎
Bildnachweis: Glaspell, Susan. The anarchist — His dog. New York, c1914, Winthrop Press. Call number: Arents S1751 no. 13. Rare Book Division. The New York Public Library. Astor, Lenox, and Tilden Foundations.
Fotos: Henning Bochert