Die Heinrich-Maria-Ledig-Rowohlt-Stiftung zeichnet am 18. Oktober im Rahmen der Frankfurter Buchmesse drei Übersetzende aus. Unter ihnen ist Verena von Koskull, die für ihre „genauen und unaufgeregt kunstvollen Übersetzungen aus dem Italienischen“ den Jane-Scatcherd-Preis erhält. Für die 1970 geborene von Koskull, zu deren Ausgangssprachen auch Englisch gehört, ist es nicht die erste Auszeichnung: Im Jahre 2020 erhielt sie für „Die katholische Schule“ von Edoardo Albinati den Deutsch-italienischen Übersetzerpreis.
In der langen Reihe ihrer Arbeiten finden sich mehrere Romane des aus Bari stammenden Autors Gianrico Carofiglio. Dieser kann mit heute 63 Jahren auf ein bewegtes Leben zurückblicken: Viele Jahre lang war er als Staatsanwalt tätig und eine Zeitlang Mitglied des italienischen Senats. Mit seinem Romandebüt Testimone inconsapevole (auf Deutsch in der Übersetzung von Claudia Schmitt unter dem Titel Reise in der Nacht erschienen) erfand er 2002 den italienischen „Legal Thriller“ und hob die Figur des Avvocato Guerrieri aus der Taufe, die durch diverse weitere Bände eine große Popularität erlangte.
In eine ganz andere Richtung geht Carofiglios Buch Le tre del mattino aus dem Jahr 2017, das in Verena von Koskulls Übersetzung 2019 unter dem Titel Drei Uhr morgens erschien. Im Mittelpunkt stehen der fast achtzehnjährige Antonio und sein Vater, die Handlung konzentriert sich auf 48 Stunden, die die beiden im Frühsommer 1983 in Marseille verbringen.
Antonio erhält mit vierzehn Jahren die Diagnose Epilepsie. Da die zunächst verschriebenen starken Medikamente und die zahlreichen Verhaltensregeln ihm jede Lebensfreude nehmen, konsultieren seine getrennt lebenden Eltern den Spezialisten Professor Gastaut in Marseille (der tatsächlich existiert hat). Dieser verordnet eine wesentlich gemäßigtere Therapie und ermöglicht Antonio dadurch wieder ein normales Leben. Drei Jahre später kehren der Teenager und sein Vater zu einer Nachuntersuchung nach Südfrankreich zurück und der Neurologe ordnet einen sogenannten Provokationstest an: 48 Stunden lang soll Antonio nicht schlafen. Erleidet er in dieser Zeit keinen Anfall, kann er sich als geheilt betrachten.
Vater und Sohn erkunden während ihrer unverhofften kurzen Ferien die Stadt bei Tag und Nacht, gehen schwimmen, besuchen einen Jazzclub und lernen einander besser kennen. Missverständnisse werden ausgeräumt und unerwartete Gemeinsamkeiten treten zutage – vor allem eine starke mathematische Begabung. Der Autor selbst bezeichnet das Thema „Talent“ als wichtigstes des Romans. In der zweiten Nacht macht Antonio seine ersten sexuellen Erfahrungen mit der wesentlich älteren Marianne. Da sein Vater zehn Monate später stirbt, werden trotz aller Geständnisse Lücken bleiben. Vor allem die gemeinsame Geschichte der Eltern wird nicht zu Ende erzählt, der Sohn erfährt den Grund ihrer Trennung nicht.
Auf der formalen Ebene haben wir es mit drei Zeitebenen zu tun: Antonio berichtet als 50-Jähriger von seinen Erlebnissen in der Jugend, hinzu kommen die Geschichten, die der Vater aus seiner eigenen Jugend erzählt. Das Alter des Ich-Erzählers spiegelt sich in seiner Sprache wider und seine Annäherung an den Vater wird unter anderem dadurch ermöglicht, dass dessen Redeweise an Steifheit verliert. Dabei ist die Sprache im Deutschen häufig noch lockerer und anschaulicher als im Original. Als Beispiel sei ein Gespräch über die beruflichen Pläne von Antonios Mitschülern genannt:
- […] Secondo me vogliono solo imitare i genitori, anzi i padri, perché le madri di questi non lavorano.
- Sì, spesso non è una buona idea. I miei compagni di scuola che hanno ereditato il lavoro del padre non mi sono mai sembrati molto felici.
- […] Ich glaube, die wollen nur ihre Eltern nachäffen, also die Väter, die Mütter arbeiten nicht.
- Ja, das geht meistens in die Hose. Meine Mitschüler, die in die Fußstapfen ihrer Väter getreten sind, haben mir nie einen besonders glücklichen Eindruck gemacht.
„Imitare“ ist wesentlich neutraler als „nachäffen“ und „non è una buona idea“ bedeutet ganz einfach „das ist keine gute Idee“. Die Übersetzerin geht hier etwas weiter als der Autor, was aber bestens zu den Figuren passt.
Eine Schlüsselstelle in Drei Uhr morgens, deren Bedeutung sich erst später offenbart, ist Antonios Begegnung mit seiner Grundschullehrerin, die ihn fragt, ob er „noch immer so gut in Mathe sei“. Antonio reagiert patzig:
Risposi che della matematica non me ne importava niente, che detestavo i numeri e le formule, che da adulto avrei fatto un lavoro che non avesse nulla a che fare con quella roba.
Ich antwortete, Mathe sei mir wurst, ich könne Zahlen und Formeln nicht ausstehen und wenn ich groß sei, würde ich mir einen Beruf suchen, der nichts mit dem ganzen Kram zu tun hätte.
Im Italienischen wie im Deutschen macht der Schüler seine Abneigung gegen das einstige Lieblingsfach sehr deutlich. Der Lehrerin ist ihre Gekränktheit anzusehen und Antonio spricht im Nachhinein von „il grumo indistinto di fragilità e risentimento che intuivo dietro le mie parole“, in der Übersetzung von „der leisen Spur Schwäche und Verdrossenheit, die ich aus meinen Worten heraushörte“. „Spur“ ist eine gelungene Wahl für die Wiedergabe von „grumo“ (eigentlich „Gerinnsel, Klumpen“), „Verdrossenheit“ dagegen trifft die Bedeutung von „risentimento“ nicht ganz. Etwa hundert Seiten später spricht Antonio von seinem „Groll“ gegenüber dem Vater, der ihn und seine Mutter verlassen hat. Dieser Groll verleidet ihm auch das Fach, dem sich sein Vater beruflich widmet, dieses Wort hätte auch hier besser gepasst.
Was liebt der Vater an der Mathematik so sehr? Diese Frage stellt ihm Antonio zu später Stunde in einer Bar. Die Antwort: Das hat sich im Laufe der Jahre geändert. Am Anfang schätzte er ihre Schönheit:
Poi ho capito che per me la matematica era anche uno strumento per placare l’ansia, per combattere l’angoscia dell’esistenza e della sua imprevedibilità. Una difesa dalla paura. In tedesco, cioè una delle lingue più precise che esistano, con svariati sinonimi per ogni concetto, c’è una sola parola per dire ansia e paura: Angst. Ecco: la matematica era una difesa dalla paura, un rimedio al caos e un modo per addomesticarlo.
Dann habe ich begriffen, dass Mathematik für mich auch ein Beruhigungsmittel war, um die Furcht vor dem Leben und seinen Unwägbarkeiten zu bekämpfen. Eine Waffe gegen die Angst. Das Deutsche, eine der präzisesten Sprachen überhaupt, die für alles gleich mehrere Synonyme kennt, hat für diesen Zustand zwischen Bangnis und Panik nur dieses eine, treffende Wort: Angst. Die Mathematik war genau das: eine Waffe gegen die Angst, ein Mittel gegen das Chaos und eine Möglichkeit, es zu bändigen.
Die Vorstellung von der präzisen deutschen Sprache, die für alles ein eigenes Wort hat, ist in Italien durchaus verbreitet. Die Existenz der drei Substantive „paura“, „ansia“ und „angoscia“ mit ihrer sehr ähnlichen Bedeutung stellt aus dem Italienischen Übersetzende oft vor Schwierigkeiten: Wann wird welches Wort verwendet? Verena von Koskull spricht von „Furcht“, „Bangnis“ und „Panik“, um die verschiedenen Nuancen deutlich zu machen. Wichtig ist in diesem Absatz auch das Wort „imprevedibilità“, da es die Situation von Vater und Sohn beschreibt: Sie glaubten, nach ihrem Termin in der Klinik sofort wieder nach Italien zurückkehren zu können, was sich nicht bewahrheitet hat. Das etwas sperrige „Unvorhersehbarkeit“ wäre die naheliegendste Wahl; die Übersetzerin hat sich für die poetischeren „ Unwägbarkeiten“ entschieden.
Ihr Formulierungsgeschick stellt sie auch bei der Wiedergabe der Passagen unter Beweis, in denen Marseille im Wechsel der Tageszeiten beschrieben wird. Gianrico Carofiglio erklärt, die Stadt sei mit ihrem Zusammenspiel von „Nacht, Gefahr und Faszination“, ihren Verheißungen und Bedrohungen der perfekte Schauplatz für den Roman und gleichzeitig eine Metapher für die Lebensphase, in der sich Antonio befindet. Am ersten Abend fühlen der Junge und sein Vater sich schnell unwohl:
Procedendo verso il porto Marsiglia si trasformava a vista d’occhio in una sorta di metropoli nordafricana, presidiata a ogni angolo da prostitute e magnaccia, percorsa da gruppi di ragazzi maghrebini dagli sguardi famelici, punteggiata da botteghe strapiene come bazar in miniatura, da negozi sbarrati con assi di legno, da ristoranti che emanavano odore di spezie e fritture, da caffè equivoci, da cinema porno.
Auf dem Weg Richtung Hafen verwandelte sich Marseille zusehends in eine Art nordafrikanische Metropole, in der an jeder Ecke Prostituierte und Zuhälter lungerten und junge Maghrebiner mit gierigen Blicken grüppchenweise durch die von vollgestopften Kramläden, zugenagelten Geschäften, nach Frittierfett und Gewürzen miefenden Restaurants, zwielichtigen Cafés und Pornokinos gesäumten Straßen zogen.
Die Alliteration „presidiata / percorsa / punteggiata“ findet man in der deutschen Fassung nicht. Auch der Satzbau unterscheidet sich deutlich von dem des Originals, da ein Beibehalten der Partizipialkonstruktion extrem schwerfällig gewirkt hätte. Auf die „Miniatur-Basare“ des italienischen Texts, die zur nordafrikanischen Metropole und den jungen Maghrebinern passen, wurde verzichtet – um die Sichtweise der Besucher aus Italien weniger rassistisch erscheinen zu lassen? Bei Carofiglio ist nur von „Gerüchen“ nach Gewürzen und frittierten Speisen die Rede, von Koskull entscheidet sich für „Mief“, um die unangenehme Atmosphäre noch zu verstärken. Auch das Verb „lungern“, das im Original so nicht steht, fügt sich harmonisch in den Satz ein.
Etwa 36 Stunden später sieht die Welt schon ganz anders aus. „Wer hätte gedacht, dass Marseille so schöne Ecken hat?“, fragt der Vater, als die beiden eine Bootstour auf dem Meer unternehmen. Und schön ist es wirklich – in beiden Sprachen:
Il mare era calmo, con leggerissime increspature su cui la luce del sole produceva uno scintillio in continuo mutamento che, per ragioni inesplicabili, mi fece pensare all’eternità.
Das Meer war ruhig, auf den winzigen Kräuselwellen funkelte das Sonnenlicht in einem nimmermüden Wechselspiel, das mich aus unerfindlichen Gründen an die Ewigkeit denken ließ.
Der Grund für den Aufenthalt von Vater und Sohn in der südfranzösischen Großstadt ist Antonios Krankheit, die nach einem schweren Anfall mit Krämpfen und längerer Bewusstlosigkeit endlich eindeutig diagnostiziert wird. Die Dramatik der Situation wird in der Übersetzung ebenso klar wie im Original:
Avevo un copriletto azzurro chiaro, quasi celeste. D’un tratto quel colore tenue e rilassante divenne minaccioso, prese vita, balzò verso di me come un’entità psichedelica e mi attraversò con irreale violenza. Subito dopo, ancora dal copriletto si diffuse un fascio di luce, una specie di arcobaleno, prima azzurro, poi blu, giallo e di altri colori, fino a diventare di un bianco accecante che si trasformava in una serie di scie luminose. Queste s’incrociavano fra loro, si univano, si spezzettavano e si moltiplicavano, riempendo a poco a poco il mio campo visivo.
Ich hatte eine himmelblaue Tagesdecke. Plötzlich nahm ihre zarte, beruhigende Farbe etwas geradezu Bedrohliches an, sie wurde lebendig, sprang wie eine psychedelische Wesenheit auf mich zu und durchdrang mich mit transzendenter Wucht. Gleich darauf ging von der Bettdecke ein Lichtbündel aus, eine Art Regenbogen, hellblau, dunkelblau, gelb und noch andere Farben, wurde grellweiß und verwandelte sich in leuchtende Streifen, die sich kreuzten, vereinten, teilten, vermehrten und nach und nach mein gesamtes Gesichtsfeld einnahmen.
Alles geht wahnsinnig schnell, die Reize überlagern sich und stürzen auf Antonio ein, bis er ohnmächtig wird: Die Sprache vermittelt, was er erlebt. Indem die Übersetzerin die beiden letzten Sätze verbindet, bei der Aufzählung der Farben auf die Spezifizierung „erst hellblau, dann dunkelblau“ verzichtet und bei der Aufzählung der Bewegungen der Streifen ein Asyndeton verwendet, erhöht sie das Tempo noch. Sehr gelungen ist die Aufzählung „die sich kreuzten, vereinten, teilten, vermehrten“ auch aufgrund des Wechsels von zwei- und dreisilbigen Wörtern (bei denen letztere mit der Vorsilbe „ver-“ beginnen). Hier entsteht eine Art Chiasmus, also ein Kreuzmotiv.
Auch in der letzten längeren Szene des Romans geht es um die Wahrnehmung dessen, was geschieht. Antonio und sein Vater haben die Einladung auf eine Party bei der geheimnisvollen und unkonventionellen Marianne angenommen, die dem Jungen zum ersehnten „ersten Mal“ verhilft. Die Umgebung (ungewohnte Raumgestaltung, fremdes Essen, gemischtes Publikum inklusive gleichgeschlechtlicher Paare) führt ebenso wie der Alkohol und der Schlafentzug dazu, dass Antonio die Dinge zunehmend wie einen Traum erlebt.
Als er Lucie begrüßt, eine Zufallsbekanntschaft vom gleichen Tag, von der er sich zunächst angezogen fühlt, heißt es: „Per qualche istante ebbi il senso vertiginoso e preciso dell’improbabilità della situazione in cui ci trovavamo, come un’ebbrezza o un sogno.“ Verena von Koskull macht daraus: „Wie in einem Rausch oder in einem Traum wurde mir mit schwindelerregender Klarheit der Aberwitz des Augenblicks bewusst.“ Was für ein Satz, der sich durch Umstellung der Satzglieder, Wechsel der Wortarten und zwei lautlich ähnliche Substantive am Ende von der Vorlage löst und doch ihre Bedeutung transportiert!
Am nächsten Tag kehren Vater und Sohn nach Italien zurück. Das Besondere endet und die Hoffnung beider, eines Tages daran anknüpfen zu können, wird durch den überraschenden Tod des Vaters bald darauf zerstört. Antonio bleibt ein Brief und ein Zitat, das ihn in seinem späteren Berufsleben begleiten wird. Der deutschen Leserschaft bleibt das Gefühl, zwei Menschen und eine Stadt kennengelernt zu haben – dank einer sehr gelungenen Übersetzung.