Lydia Davis gibt nicht gerne Interviews. Zumal die Frage, was ihre genaue Absicht beim Schreiben dieser oder jener Kurzgeschichte war, sie langweilt. Im vergangenen Jahr hat sie sich dann doch mal wieder interviewen lassen, von Merve Emre, dem Shooting Star der US-amerikanischen Literaturkritik, anlässlich des Erscheinens von ihrem neuen Kurzgeschichtenband mit dem Titel Unsere Fremden (OT: Our Strangers). Im New Yorker ist zu lesen, wie Interviewende und Interviewte gemeinsam die britische Ausgabe des Buches anschauen, genauer gesagt, die Kurzgeschichte Geplagter Gelehrter im Zug (die titelgebende Plage sind andere Passagiere, die den Gelehrten von seiner Lektüre in einem komplizierten Dialekt des Okzitanischen ablenken). Denn etwas Wichtiges fehlt: das Ausrufezeichen am Ende der Geschichte, die mit dem Satz „So, please.“ schließt (in der deutschen Fassung gibt es hingegen ein Ausrufezeichen, „Also bitte!“). Die Geschichte beginnt mit einem Ausruf und endet mit einem Ausruf, so schließt sich der Kreis. Oder, so soll er sich schließen.
Merve Emre und Lydia Davis samt Kater Jack beugen sich also über das Buch, die Autorin zückt ihren Bleistift, um Anmerkungen für den Verlag zu sammeln. Die nächste Auflage soll nicht auf gleiche Weise misslingen. Das mag ein wenig pedantisch wirken, handelt es sich schließlich nur um eine kleine Änderung der Interpunktion, doch ist die Intervention nur folgerichtig im Universum der unangefochtenen Meisterin der Kurzform. Denn viele von Davis‘ Kurzgeschichten sind nicht kurz, sondern kürzest – der Band hat nur etwas mehr als doppelt so viele Seiten wie Geschichten. Ihre Prosaminiaturen sind derart verknappt, dass häufig nur drei oder vier Zeilen nötig sind, um ihre einzigartigen narrativen Welten entstehen zu lassen. Jedes einzelne Wort sitzt – und das gilt auch für die Satzzeichen.
Die Zusammenarbeit mit der Verlagsbranche hat sich bei Unsere Fremden übrigens anders gestaltet als sonst. Davis hat ihren angestammten US-Verlag, Farrar, Straus and Giroux, verlassen, um die Distribution des Buches auf Amazon zu verhindern. Lieber wollte sie sich auf geringere Verkaufszahlen einlassen, als dem Onlineversandhändler weiter in die Karten zu spielen. Der Versuch, den Versand-Giganten zu umgehen, stellte sich als wahre Odyssee heraus. Schließlich war es eine andere Online-Plattform, die eigens für Davis‘ Buch zum Verlag wurde: Bookshop.org wurde 2020 von Indie-Verleger Andy Hunter gegründet. Auf seiner Plattform werden 30 Prozent der Verkaufseinnahmen an Partner-Buchhandlungen weitergeleitet. Und nun kann er sich außerdem mit der besonderen Feder schmücken, Lydia Davis verlegt zu haben.
Wie auch schon in ihren früheren Kurzgeschichten widmet sich die Autorin überwiegend alltäglichen Situationen, die profan scheinen mögen, doch stets eine eigentümliche Tiefe aufweisen, eine affektive Qualität, die sich schwer fassen lässt. Auf jeder minimalistisch gesetzten Seite findet sich ein unerwartetes Detail, ein schräges Bild, ein Wortspiel, ein Moment eigenartiger Schönheit. Ein Thema, das in Davis‘ Werk zunehmend an Präsenz gewinnt, ist das Altern. So etwa in der traurig-schönen Kurzgeschichte Wehmütige alte Jungfer:
Was ist das,
was sie zärtlich in der Badewanne berührt,
während sie sich im warmen Wasser zurücklehnt?
Ah,
ein schwimmendes Lesezeichen…
Die Prosa von Lydia Davis ist trocken wie zart, lakonisch wie lyrisch. Ihr idiosynkratischer Stil prägt ihre sämtlichen Erzählbände ebenso wie ihren bis dato einzigen Roman. Im Englischen sind zudem zwei Essaybände (Essay I und II) erschienen. Im zweiten Essayband widmet Davis sich dem Übersetzen. Denn sie ist nicht nur eine mit Preisen wie dem International Man Booker oder dem PEN/Malamud Award ausgezeichnete Autorin, sondern hat auch literarische Größen wie Marcel Proust und Gustave Flaubert (deren überbordender Stil in interessantem Kontrast zur Reduziertheit ihrer eigenen Sprache steht) ins Englische übertragen.
In ihren Essays schreibt sie etwa davon, wie sie Maurice Blanchot übersetzte und den Prozess im Nachhinein in Zeiteinheiten aufdröselte, um festzustellen, dass sie einen Stundenlohn erreichte, der vielleicht im 19. Jahrhundert als angemessen hätte gelten können – nämlich rund ein Dollar pro Stunde. Sie berichtet von ihrem Projekt, aus jeder Sprache etwas zu übersetzen, in die eines ihrer eigenen Werke übertragen worden ist. Von ihrer Methode, sich neuen Sprachen zu nähern: Sie nimmt sich ein ihr bekanntes Buch in einer Fremdsprache vor, übersetzt Teile davon und gleicht sie mit einer englischen Ausgabe ab. Und sie vergleicht das Übersetzen mit dem Lösen von Rätseln. Es ist also kein Wunder, dass Lydia Davis eine derart präzise Autorin ist. Wie in einem Kreuzworträtsel hat bei ihr jeder einzelne Buchstabe seinen Platz.
Bisher wurden Davis‘ Werke von Klaus Hoffer ins Deutsche übersetzt; den jüngsten Band hat nun erstmals Jan Wilm für den Droschl Verlag ins Deutsche gebracht. Gerade in längeren Geschichten wie der titelgebenden Unsere Fremden ist Wilm sichtlich in seinem Element und seine Sätze fließen ohne große Widerstände. Der Titel rekurriert auf einen Zeitungsartikel, wie Davis im Interview Emre erzählt: Am Rande einer Stadt lebten drei Brüder, die von den anderen Bewohner*innen als sonderbar, ja verwahrlost betrachtet und ausgegrenzt wurden. Und doch kamen sie alle zusammen, um die Brüder zu schützen, als die Behörden sie aus ihrem Zuhause zu vertreiben versuchten. Die Brüder waren zwar Fremde, aber eben „unsere Fremden“. In Davis‘ Geschichte kommen nun allerhand Personen zusammen, die gleichzeitig fremd und nah sind: Nachbarn.
Once, there was a problem with a fence erected along a shared property line. Erecting the fence seemed rude, and the better-looking side was not facing the neighbors. The etiquette of erecting a fence dictates that the better-looking side of the fence should face the neighbors, as a matter of courtesy and conciliation.
Einmal gab es ein Problem mit einem Zaun, der entlang einer gemeinsamen Grundstücksgrenze errichtet worden ist. Die Errichtung des Zauns wirkte unhöflich, da die besser aussehende Seite nicht den Nachbarn zugewandt war. Die Etikette beim Aufstellen eines Zauns schreibt vor, dass die besser aussehende Seite des Zauns den Nachbarn zugewandt sein sollte, als Zeichen der Höflichkeit und der Versöhnung.
Wilm gelingt es, Davis‘ verbale Sparsamkeit beizubehalten, ihren schnörkellosen und leicht ironischen Ton. Wenn es jedoch um Präzision geht, kommt er immer wieder an seine Grenzen. Schon in diesem Abschnitt fällt eine leicht Sinnverschiebung auf: Indem der Übersetzer eine kausale Konjunktion wählt, wird die vermeintliche Unhöflichkeit auf die Ausrichtung des Zauns beschränkt, während das Errichten des Zauns im Original bereits an sich kritisch betrachtet wird und die Ausrichtung einen zusätzlichen Affront darstellt. Diese Verschiebung mag als marginal durchgehen und fällt nur auf, wenn Original und Übersetzung nebeneinanderliegen. Doch schon wenige Sätze weiter findet sich ein handfestes Problem. Ein Anwohner übertritt versehentlich eine Grundstücksgrenze, um eine Asiatische Lilie zu pflanzen. Er hat sie „zu Fuß überschritten“, heißt es im Deutschen. Ja, wie denn sonst, wenn nicht zu Fuß, fragt man sich. Der Blick ins Englische offenbart, dass der Nachbar die Grenze „by a foot“ überschritten hat, also um einen Fußbreit – denn es handelt sich hier um die Maßeinheit Fuß. Solche Ungenauigkeiten fallen umso mehr ins Gewicht, je kürzer die Geschichten ausfallen. Ein Beispiel:
A Question for the Writing Class Concerning a Type of Furniture
Can you create
a tragic scene
in which you mention
the bibelots and whimsies
on the whatnot?
Eine Frage an den Schreibkurs betreffend eine Art von Haushaltsobjekt
Könnt ihr euch
eine tragische Szene ausdenken,
in der ihr
die Bibelots und den Klimbim
im Henkelmann erwähnt?
Klimbim im Henkelmann? Das Bild ergibt im Deutschen wenig Sinn. Wenn es sich hier um ein abstraktes Gedicht handeln würde, dann könnte sich womöglich auch Nippes in einem Behälter befinden, der für den Transport einer Mahlzeit bestimmt ist. Doch Davis‘ Miniatur-Szenen sind grundsätzlich realistische. Im Original weist schon der Titel der Kurzgeschichte darauf hin, wie „whatnot“ zu lesen ist – ein Möbelstück ist gemeint. Das Wort ist dem Sprechersubjekt entfallen, also wird das englische Äquivalent von „Dingsbums“ verwendet, vermutlich handelt es sich schlicht um ein Regal. Im Englischen stehen die auffälligen Wörter „bibelots“ und „whimsies“ im starken Kontrast zum profanen „whatnot“ – der subtile Witz ergibt sich daraus, dass gerade letzteres das entfallene Wort ist. Diese Peripetie fehlt in der Übersetzung.
Eine weitere ungelenke Entscheidung findet sich in der Geschichte über eine Ameise, die auf einen Tresen krabbelt: „Besonders, wenn sie in Frieden gelassen wird, wenn sie ruhig ist, dann ist eine Ameise eine angenehme Gesellschaft. Aber wenn du meinst, du kannst sie Gesellschaft nennen, kannst du sie dann auch als Gesellschafterin bezeichnen, als Kameradin?“ An dieser Stelle stolpert die Lektüre. Der juristische Fachbegriff hat wenig mit Kameradschaft zu tun. Hier wurde ein Wortspiel aus dem Englischen („companion“, „company“) einfach übernommen, ohne die semantische Umdeutung zu beachten.
Und dann gibt es da noch eine ornithologische Geschichte, die ich mir bei der Lektüre des Originals bereits markiert hatte, weil ich besonders neugierig auf die Übersetzung war, denn ihr liegt die klangliche Verwandtschaft von Vogelnamen zugrunde. Sie trägt den Titel Gespräch auf lauter Party an verschneitem Winternachmittag auf dem Land.
- I found a very small owl by the road, this big. (He holds his hands eight inches apart.) It was very beautiful, perfect.
Birder is quick to respond:
- So what.
[…]
- A what?
- A saw whet. S‑a-w. W‑h-e‑t.
- Oh! Well (Pause.) I thought it might be a screech owl.
- It might be. I’ll have to look.
- They’re small too, aren’t they?
- Yes, they’re very small. But they make a very loud noise.
– Ich habe einen kleinen Vogel an der Straße gefunden, der war so groß. (Er hält seine Hände zwanzig Zentimeter weit auseinander.) Er war wunderschön, ganz perfekt.
Vogelkundlerin antwortet schnell:
– Unecht.
[…]
– Ein was?
– Ein Buntspecht. S‑P-E-C-H‑T.
– Oh! Okay. (Pause.) Ich dachte, es könnte eine Ringdrossel sein.
– Könnte sein. Ich kann dir ja mal einen zeigen.
– Die sehen so ähnlich aus, oder?
– Ja, sie sind klein. Aber sie haben einen sehr lauten Gesang.
Es ist klar, dass der Übersetzer hier kreativ werden muss. Der Reim Unecht/Buntspecht geht durchaus auf, doch inhaltlich wird es schwierig. Ein Laie, der nicht weiß, was ein Buntspecht ist, dafür aber eine Ringdrossel benennen kann? Und dann hat der Specht in der Übersetzung auch noch einen lauten Gesang. Spechte sind allerdings keine Singvögel – ihr Stimmapparat ist anders aufgebaut als der von anderen Vögeln, da sich die Zunge von Spechten vollständig ums Gehirn windet, um dieses beim Klopfen an die Baumrinde vor einer Gehirnerschütterung zu bewahren. Ein von Wilm eigens kreiertes Problem, denn schon im Original ist nicht von Gesang die Rede, sondern nur von einem lauten Geräusch. Eine Alternative wäre zum Beispiel ein Reim aus Simpel/Gimpel. Gimpel haben Ähnlichkeit mit Buchfinken, beide singen.
Wie Lydia Davis selbst in ihren Essays ausführt, ergibt sich beim Übersetzen allzu häufig eine Diskrepanz zwischen kreativem Anspruch, monetärem Anreiz und Zeitdruck. Schon viele Kritiker*innen haben angemerkt, dass ihre Geschichten in ihrer sprachlichen Verdichtung fast wie Gedichte daherkommen, andere sehen in ihnen sprachgewordene Fotografien. Dass die Übersetzung von derart feingliedrigen Texten eine besondere Herausforderung darstellt, liegt auf der Hand. Jan Wilm schafft es, die besondere Tonalität von Davis’ reduzierter Prosa einzufangen; für die individuellen Wortbedeutungen scheint es hingegen mitunter an Aufmerksamkeit gefehlt zu haben. Bei Davis spielen jedoch beide Ebenen eine grundlegende Rolle. Deshalb hätte ich ihrem Kurzgeschichtenband eine Übersetzung gewünscht, die den gleichen Wert auf Präzision legt wie die Autorin selbst. Denn es sind genau diese subtilen Details, die ihre einzigartigen Sprachbilder zu dem machen, was sie sind: Meisterwerke des Minimalismus.