Wenn man die Wahl hätte, einen Roman zu übersetzen, welcher wäre das wohl? Für den Übersetzer Thomas Weiler ist die Antwort klar: Europas Hunde von dem belarussischen Autor Alhierd Bacharevič. Wer den Roman gelesen hat, versteht sofort warum. Abgesehen von der komplexen Struktur des Romans, der in sechs Teile gegliedert ist, behandelt er zentrale Themen wie Sprache, Kommunikation und Verständigung, Identität und die Frage, wie wir unsere eigene Realität erschaffen. Die Figuren sind oft schlagfertige Außenseiter, die oft die Grenzen des Systems testen – und diese meist auf absurde Weise zu überwinden suchen.
Wie sie mich anödet, eure belarussische Sprache, wer wüsste es zu sagen. Und wer wüsste zu sagen, mit welcher Wonne ich das schreibe. Öde. Öde. Verödung. Verblödung. Zuwider ist sie mir. Weg mit dir, Sprache, ksch.
Was für eine Ansage für die darauf folgenden 750 Seiten. Und der Erzähler ist nur konsequent: Er erfindet seine eigene Sprache namens Balbuta, eine konstruierte Sprache also, für die er sich eine Grammatik ausdenkt, Wörterbücher verfasst und in der er erste Texte schreibt. Durch Zufall finden sich auch andere Sprecher:innen und gemeinsam verfolgen sie schon bald größere Ziele. Man träumt zum Beispiel davon, James Joyces Ulysses ins Balbuta übersetzen.
Balbuta ist kein vage angedeutetes Konstrukt, wie es in Romanen manchmal der Fall ist, sondern eine tatsächliche Erfindung von Alhierd Bacharevič. Deutschsprachige Leser:innen kommen in den Genuss, ganze Passagen und sogar ein Gedicht in der Kunstsprache lesen zu dürfen. Als ich Thomas Weiler in Leipzig treffe, kreisen die ersten Fragen um den Roman: Was macht man damit als Übersetzer? Wie verhält sich die Übersetzung zum Original? „Europas Hunde ist das anspruchsvollste und umfangreichste Werk, das ich übersetzt habe“, bestätigt er – und lässt gleichzeitig durchblicken, dass es auch das bislang bedeutendste Projekt seiner Übersetzerkarriere sein dürfte.
Weiler, 1978 im Schwarzwald geboren, hat den Großteil seines Lebens in Leipzig verbracht. Heute lebt er mit seiner Familie in Markkleeberg, einem kleinen Ort südlich der Stadt, von wo aus er Literatur aus dem Belarussischen, Russischen und Polnischen übersetzt. Anfang September treffen wir uns anlässlich einer besonderen Ehrung: 2024 erhält er für seine Übertragung von Europas Hunde den Paul-Celan-Preis, einen renommierten Übersetzerpreis, der mit 25.000 Euro dotiert ist. Als er in seiner Wetterjacke an einem kühlen Freitagmorgen das Café betritt, ist davon allerdings wenig zu spüren. Weiler ist ein unprätentiöser, bescheidener Typ, der auf Kaffee verzichtet und lieber ein Glas warme Milch bestellt.
Es ist nicht der erste wichtige Preis in seiner Karriere als Übersetzer, aber wohl der bedeutendste: „Ich weiß ja, wer in der Jury saß und was die draufhaben,“ erzählt er mit Blick auf Kolleginnen wie Karin Betz, Christiane Körner oder Patricia Klobusiczky, denen er diese Auszeichnung zu verdanken hat. Gleichzeitig ist für Literaturschaffende aber auch das Preisgeld relevant, wie Clemens Meyer erst kürzlich öffentlich zur Schau stellte. Man müsse den Preis rückwärts rechnen, argumentiert Weiler, als Kompensation für die oft unterbezahlte und oft unsichtbare Arbeit, die Übersetzende leisten.
Auch eine Übersetzung wie Europas Hunde würde ohne zusätzliche Förderung – in dem Fall durch Neustart-Kultur-Gelder vom Übersetzerfonds – nicht existieren. Das Interesse an Literatur aus Belarus oder der Ukraine sei durch politische Ereignisse gewachsen, berichtet Weiler. Dennoch habe die Suche nach einem geeigneten Verlag Zeit gebraucht, da er einen Herausgeber finden wollte, der „viel für das Buch macht.“ Früher hätte er meist mit kleinen Verlagen zusammengearbeitet, Lesungen komplett selbst organisiert und viel Zeit in die Nachbereitung investiert.
Heute weiß er: „Es ist für alle Beteiligten frustrierend, wenn so ein Text untergeht.“ Deshalb habe er einen Verlag mit den nötigen Ressourcen gesucht, der auch in den Roman investiert und ein ordentliches Lektorat macht. „Ich habe ja vor allem mit Lektoren zu tun, die das Original nicht lesen können, daher habe ich eine große Verantwortung,“ erzählt er. Im Februar 2024 erschien Europas Hunde dann bei Voland & Quist, einem Verlag, der seine Übersetzer:innen auch aufs Cover setzt. Doch zunächst blieben die Reaktionen, trotz großer Aufmachung mit plakativem Cover, aus. Erst Anfang Juni wurde der Roman in den großen Feuilletons besprochen und positiv rezipiert. Ein Preis kommt da gut gelegen, um noch mehr Aufmerksamkeit zu generieren.
Alhierd Bacharevičs erster Roman war auch Thomas Weilers erste richtige literarische Übersetzung. 2010 veröffentlichte der Leipziger Literaturverlag Die Elster auf dem Galgen in Weilers Übersetzung, auf die er mit gemischten Gefühlen zurückblickt. Zum einen, weil er denkt, dass der Roman eine gründlichere verlegerische Begleitung gebraucht hätte, zum anderen, weil er selbst vorsichtiger mit dem Text umging: „Am Anfang habe ich mir die Sachen viel kleinteiliger angeschaut und gedacht, dass das Original erkennbar sein muss, dass man mir abnehmen muss, dass ich alles durchschaut habe.“
Nun interessiere ihn vor allem das große Ganze, was bei einem Mammutwerk wie Europas Hunde mit all seinen Querverweisen und Verbindungen schwer zu durchdringen sein dürfte. In Bacharevičs Romanen habe jedes Element eine bestimmte Funktion, es handle sich aber nicht nur um postmoderne Spielerei, bekräftigt Weiler, alles habe seinen genauen Platz. „Die vielen Brücken müssen auch in der Übersetzung vorhanden sein,“ erzählt er weiter.
Gleichzeitig übt er sich im Loslassen. Dass viele Leser:innen kaum Berührungspunkte mit Belarus haben und ihnen viele Dinge womöglich entgehen könnten, kümmert ihn wenig. Einen Anmerkungsapparat im Buch zu einem ohnehin schon langen Roman habe er abgelehnt (obwohl er großer Fan von Übersetzungsjournalen ist). „Ich habe nicht mehr den Anspruch, alles erklären zu wollen,“ sagt er, was auch in den Besprechungen von Europas Hunde zum Ausdruck kommt – sie loben den Roman für seine literarische Qualität, statt ihn bloß aus realpolitischer Perspektive zu betrachten. Ihm gefallen Besprechungen wie die von Sieglinde Geisel in der FAZ, die nicht auf dem realpolitischen Hintergrund rumreiten, sondern ihn vor allem als große Literatur lesen.
Thomas Weilers Leidenschaft für Sprache und Literatur ist tief verwurzelt: Während andere Übersetzer:innen durch Zufälle in die Branche finden, wusste Weiler schon mit knapp zwanzig, dass er Literatur übersetzen wollte. Also studierte er Fachübersetzen in Leipzig – allerdings erst, nachdem er sich bei der Studienberatung versichert hatte, dass die dort gelehrten Methoden auch für das Literaturübersetzen relevant sein würden. Dass Literaturübersetzen überhaupt eine mögliche Karriereoption war, lebte ihm sein Onkel Hans Hermann vor, der sich an Shakespeare-Zitaten abarbeitete.
Auch Sprachen lagen ihm schon immer. Bereits zu Schulzeiten verbrachte er dank eines Workcamp-Flyers Zeit in Belarus, wo er nach dem Abitur seinen Zivildienst in einem staatlichen Behindertenheim in Minsk absolvierte und Russisch nicht nur durch Privatstunden, sondern vor allem auf der Straße lernte. Seine Zweitsprache an der Uni, Polnisch, wählte er, weil er ein zweites Hauptfach brauchte. „Es hätte auch Tschechisch werden können,“ erinnert er sich. Während des Studiums ging er nach St. Petersburg, für Polen blieb keine Zeit. In seiner Milch rührend resümiert er: „Mein aktives Polnisch ist wesentlich schlechter als mein Russisch.“
Als Polnisch-Übersetzer ist Thomas Weiler dennoch sehr gefragt, seit er auf die „Kinderbuchschiene“ geraten ist. Nach dem Übersetzungsstudium machte er sich selbstständig und hielt sich mit allen möglichen Aufträgen über Wasser – er übersetzte Sachtexte, Beiträge in Anthologien und Essays. Durch Zufall und über Kollegen erhielt er seinen ersten Auftrag für eine Kinderbuchübersetzung. Und wer gute Arbeit leistet, wird bekanntlich weiter angefragt. Später übersetzte er Piotr Sochas Bienen, das 2017 den Jugendliteraturpreis erhielt, und das erfolgreiche Alle-Welt-Landkartenbuch für den Moritz Verlag.
Vom Übersetzen könne er inzwischen leben, berichtet er. Wichtig seien aber auch „die Dinge drumherum.“ Schon während des Studiums nahm er regelmäßig an Werkstätten teil, heute leitet er sie selbst. Eine Zeit lang organisierte er das Übersetzungszentrum auf der Leipziger Buchmesse mit, noch immer moderiert er Veranstaltungen und dolmetscht seine eigenen Autoren. In seinem Arbeitsalltag wechseln sich die oft lukrativeren Kinderbuchübersetzungen mit anspruchsvoller Belletristik ab. Zum Zeitpunkt unseres Treffens bereitet er gerade seine Antrittsvorlesung für die Schlegel-Gastprofessur für Poetik der Übersetzung an der FU Berlin vor. Worum es dabei genau gehen wird, möchte er noch nicht verraten; dennoch sieht er es als eine gute Gelegenheit zur „Weiterbildung.“ Das Video seiner Antrittsvorlesung ist inzwischen auf dem Youtube-Kanal des Übersetzerfonds verfügbar.
Weiler wirkt stets entspannt und unaufgeregt, aber es zeichnet sich in seiner Biographie eine gewisse Hartnäckigkeit ab, die man braucht, um als Übersetzer erfolgreich zu sein. Zum Beispiel, wenn er erzählt, wie er sich seine erste richtige Literaturübersetzung selbst gesucht hat und mit dem Manuskript auf die Leipziger Buchmesse gegangen ist, um Verlage abzuklopfen. Dieselbe Ausdauer zeigt sich auch bei Europas Hunden, das bereits 2017 im Original erschien. Literatur aus Belarus war auf dem deutschen Buchmarkt noch nie besonders gefragt. Die Lage für Übersetzer:innen aus dem Russischen sei momentan schwierig, sagt er: „Die Sprache gilt als belastet und die Verlage schauen im Moment sehr genau, was sie einkaufen.“ Er selbst versuche schon lange, Raum zu schaffen für andere Stimmen, aber es sei oft mühsam und das Interesse selten von Dauer.
Mit seiner Kunstsprache Balbuta habe Alhierd Bacharevič, der momentan in Hamburg lebt und oft gemeinsam mit seinem Übersetzer auf Lesereise geht, Weiler zufolge eine Sprache schaffen wollen, die „rein und unbelastet, frei von Diskriminierungen“ sei. Weiler hat Balbuta im Deutschen weitgehend im Original übernommen und lediglich einige grammatische Formen leicht angepasst, um sie deutschsprachigen Leser:innen zugänglicher zu machen. Es sind wohl genau solche Details, so scheint es, die ihn am meisten begeistern. Tatsächlich ist es das „Am-Schreibtisch-Sitzen“, das ihm an seiner Arbeit am besten gefalle.
Und was genau macht er, wenn er am Schreibtisch sitzt? Bevor er mit dem Übersetzen beginnt, liest er das Original sorgfältig durch. Schon im ersten Durchgang sorgt er dafür, dass wenig „offen bleibt“ und entwickelt Lösungsvorschläge. In den folgenden Durchgängen ändert sich meist nur noch wenig. Beim Übersetzen entsteht für ihn ganz eindeutig „etwas Eigenes“, erklärt er: „Die Inhalte sind vorgegeben, aber die passende Form im Deutschen für diese Inhalte zu finden – das ist meine kreative Leistung. Wenn ich eine Lesung mache, dann lese ich aus meinem Text.“
Momentan sieht es für Übersetzer:innen – vor allem für diejenigen, die ohnehin um jeden schlecht bezahlten Auftrag kämpfen – allerdings wenig rosig aus. Während identitätspolitische Fragen die Übersetzerbranche vor ein paar Jahren aufmischten, ist es nun die textgenerative KI, die zu einer echten Konkurrenz für Übersetzende zu werden scheint. Thomas Weiler beobachtet das Ganze jedoch angenehm gelassen. Die Debatten rund um maschinelles Übersetzen kenne er noch aus seinem Fachübersetzenstudium; schon damals kam die Frage auf, erinnert er sich, ob sich das überhaupt noch lohne. Für das Literaturübersetzen hat er jedoch Hoffnung: „Je standardisierter die Texte sind, desto einfacher lässt sich KI einsetzen. Ich denke aber, dass es weiterhin ein Publikum gibt, das sich für die sprachliche Gestaltung von Texten interessieren wird.“
Thomas Weiler wirkt in der Hinsicht nicht naiv, vermutlich ist es sein immer wieder durchschimmernder Optimismus, der ihm zugutekommt und ihn entspannt in die Zukunft blicken lässt. „Heute wird viel mehr über Übersetzungen geschrieben und gesprochen als zu der Zeit, als ich angefangen habe,“ erzählt er und beginnt, verschiedene Magazine und Initiativen aufzuzählen. Oft komme er gar nicht hinterher, alles, was derzeit über das Übersetzen geschrieben wird, zu lesen. Fest steht: „Es ist keine Alternative, zu resignieren oder die Arbeit sein zu lassen.“