In dieser Reihe stellen Übersetzer:innen Bücher aus „ihrem“ Land vor – spannend, wegweisend, romantisch, subtil, haarsträubend oder urkomisch – aber in jedem Fall lesenswert. Ob Klassiker oder Zeitgenössisches, Krimis, Poesie oder Kinderbücher … diese ganz persönliche Leseliste lädt dazu ein, die literarische Landschaft des Landes vom Sofa aus zu bereisen. Viel Spaß beim Schmökern!
Roman
Louise Nealon: Snowflake
Aus dem Englischen übersetzt von Anna-Nina Kroll. Mare 2022
Die 19-jährige Debbie White lebt auf einer Milchfarm außerhalb Dublins. Ihre Mutter seelisch krank, ihr Vater unbekannt, ihr Onkel nur mit Mühe fähig, die Farm am Laufen zu halten. Zunächst eine Außenseiterin am Dubliner Trinity College, beginnt Debbie langsam, Fuß zu fassen in ihrem neuen Leben – bis ihr altes aus den Fugen gerät. So wie Sally Rooney erzählt Louise Nealon von den Herausforderungen eines jungen Lebens am Rande zum Erwachsenwerden. Nur nahbarer, bodenständiger – und für mich viel sympathischer. Snowflake ist voller schlagfertiger Dialoge und mit der absolut irischen Qualität gesegnet, sich selbst trotz aller Probleme nicht allzu wichtig zu nehmen. Die Story ist charmant, einfallsreich und ein großes Lesevergnügen, auch wenn die junge Autorin sehr viele große Themen in ihr Debüt packt. Anna-Nina Kroll, deren Übersetzungen mir schon seit Milchmann von Anna Burns imponieren, kann sich gut in diese Welt einfühlen und begleitet Debbie White hervorragend ins Deutsche.
Roman
Rónán Hession: Leonard und Paul
Aus dem Englischen übersetzt von Andrea O’Brien. Dumont 2024
Zwei unauffällige Dubliner Normalos pflegen ihre Marotten, ihren Alltag und ihre Freundschaft. Ein ganz normales Leben, geprägt von alltäglichen Abenteuern, kleinen Triumphen und oft tragikomischen Rückschlägen. Leonard und Paul ist ein warmes Bad von einem Buch. Rónán Hession schreibt mit so viel Wohlwollen, gutmütiger Ironie und Witz über Charaktere, die wir im Alltag oft übersehen, dass man nicht anders kann, als sie zu mögen. Das Tempo ist gemächlich, nach Dramatik sucht man vergeblich – die Stars sind die verschrobenen Figuren und Hessions zauberhafte Sprache. Als Wahlirin begegnen mir dabei ständig kurze Grüße aus dem Dubliner Alltag, von Roses-Konfekt bis zur betrieblichen Feuerschutzübung, gewürzt mit witzigen Wortgefechten. Andrea O’Briens Übersetzung hat mich außerdem verblüfft. Als zweisprachige Leserin erkenne ich meist sofort die typisch irischen Redewendungen in deutschen Übersetzungen wieder. In Leonard und Paul liest sich absolut nichts „übersetzt“.
Erzählungen
Seamus Ó Grianna: Selbst der beste Tag
Aus dem Englischen übersetzt von Gabriele und Julian Haefs. Mare 2021
Séamus Ó Grianna zählt zu den wichtigsten Vertretern der gälischsprachigen Literatur. Diese Sammlung seiner Erzählungen spielt am nordwestlichen Rand der Insel und zeichnet ein unterhaltsames, wenn auch inzwischen anachronistisches Sittenbild des irischen Landlebens im frühen 20. Jahrhundert. Ein Panoptikum von liebevoll spöttisch betrachteten Figuren kämpft mit den großen Themen: Liebe, Tragik, Auswanderung, Revolution. Eine tragende Rolle spielt auch immer wieder das Meer als ebenso faszinierender wie gefährlicher Sehnsuchtsort. Fans von Heinrich Bölls Irischem Tagebuch und dem klassischen, inzwischen oft verlorengegangenen Irland werden daran große Freude haben. Gabriele und Julian Haefs haben es geschafft, den trockenen Humor von Séamus Ó Grianna in eine angemessene deutsche Form zu übersetzen, die eine perfekte Balance hält zwischen zeitlos und zeitgemäß.
Roman
Kevin Barry: Nachtfähre nach Tanger
Aus dem Englischen übersetzt von Thomas Überhoff. Rowohlt 2022
Kevin Barry ist Journalist, Autor und ein erklärter Sprachakrobat der irischen Literaturszene. In seinem dritten Roman erzählt er die etwas abgegriffene Noir-Story von den Has-been-Ganoven Maurice und Charlie, die am Hafen der spanischen Hafenstadt Algeciras auf eine Nachtfähre ins marokkanische Tanger warten, auf der sich angeblich Dilly, die Tochter von Maurice, befindet. Aber wie ein weiblicher Godot lässt Dilly auf sich warten – räsonieren Maurice und Charlie über ihre gemeinsame Vergangenheit. Die ist geprägt von Drogen, Gewalt und der großen, verlorenen Liebe. Diese Story fand ich persönlich etwas abgegriffen, aber wie Barry sie erzählt! Wellenförmig treibt uns der Text voran, zieht uns mit sich durch die dunklen Gewässer von Charlies und Maurice‘ Vergangenheit. In seiner rhythmischen Struktur ähnelt der Text oft einem Gedicht, liest sich wie Musik. Vor Thomas Überhoffs Übersetzungskünsten habe ich den größten Respekt, denn es gelingt ihm, Barrys Wortgemälde auch im Deutschen in seinen schillerndsten Farben leuchten zu lassen.
Roman
Paula McGrath: Dann rennen wir
Aus dem Englischen übersetzt von Karen Gerwig. GOYA 2022
Mit ihrem zweiten Roman hat es Paula McGrath in die Auswahl der Irish Times Best Books of the Year geschafft. Über die verschlungenen Pfade von drei irischen Frauen dreier verschiedener Generationen in den 1980ern und den 2010er Jahren erzählt sie von den Herausforderungen des Lebens als Frau in Irland. Es geht um Emigration, die gesellschaftliche Rückständigkeit Irlands in den 80ern, die Flucht von drei sehr verschiedenen Frauen vor ihren Lebensumständen und der Vergangenheit – bis sie lernen, aufzustehen und ihr Leben selbst in die Hand zu nehmen. Karen Gerwig liefert zu der berührenden Reise eine einfühlsame Übersetzung, die sich mühelos an die verschiedenen Erzählstimmen der Boxerin Jasmine, der jungen Ali und der namenlosen Ärztin anpasst.
Noch mehr zu Irland erfahrt ihr in unserem Beitrag Große kleine Sprache Irisch!