Es gibt etwa 7000 Sprachen auf der Welt, doch nur ein winziger Bruchteil davon wird ins Deutsche übersetzt. Wir interviewen Menschen, die Meisterwerke aus unterrepräsentierten und ungewöhnlichen Sprachen übersetzen und uns so Zugang zu wenig erkundeten Welten verschaffen. Alle Beiträge der Rubrik findet ihr hier.
Wie haben Sie Samisch gelernt?
Mit der samischen Sprache bin ich zum ersten Mal an der Georg-August-Universität Göttingen in Kontakt gekommen, wo ich als Hungarologin am Finnisch-Ugrischen Seminar tätig war und Gelegenheit hatte, mich auch intensiver mit der Finnougristik zu beschäftigen. Das Samische gehört wie das Ungarische zur uralischen Sprachfamilie. Am weitesten verbreitet ist das Nordsamische mit etwa 20.000 Sprecher:innen, ca. 5.000 Menschen sprechen Süd‑, Ume‑, Pite‑, Lule‑, Inari‑, Skolt- und Kildinsamisch. Das Akkalasamische wurde im Südwesten der Kola-Halbinsel gesprochen und ist verschiedenen Quellen zufolge bereits ausgestorben. Genaue Erhebungen zur Zahl der Sprecher:innen liegen allerdings nicht vor.
Mein damaliger Kollege und verdienter „Lappologe“ Hans-Hermann Bartens hat mich in die Geheimnisse der samischen Sprache eingeweiht und mein Interesse geweckt. Durch Johanna Domokos, Autorin und Literaturwissenschaftlerin, bin ich zum Übersetzen aus dieser faszinierenden und so anderen Literatur gekommen. Gemeinsam haben wir mehrere Bände samischer Dichter:innen, etwa von Rauni Magga Lukkari und Inger-Mari Aikio, und eine umfangreiche Lyrikanthologie herausgegeben.
Wie sieht die samische Literaturszene aus?
Ein kleiner Exkurs, um die auf der kulturellen Landkarte Europas weitgehend unbekannte Literatur der Sámi einzuordnen: Die recht junge Literatur hat es nicht einfach, sich inmitten der traditionsschweren Literaturen Europas zu behaupten. Sápmi, das von den Sámi, dem einzigen offiziell anerkannten indigenen Volk in Europa, bewohnt wird, erstreckt sich von Norwegen über Schweden und Finnland bis auf die Halbinsel Kola in Russland und liegt damit auf vier Staatsgebieten.
Der Gebrauch der samischen Sprachen wurde lange unterdrückt bzw. sogar verboten. An der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert hatte die rigorose Assimilierungspolitik in den skandinavischen Ländern und in Russland zur Folge, dass Literat:innen samischer Herkunft begannen, sich ihrer Muttersprache mehr und mehr bewusst zu werden. Zu Beginn der 1970er Jahre forderten die Sámi – wie auch andere ethnische Minderheiten – mehr politische und ökonomische Rechte. Dazu gehörte auch das Recht, in der eigenen Muttersprache lesen und schreiben zu lernen. In dieser kulturellen Aufbruchsstimmung, als junge samische Intellektuelle und Künstler:innen sich offen gegen die Annexion des samischen Gebietes und die kulturelle Assimilation durch die Mehrheitsgesellschaften positionierten, erlebte auch die samische Literatur einen bis dahin nicht gekannten Aufschwung. Aus der einst mündlichen Gesangs- und Erzähltradition, die erst seit der Mitte des 19. Jahrhunderts schriftlich fixiert wurde, erwuchs eine breite literarische Kultur.
Im Nordsamischen heißt Literatur girjjálašvuohta, abgeleitet vom Wort girji: etwas, das eine bestimmte Form hat oder das geschrieben ist, beispielsweise ein Brief oder Buch. Harald Gaski, Professor für samische Kultur und Literatur aus Tromsø, fasst daher die samische Literatur in einem sehr weiten Sinne: „Man sollte samische Bezeichnungen als Grundlage einer samischen Literaturdefinition verwenden und samische Ausdrucksformen nicht in starre literarische Konzepte pressen, deren Ursprünge vollkommen anders sind als die kulturellen Zusammenhänge, aus denen die samischen literarischen Traditionen entstanden sind.“
Eine der wichtigsten Künstlerpersönlichkeiten der „samischen Renaissance“ ist Nils-Aslak Valkeapää (1943–2001). Er war Dichter, Schriftsteller, Joiker, Musiker, Komponist, Fotograf, Maler, bildender Künstler, Kulturpolitiker und Schauspieler, und er war Inspiration für viele junge samische Künstler:innen. Heute veröffentlichen etwa 150 Personen literarische Texte in verschiedenen samischen Sprachen. Trotz begrenzter Leserschaft ist die samische Literatur außerordentlich vielfältig, von Lyrik über Prosa bis zur Graphic Novel sind alle Genres vertreten, und junge Autor:innenen schreiben nicht nur auf Samisch, sondern auch auf Finnisch, Norwegisch, Schwedisch und Russisch.
Was sollte man unbedingt gelesen haben?
Das auf Deutsch vorliegende Lektüreangebot ist nicht sehr umfangreich. Ein geradezu klassisches Werk ist Johan Turis Buch des Lappen Johan Turi (1910, dt. 1912 und 1992, übersetzt von Mathilde Mann). Turi, ein samischer Jäger, veröffentlichte das Buch mit Hilfe der dänischen Künstlerin und Ethnographin Emilie Demant Hatt. Sie besorgte auch die dänische Übersetzung der zweisprachigen Originalausgabe. Die Lebenserinnerungen und Zeichnungen sind ein authentisches Zeugnis von Kultur, Sprache und Umwelt der Sámi.
Kirsti Palttos Zeichen der Zerstörung (dt. 1997, übersetzt von Regine Pirschel) spielt in der Zeit des verheerenden deutschen Rückzugs aus dem finnischen Teil Sápmis 1944 sowie in der Nachkriegszeit. Der Roman zeigt eindrücklich die Zerstörungen der äußeren Lebensumstände wie auch die Erschütterungen der hergebrachten Traditionen durch den Fortschritt der Nachkriegsjahre.
Aus der samischen Lyrik sind Rauni Magga Lukkari und Inger-Mari Aikio in einem gemeinsamen Band sowie letztere in mehreren Einzelpublikationen zu entdecken. Als Dichterinnen unterschiedlicher Generationen setzen sie sich mit ihrer samischen und weiblichen Identität und der Beziehung zwischen den Geschlechtern auseinander (Erbmütter – Welttöchter, 2014, übersetzt von Christine Schlosser).
Der vielversprechende junge Autor und Musiker Niillas Holmberg muss unbedingt genannt werden, von ihm liegen zwei Lyrikbände auf Deutsch vor: Der dem Wind auf dem Schoß sitzt (2017, übersetzt von Katrin Merz) und Barfuß (2022, übersetzt von Christine Schlosser), das als Gesamtkunstwerk von Text und graphischer Gestaltung – ein für die samische Lyrik charakteristisches Verfahren – beeindruckt.
Die auf Schwedisch schreibende Ann-Helén Laestadius ist mit zwei Romanen auf dem deutschen Buchmarkt präsent: Das Leuchten der Rentiere und Die Zeit im Sommerlicht (beide übersetzt von Maike Barth und Dagmar Mißfeldt). Ihre Romane handeln von dem oft gewaltsamen Umgang mit den Sámi, so von den traumatischen Erfahrungen in Internaten, in die Sámi-Kinder zwangsweise verbracht und dort ihrer Sprache und Kultur entfremdet wurden.
Wer noch tiefer in die samische Dichtung eintauchen möchte, dem sei die Samica-Anthologie Worte verschwinden fliegen zum blauen Licht (2019, übersetzt von Christine Schlosser) ans Herz gelegt, in der fast fünfzig Dichter:innen der vergangenen 350 Jahre zu einer literarischen Entdeckungsreise einladen.
Was ist noch nicht übersetzt?
Aus der samischen Literatur ist leider bisher sehr wenig in Deutsche übersetzt worden, also gibt es noch Unzähliges zu entdecken. Unbedingt sollte von Nils-Aslak Valkeapää mehr auf Deutsch zu lesen sein. Einige wenige Texte haben der in Finnland lebende Hans Ulrich Schwaar sowie Manfred Peter Hein ins Deutsche übertragen. Aber auch von der neuen Generation, beispielsweise von Sigbjørn Skåden, Máret Ánne Sara und Rawdna Carita Eira, wünscht man sich etwas auf dem deutschen Buchmarkt. Und warum nicht eine Literatur über die Graphic Novel entdecken: 2020 erschien Sunna Kittis Jiehtanasa iđit (Der Morgen der Riesen). Die Handlung dieser ersten auf Samisch erschienenen Graphic Novel greift auf Fjellners mythisches Epos Päiven párne’ (Der Sonnensohn) zurück.
Was sind die größten Schwierigkeiten beim Übersetzen aus dem Samischen? Wie gehen Sie damit um?
Als finnougrische Sprache hat das Samische wie das Ungarische, Finnische oder Estnische agglutinierende Züge und fügt daher verschiedenste Endungen, z. B. Possessivsuffixe, an das Wort an. Dazu gesellt sich noch ein sogenannter Stufenwechsel im Konsonantismus (manchmal auch im Vokalismus), d. h. es wechseln Konsonanten in der Quantität und/oder Qualität. Aus čakča (Herbst) wird im Akkusativ/Genitiv čavčča. Also nicht immer einfach, den Wörtern auf die Spur zu kommen, zumal es nicht so viele Wörterbücher und Grammatiken gibt.
Bei der Übersetzung von vor 1980 entstandenen Texten spielt auch die Frage der schriftsprachlichen Form eine Rolle. Erst 1979 wurde von der Samischen Sprachkommission eine einheitliche Orthographie für das Nordsamische festgelegt. Eine Schwierigkeit kann sich auch manchmal daraus ergeben, dass das Samische kein grammatisches Geschlecht kennt. Im Deutschen muss man sich bei der Verwendung von Personal- und Possessivpronomen entscheiden. Das Problem lässt sich mitunter nur durch Rückfrage bei dem/der Autor:in klären.
Schwerer als sprachstrukturelle Unterschiede wiegen jedoch kulturspezifische Aspekte, so zum Beispiel die Vielzahl von Bezeichnungen für Schnee, die Klaus Peter Nickel in seinem verdienstvollen Wörterbuch aufführt: Ist er noch unberührt? Ist er von lockerer Beschaffenheit? Ist er fest, aber noch tragfähig? Ist er fest getrampelt? Ist er kompakt und trägt Rentiere, aber keine Menschen? Ist er von körniger Konsistenz und von einer kompakten Schneedecke bedeckt? Ist es weicher Schnee im Frühjahr, der sich an den Füßen festsaugt? Oder handelt es sich um Schnee, den man mit den Schuhen oder der Kleidung in die Wohnung trägt? Gerade bei solchen lexikalischen Problemen ist die Kreativität der Übersetzer:innen gefragt, denn nicht immer kann man den Leser:innen ein Glossar an die Hand geben.
Was kann Samisch, was Deutsch nicht kann?
Wie das Schnee-Beispiel anschaulich zeigt, hat die samische Sprache einen wesentlich reicheren Wortschatz, um Naturphänomene und Örtlichkeiten zu beschreiben. Das resultiert aus der engen Beziehung der Sámi zur Natur und der Anpassung ihrer Lebensweise an den Jahreszyklus (die Sámi haben acht Jahreszeiten) und die jeweilige natürliche Umgebung. Leif Rantala, Linguist und Übersetzer, fand in einem Wörterbuch 109 Wörter für unterschiedliche Berg- und Hügelformen, 40 für Sümpfe und Moore, 60 für Täler, Schluchten und Bodenvertiefungen. Die zahlreichen Bezeichnungen für das Rentier und alles, was im Zusammenhang mit der Rentierhaltung steht, zeugen von deren Bedeutung für einen Teil der samischen Bevölkerung. Der finnische Historiker und Linguist T. I. Itkonen listet mehr als 500 solcher Begriffe für den finnischen Teil Sápmis auf.
Im Bereich der Verben kann das Samische als morphologisch äußerst flexible Sprache in nur einem Wort ein Maximum an Nuancen im Handlungsgeschehen ausdrücken. Das lässt sich im Deutschen oft nur durch ein Mehr an Wörtern wiedergeben, was bei Lyrikübertragungen große Probleme bereiten kann.
Und zu guter Letzt: Auch die Lust an der Herausforderung gehört zum Übersetzen. Samische Literatur, insbesondere Lyrik, ins Deutsche zu übertragen, ist für mich ein Abenteuer im wahrsten Sinne des Wortes. Dabei reizen nicht nur die Unterschiede im Sprachbau und Klangbild, sondern auch Fragen von kultureller Identität, die dem/der Übersetzer:in über die Arbeit am Text hinaus eine besondere Verantwortung auferlegen: Wie umgehen mit einer indigenen Literatur, die auf einem anderen Verständnis von Kultur gründet und einer stark fremdbestimmten Überlieferungsgeschichte ausgesetzt war?
Wir suchen für die Rubrik „Große kleine Sprache“ Übersetzer:innen, die Lust haben, ihre „kleine“ Sprache mit unserem Fragebogen vorzustellen. Wenn du dich angesprochen fühlst, melde dich gerne unter redaktion@tralalit.de.