Zwi­schen den Zeilen

Verena von Koskull wird auf der Frankfurter Buchmesse für ihre „genauen und unaufgeregt kunstvollen Übersetzungen aus dem Italienischen“ mit dem Jane-Scatcherd-Preis ausgezeichnet. Ihre Übersetzung von Gianrico Carofiglios „Drei Uhr morgens“ ist ein Beispiel für ihr sprachliches Feingefühl. Von

Cover von Gianrico Carofiglios Roman Drei Uhr morgens. Auf dem Cover sind bunte Häuser und der Name des Unionsverlags. Im Hintergrund sind grüne und orange Blasen.
Hintergrundbild: Wengang Zhai via Unsplash.

Die Hein­rich-Maria-Ledig-Rowohlt-Stif­tung zeich­net am 18. Okto­ber im Rah­men der Frank­fur­ter Buch­mes­se drei Über­set­zen­de aus. Unter ihnen ist Vere­na von Kos­kull, die für ihre „genau­en und unauf­ge­regt kunst­vol­len Über­set­zun­gen aus dem Ita­lie­ni­schen“ den Jane-Scat­c­herd-Preis erhält. Für die 1970 gebo­re­ne von Kos­kull, zu deren Aus­gangs­spra­chen auch Eng­lisch gehört, ist es nicht die ers­te Aus­zeich­nung: Im Jah­re 2020 erhielt sie für „Die katho­li­sche Schu­le“ von Edo­ar­do Albi­na­ti den Deutsch-ita­lie­ni­schen Übersetzerpreis.

In der lan­gen Rei­he ihrer Arbei­ten fin­den sich meh­re­re Roma­ne des aus Bari stam­men­den Autors Gian­ri­co Caro­figlio. Die­ser kann mit heu­te 63 Jah­ren auf ein beweg­tes Leben zurück­bli­cken: Vie­le Jah­re lang war er als Staats­an­walt tätig und eine Zeit­lang Mit­glied des ita­lie­ni­schen Senats. Mit sei­nem Roman­de­büt Tes­ti­mo­ne incon­s­ape­vo­le (auf Deutsch in der Über­set­zung von Clau­dia Schmitt unter dem Titel Rei­se in der Nacht erschie­nen) erfand er 2002 den ita­lie­ni­schen „Legal Thril­ler“ und hob die Figur des Avvo­ca­to Guer­ri­e­ri aus der Tau­fe, die durch diver­se wei­te­re Bän­de eine gro­ße Popu­la­ri­tät erlangte.

In eine ganz ande­re Rich­tung geht Caro­figli­os Buch Le tre del mat­ti­no aus dem Jahr 2017, das in Vere­na von Kos­kulls Über­set­zung 2019 unter dem Titel Drei Uhr mor­gens erschien. Im Mit­tel­punkt ste­hen der fast acht­zehn­jäh­ri­ge Anto­nio und sein Vater, die Hand­lung kon­zen­triert sich auf 48 Stun­den, die die bei­den im Früh­som­mer 1983 in Mar­seil­le verbringen. 

Anto­nio erhält mit vier­zehn Jah­ren die Dia­gno­se Epi­lep­sie. Da die zunächst ver­schrie­be­nen star­ken Medi­ka­men­te und die zahl­rei­chen Ver­hal­tens­re­geln ihm jede Lebens­freu­de neh­men, kon­sul­tie­ren sei­ne getrennt leben­den Eltern den Spe­zia­lis­ten Pro­fes­sor Gastaut in Mar­seil­le (der tat­säch­lich exis­tiert hat). Die­ser ver­ord­net eine wesent­lich gemä­ßig­te­re The­ra­pie und ermög­licht Anto­nio dadurch wie­der ein nor­ma­les Leben. Drei Jah­re spä­ter keh­ren der Teen­ager und sein Vater zu einer Nach­un­ter­su­chung nach Süd­frank­reich zurück und der Neu­ro­lo­ge ord­net einen soge­nann­ten Pro­vo­ka­ti­ons­test an: 48 Stun­den lang soll Anto­nio nicht schla­fen. Erlei­det er in die­ser Zeit kei­nen Anfall, kann er sich als geheilt betrachten. 

Vater und Sohn erkun­den wäh­rend ihrer unver­hoff­ten kur­zen Feri­en die Stadt bei Tag und Nacht, gehen schwim­men, besu­chen einen Jazz­club und ler­nen ein­an­der bes­ser ken­nen. Miss­ver­ständ­nis­se wer­den aus­ge­räumt und uner­war­te­te Gemein­sam­kei­ten tre­ten zuta­ge – vor allem eine star­ke mathe­ma­ti­sche Bega­bung. Der Autor selbst bezeich­net das The­ma „Talent“ als wich­tigs­tes des Romans. In der zwei­ten Nacht macht Anto­nio sei­ne ers­ten sexu­el­len Erfah­run­gen mit der wesent­lich älte­ren Mari­an­ne. Da sein Vater zehn Mona­te spä­ter stirbt, wer­den trotz aller Geständ­nis­se Lücken blei­ben. Vor allem die gemein­sa­me Geschich­te der Eltern wird nicht zu Ende erzählt, der Sohn erfährt den Grund ihrer Tren­nung nicht.

Auf der for­ma­len Ebe­ne haben wir es mit drei Zeit­ebe­nen zu tun: Anto­nio berich­tet als 50-Jäh­ri­ger von sei­nen Erleb­nis­sen in der Jugend, hin­zu kom­men die Geschich­ten, die der Vater aus sei­ner eige­nen Jugend erzählt. Das Alter des Ich-Erzäh­lers spie­gelt sich in sei­ner Spra­che wider und sei­ne Annä­he­rung an den Vater wird unter ande­rem dadurch ermög­licht, dass des­sen Rede­wei­se an Steif­heit ver­liert. Dabei ist die Spra­che im Deut­schen häu­fig noch locke­rer und anschau­li­cher als im Ori­gi­nal. Als Bei­spiel sei ein Gespräch über die beruf­li­chen Plä­ne von Anto­ni­os Mit­schü­lern genannt:

- […] Secon­do me vogli­o­no solo imit­are i geni­to­ri, anzi i padri, per­ché le madri di ques­ti non lavorano.

- Sì, spes­so non è una buo­na idea. I miei com­pa­gni di scuo­la che han­no eredi­ta­to il lavoro del pad­re non mi sono mai sem­bra­ti mol­to felici.

- […] Ich glau­be, die wol­len nur ihre Eltern nach­äf­fen, also die Väter, die Müt­ter arbei­ten nicht. 

- Ja, das geht meis­tens in die Hose. Mei­ne Mit­schü­ler, die in die Fuß­stap­fen ihrer Väter getre­ten sind, haben mir nie einen beson­ders glück­li­chen Ein­druck gemacht.

„Imit­are“ ist wesent­lich neu­tra­ler als „nach­äf­fen“ und „non è una buo­na idea“ bedeu­tet ganz ein­fach „das ist kei­ne gute Idee“. Die Über­set­ze­rin geht hier etwas wei­ter als der Autor, was aber bes­tens zu den Figu­ren passt.

Eine Schlüs­sel­stel­le in Drei Uhr mor­gens, deren Bedeu­tung sich erst spä­ter offen­bart, ist Anto­ni­os Begeg­nung mit sei­ner Grund­schul­leh­re­rin, die ihn fragt, ob er „noch immer so gut in Mathe sei“. Anto­nio reagiert patzig:

Ris­po­si che del­la mate­ma­ti­ca non me ne impor­ta­va nien­te, che detesta­vo i nume­ri e le for­mu­le, che da adul­to avrei fat­to un lavoro che non aves­se nulla a che fare con quella roba.

Ich ant­wor­te­te, Mathe sei mir wurst, ich kön­ne Zah­len und For­meln nicht aus­ste­hen und wenn ich groß sei, wür­de ich mir einen Beruf suchen, der nichts mit dem gan­zen Kram zu tun hätte.

Im Ita­lie­ni­schen wie im Deut­schen macht der Schü­ler sei­ne Abnei­gung gegen das eins­ti­ge Lieb­lings­fach sehr deut­lich. Der Leh­re­rin ist ihre Gekränkt­heit anzu­se­hen und Anto­nio spricht im Nach­hin­ein von „il gru­mo indistin­to di fra­gi­li­tà e risen­ti­men­to che intui­vo die­tro le mie paro­le“, in der Über­set­zung von „der lei­sen Spur Schwä­che und Ver­dros­sen­heit, die ich aus mei­nen Wor­ten her­aus­hör­te“. „Spur“ ist eine gelun­ge­ne Wahl für die Wie­der­ga­be von „gru­mo“ (eigent­lich „Gerinn­sel, Klum­pen“), „Ver­dros­sen­heit“ dage­gen trifft die Bedeu­tung von „risen­ti­men­to“ nicht ganz. Etwa hun­dert Sei­ten spä­ter spricht Anto­nio von sei­nem „Groll“ gegen­über dem Vater, der ihn und sei­ne Mut­ter ver­las­sen hat. Die­ser Groll ver­lei­det ihm auch das Fach, dem sich sein Vater beruf­lich wid­met, die­ses Wort hät­te auch hier bes­ser gepasst.

Was liebt der Vater an der Mathe­ma­tik so sehr? Die­se Fra­ge stellt ihm Anto­nio zu spä­ter Stun­de in einer Bar. Die Ant­wort: Das hat sich im Lau­fe der Jah­re geän­dert. Am Anfang schätz­te er ihre Schönheit:

Poi ho capi­to che per me la mate­ma­ti­ca era anche uno stru­men­to per pla­ca­re l’an­sia, per com­bat­te­re l’an­go­s­cia del­l’e­sis­ten­za e del­la sua impre­ve­di­bi­li­tà. Una dife­sa dal­la pau­ra. In tedes­co, cioè una del­le lin­gue più pre­cise che esist­a­no, con sva­ria­ti sino­ni­mi per ogni con­cet­to, c’è una sola paro­la per dire ansia e pau­ra: Angst. Ecco: la mate­ma­ti­ca era una dife­sa dal­la pau­ra, un rime­dio al caos e un modo per addomesticarlo.

Dann habe ich begrif­fen, dass Mathe­ma­tik für mich auch ein Beru­hi­gungs­mit­tel war, um die Furcht vor dem Leben und sei­nen Unwäg­bar­kei­ten zu bekämp­fen. Eine Waf­fe gegen die Angst. Das Deut­sche, eine der prä­zi­ses­ten Spra­chen über­haupt, die für alles gleich meh­re­re Syn­ony­me kennt, hat für die­sen Zustand zwi­schen Bang­nis und Panik nur die­ses eine, tref­fen­de Wort: Angst. Die Mathe­ma­tik war genau das: eine Waf­fe gegen die Angst, ein Mit­tel gegen das Cha­os und eine Mög­lich­keit, es zu bändigen.

Die Vor­stel­lung von der prä­zi­sen deut­schen Spra­che, die für alles ein eige­nes Wort hat, ist in Ita­li­en durch­aus ver­brei­tet. Die Exis­tenz der drei Sub­stan­ti­ve „pau­ra“, „ansia“ und „ango­s­cia“ mit ihrer sehr ähn­li­chen Bedeu­tung stellt aus dem Ita­lie­ni­schen Über­set­zen­de oft vor Schwie­rig­kei­ten: Wann wird wel­ches Wort ver­wen­det? Vere­na von Kos­kull spricht von „Furcht“, „Bang­nis“ und „Panik“, um die ver­schie­de­nen Nuan­cen deut­lich zu machen. Wich­tig ist in die­sem Absatz auch das Wort „impre­ve­di­bi­li­tà“, da es die Situa­ti­on von Vater und Sohn beschreibt: Sie glaub­ten, nach ihrem Ter­min in der Kli­nik sofort wie­der nach Ita­li­en zurück­keh­ren zu kön­nen, was sich nicht bewahr­hei­tet hat. Das etwas sper­ri­ge „Unvor­her­seh­bar­keit“ wäre die nahe­lie­gends­te Wahl; die Über­set­ze­rin hat sich für die poe­ti­sche­ren „ Unwäg­bar­kei­ten“ entschieden.

Ihr For­mu­lie­rungs­ge­schick stellt sie auch bei der Wie­der­ga­be der Pas­sa­gen unter Beweis, in denen Mar­seil­le im Wech­sel der Tages­zei­ten beschrie­ben wird. Gian­ri­co Caro­figlio erklärt, die Stadt sei mit ihrem Zusam­men­spiel von „Nacht, Gefahr und Fas­zi­na­ti­on“, ihren Ver­hei­ßun­gen und Bedro­hun­gen der per­fek­te Schau­platz für den  Roman und gleich­zei­tig eine Meta­pher für die Lebens­pha­se, in der sich Anto­nio befin­det. Am ers­ten Abend füh­len der Jun­ge und sein Vater sich schnell unwohl:

Pro­ce­den­do ver­so il por­to Mar­si­glia si tras­for­ma­va a vis­ta d’oc­chio in una sor­ta di metro­po­li nord­af­ri­ca­na, pre­si­dia­ta a ogni ango­lo da pro­sti­tu­te e magnac­cia, per­cor­sa da grup­pi di ragaz­zi maghre­bi­ni dag­li sguar­di fame­li­ci, punt­eggia­ta da bot­teg­he stra­pie­ne come bazar in minia­tu­ra, da nego­zi sbar­ra­ti con assi di leg­no, da ris­tor­an­ti che emana­va­no odo­re di spe­zie e frit­tu­re, da caf­fè equi­vo­ci, da cine­ma porno.

Auf dem Weg Rich­tung Hafen ver­wan­del­te sich Mar­seil­le zuse­hends in eine Art nord­afri­ka­ni­sche Metro­po­le, in der an jeder Ecke Pro­sti­tu­ier­te und Zuhäl­ter lun­ger­ten und jun­ge Maghre­bi­ner mit gie­ri­gen Bli­cken grüpp­chen­wei­se durch die von voll­ge­stopf­ten Kram­lä­den, zuge­na­gel­ten Geschäf­ten, nach Frit­tier­fett und Gewür­zen mie­fen­den Restau­rants, zwie­lich­ti­gen Cafés und Por­no­ki­nos gesäum­ten Stra­ßen zogen.

Die Alli­te­ra­ti­on „pre­si­dia­ta / per­cor­sa / punt­eggia­ta“ fin­det man in der deut­schen Fas­sung nicht. Auch der Satz­bau unter­schei­det sich deut­lich von dem des Ori­gi­nals, da ein Bei­be­hal­ten der Par­ti­zi­pi­al­kon­struk­ti­on extrem schwer­fäl­lig gewirkt hät­te. Auf die „Minia­tur-Basa­re“ des ita­lie­ni­schen Texts, die zur nord­afri­ka­ni­schen Metro­po­le und den jun­gen Maghre­bi­nern pas­sen, wur­de ver­zich­tet – um die Sicht­wei­se der Besu­cher aus Ita­li­en weni­ger ras­sis­tisch erschei­nen zu las­sen? Bei Caro­figlio ist nur von „Gerü­chen“ nach Gewür­zen und frit­tier­ten Spei­sen die Rede, von Kos­kull ent­schei­det sich für „Mief“, um die unan­ge­neh­me Atmo­sphä­re noch zu ver­stär­ken. Auch das Verb „lun­gern“, das im Ori­gi­nal so nicht steht, fügt sich har­mo­nisch in den Satz ein.

Etwa 36 Stun­den spä­ter sieht die Welt schon ganz anders aus. „Wer hät­te gedacht, dass Mar­seil­le so schö­ne Ecken hat?“, fragt der Vater, als die bei­den eine Boots­tour auf dem Meer unter­neh­men. Und schön ist es wirk­lich – in bei­den Sprachen: 

Il mare era cal­mo, con leg­ge­ris­si­me incre­spa­tu­re su cui la luce del sole pro­du­ce­va uno scin­til­lio in con­ti­nuo mut­amen­to che, per ragio­ni ine­spli­ca­bi­li, mi fece pen­sare all’eternità.

Das Meer war ruhig, auf den win­zi­gen Kräu­sel­wel­len fun­kel­te das Son­nen­licht in einem nim­mer­mü­den Wech­sel­spiel, das mich aus uner­find­li­chen Grün­den an die Ewig­keit den­ken ließ.

Der Grund für den Auf­ent­halt von Vater und Sohn in der süd­fran­zö­si­schen Groß­stadt ist Anto­ni­os Krank­heit, die nach einem schwe­ren Anfall mit Krämp­fen und län­ge­rer Bewusst­lo­sig­keit end­lich ein­deu­tig dia­gnos­ti­ziert wird. Die Dra­ma­tik der Situa­ti­on wird in der Über­set­zung eben­so klar wie im Original:

Ave­vo un copril­et­to azzur­ro chia­ro, qua­si cele­s­te. D’un trat­to quel colo­re tenue e rilas­san­te diven­ne min­ac­cio­so, pre­se vita, bal­zò ver­so di me come un’en­ti­tà psi­che­de­li­ca e mi attra­ver­sò con irrea­le vio­len­za. Subi­to dopo, anco­ra dal copril­et­to si dif­fu­se un fascio di luce, una spe­cie di arco­ba­le­no, pri­ma azzur­ro, poi blu, gial­lo e di altri colo­ri, fino a diven­ta­re di un bian­co acce­can­te che si tras­for­ma­va in una serie di scie lumi­no­se. Ques­te s’in­cro­cia­va­no fra loro, si uni­va­no, si spez­zet­ta­va­no e si mol­ti­pli­ca­va­no, riem­pen­do a poco a poco il mio cam­po visivo.

Ich hat­te eine him­mel­blaue Tages­de­cke. Plötz­lich nahm ihre zar­te, beru­hi­gen­de Far­be etwas gera­de­zu Bedroh­li­ches an, sie wur­de leben­dig, sprang wie eine psy­che­de­li­sche Wesen­heit auf mich zu und durch­drang mich mit tran­szen­den­ter Wucht. Gleich dar­auf ging von der Bett­de­cke ein Licht­bün­del aus, eine Art Regen­bo­gen, hell­blau, dun­kel­blau, gelb und noch ande­re Far­ben, wur­de grell­weiß und ver­wan­del­te sich in leuch­ten­de Strei­fen, die sich kreuz­ten, ver­ein­ten, teil­ten, ver­mehr­ten und nach und nach mein gesam­tes Gesichts­feld einnahmen.

Alles geht wahn­sin­nig schnell, die Rei­ze über­la­gern sich und stür­zen auf Anto­nio ein, bis er ohn­mäch­tig wird: Die Spra­che ver­mit­telt, was er erlebt. Indem die Über­set­ze­rin die bei­den letz­ten Sät­ze ver­bin­det, bei der Auf­zäh­lung der Far­ben auf die Spe­zi­fi­zie­rung „erst hell­blau, dann dun­kel­blau“ ver­zich­tet und bei der Auf­zäh­lung der Bewe­gun­gen der Strei­fen ein Asyn­de­ton ver­wen­det, erhöht sie das Tem­po noch. Sehr gelun­gen ist die Auf­zäh­lung „die sich kreuz­ten, ver­ein­ten, teil­ten, ver­mehr­ten“ auch auf­grund des Wech­sels von zwei- und drei­sil­bi­gen Wör­tern (bei denen letz­te­re mit der Vor­sil­be „ver-“ begin­nen). Hier ent­steht eine Art Chi­as­mus, also ein Kreuz­mo­tiv.

Auch in der letz­ten län­ge­ren Sze­ne des Romans geht es um die Wahr­neh­mung des­sen, was geschieht. Anto­nio und sein Vater haben die Ein­la­dung auf eine Par­ty bei der geheim­nis­vol­len und unkon­ven­tio­nel­len Mari­an­ne ange­nom­men, die dem Jun­gen zum ersehn­ten „ers­ten Mal“ ver­hilft. Die Umge­bung (unge­wohn­te Raum­ge­stal­tung, frem­des Essen, gemisch­tes Publi­kum inklu­si­ve gleich­ge­schlecht­li­cher Paa­re) führt eben­so wie der Alko­hol und der Schlaf­ent­zug dazu, dass Anto­nio die Din­ge zuneh­mend wie einen Traum erlebt. 
Als er Lucie begrüßt, eine Zufalls­be­kannt­schaft vom glei­chen Tag, von der er sich zunächst ange­zo­gen fühlt, heißt es: „Per qual­che istan­te ebbi il sen­so ver­ti­gi­no­so e pre­ciso del­l’im­pro­ba­bi­li­tà del­la situa­zio­ne in cui ci tro­va­va­mo, come un’eb­brez­za o un sog­no.“ Vere­na von Kos­kull macht dar­aus: „Wie in einem Rausch oder in einem Traum wur­de mir mit schwin­del­erre­gen­der Klar­heit der Aber­witz des Augen­blicks bewusst.“ Was für ein Satz, der sich durch Umstel­lung der Satz­glie­der, Wech­sel der Wort­ar­ten und zwei laut­lich ähn­li­che Sub­stan­ti­ve am Ende von der Vor­la­ge löst und doch ihre Bedeu­tung transportiert!

Am nächs­ten Tag keh­ren Vater und Sohn nach Ita­li­en zurück. Das Beson­de­re endet und die Hoff­nung bei­der, eines Tages dar­an anknüp­fen zu kön­nen, wird durch den über­ra­schen­den Tod des Vaters bald dar­auf zer­stört. Anto­nio bleibt ein Brief und ein Zitat, das ihn in sei­nem spä­te­ren Berufs­le­ben beglei­ten wird. Der deut­schen Leser­schaft bleibt das Gefühl, zwei Men­schen und eine Stadt ken­nen­ge­lernt zu haben – dank einer sehr gelun­ge­nen Übersetzung.

Gian­ri­co Caro­figlio | Vere­na von Kos­kull

Drei Uhr morgens



Uni­ons­ver­lag 2022 ⋅ 192 Sei­ten ⋅ 13 EUR


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