Ver­lo­re­ne Kindheit

Im Debütroman der neapolitanischen Anwältin Francesca Maria Benvenuto erzählt ein straffälliger Jugendlicher aus dem Gefängnis heraus. Christine Ammann hat den ungewöhnlichen Tonfall der Erzählung gekonnt ins Deutsche gebracht, findet unsere Rezensentin. Von

Cover von Francesca Maria Benvenutos Roman "Dieses Meer, dieses unerbitterliche Meer", im Hintergrund eine Steinmauer
"Dieses Meer, dieses unerbittliche Meer". Hintergrundbild: Paulina Milde-Jachowska via Unsplash.

Wo beginnt man am bes­ten mit einer Buch­be­spre­chung? Genau, beim Titel. Die­ses Meer, die­ses uner­bitt­li­che Meer heißt der Debüt­ro­man von Fran­ce­s­ca Maria Ben­ven­uto in der deut­schen Über­set­zung von Chris­ti­ne Ammann. Im ita­lie­ni­schen Ori­gi­nal heißt er „L’amore ass­a­je“, zu Deutsch etwa „Viel Lie­be“. Genau­er gesagt im nea­po­li­ta­ni­schen Ori­gi­nal, denn sowohl Roman als auch Autorin sind in Nea­pel behei­ma­tet. Der Kunst­mann Ver­lag hat ver­mut­lich zu Recht befun­den, dass damit auf Deutsch kein Blu­men­topf zu gewin­nen wäre, und sich des­halb bei der Titel­fin­dung für ein ande­res zen­tra­les Motiv ent­schie­den – das Meer.

Zeno, der 15-jäh­ri­ge Prot­ago­nist, sitzt näm­lich im Jahr 1991 auf der Gefäng­nis­in­sel Nis­ida ein, umringt vom Meer. Das emp­fin­det er als beson­ders har­te Stra­fe, denn was hat man schon vom Meer, wenn man noch nicht ein­mal dar­in baden kann? Und über­haupt erscheint ihm die­ses Meer als ziem­lich blö­der Ange­ber, wie es sich da unend­lich vor ihm aus­brei­tet, und das, obwohl es eigent­lich zu gar nichts nüt­ze ist, nicht mal sein Was­ser kann man trinken.

Zeno hat jeman­den erschos­sen, Miche­le, den Nach­na­men kennt er nicht. Damit ist er dem gleich­alt­ri­gen Jun­gen zuvor­ge­kom­men, der den Auf­trag hat­te, ihn zu ermor­den. Das hat mit Zenos Job zu tun, denn der 15-Jäh­ri­ge gehört zu den in Nea­pel „Baby­gangs“ genann­ten, min­der­jäh­ri­gen Gangs­tern, die mit ihren Motor­rol­lern durch die Stadt crui­sen und für ihre Auf­trag­ge­ber Dro­gen ver­ti­cken und Raub­über­fäl­le bege­hen. Min­der­jäh­rig müs­sen sie des­halb sein, weil sie so unter das Jugend­straf­recht fal­len. Auch Zeno hat mit zehn Jah­ren ange­fan­gen, Dro­gen zu ver­kau­fen und Tou­ris­ten aus­zu­rau­ben. Ein­mal hat er auch für sei­ne Freun­din Nata­li­na eine Gold­ket­te geklaut. Zeno stammt aus dem „Pro­blem­vier­tel“ For­cel­la, sei­ne Mut­ter geht anschaf­fen, die Schwes­ter Vitto­ria ist zu ihrem Lover gezo­gen, der gewalt­tä­ti­ge Vater sitzt in Nord­ita­li­en im Knast. Und irgend­wer muss ja das Ein­kom­men der Fami­lie sichern, die kri­mi­nel­le Lauf­bahn war vorprogrammiert.

Ohne die Ver­bre­chen zu ver­harm­lo­sen, wirft die Autorin ein Schlag­licht auf die sozia­len Umstän­de, die dazu geführt haben, dass Zeno und sei­ne Zel­len­ge­nos­sen Mari­et­to und Cor­ra­di­no im Knast gelan­det sind – das ist die gro­ße Stär­ke des Romans. Er erzählt Geschich­ten von Armut und Per­spek­tiv­lo­sig­keit, von patri­ar­cha­len Struk­tu­ren und fal­schen Vor­bil­dern, von Hun­ger und häus­li­cher Gewalt. Was in jeder Geschich­te durch­scheint: Letzt­lich sind die­se ver­ur­teil­ten Straf­tä­ter sich selbst über­las­se­ne Kin­der, die sich vor allem danach seh­nen, von ihren Eltern geliebt zu wer­den und ihrem Elend zu entfliehen.

Zenos Ita­lie­nisch-Leh­re­rin im Gefäng­nis Nis­ida, die Pro­fes­so­res­sa, hat ihn beauf­tragt, sei­ne Gedan­ken auf­zu­schrei­ben. Im Gegen­zug legt sie beim Gefäng­nis­di­rek­tor ein gutes Wort für ihn ein, damit er an Weih­nach­ten zwei Tage Aus­gang bekommt und sei­ne Mut­ter besu­chen kann. Also macht er sich ans Schrei­ben, erklärt aber vor­ab, dass die Pro­fes­so­res­sa zwar sei­nen Text kor­ri­gie­ren, aber ein paar Feh­ler drin las­sen muss, damit es auch wirk­lich nach ihm klingt, denn – das wird im Ver­lauf des Tex­tes deut­lich – Zeno nimmt kein Blatt vor den Mund und legt Wert auf höchs­te Authentizität.

Und damit wären wir bei der Spra­che des Romans, der größ­ten­teils aus den Tage­buch­ein­trä­gen Zenos besteht. Zeno spricht Nea­po­li­ta­nisch, was auch in sei­ner Schrift zum Aus­druck kommt. Die Über­set­ze­rin Chris­ti­ne Ammann stand also gleich vor meh­re­ren Her­aus­for­de­run­gen: Sie muss­te im Deut­schen eine Spra­che fin­den, die zu einem 15-Jäh­ri­gen passt, der im Jahr 1991 schreibt, und das feh­ler­haft und in einer der­ben Gos­sen­spra­che mit star­ker dia­lek­ta­ler Einfärbung.

Die der­zeit gän­gi­ge Über­set­zungs­pra­xis in einem sol­chen Fall besteht dar­in, den fremd­spra­chi­gen Dia­lekt nicht mit einem deut­schen Dia­lekt wie­der­zu­ge­ben. Es wür­de schließ­lich selt­sam anmu­ten, wür­de Zeno schwä­belnd über For­cel­la und die Comor­ra sin­nie­ren. Chris­ti­ne Ammann wählt statt­des­sen die über­zeu­gen­de­re Stra­te­gie, sich der deut­schen Jugend­spra­che samt typi­scher Recht­schreib­feh­ler zu bedie­nen (Vor­he­bun­gen von mir):

Sono al car­ce­re mino­ri­le di Nis­ida per­ché ho acciso a uno, cioè l’aggio spa­ra­to. […] Non so come si chi­ama­va quello là che aggio acciso, for­se ten­e­va ’nu bel­lu nome, meglio del mio. […] Quan­do sono arri­va­to qui, […].

Ich sitz im Jugend­knast von Nis­ida, weil ich hab ein umge­bracht – abge­knallt, genau­er gesagt. […] Ich hab kei­ne Ahnung, wie der Typ heißt, den ich umge­bracht hab, viel­leicht hat­te er einen schö­nen Namen, bes­ser wie mei­ner. […] Wie ich hier ange­kom­men bin, […].

Neben feh­len­den Akku­sa­tiv­endun­gen („ein“ statt „einen”) und fal­schen Ver­gleichs­par­ti­keln („wie“ statt „als“) kom­men auch Feh­ler wie „seit“ statt „seid“, „bescheit“ statt „bescheid“, das belieb­te „der Ein­zigs­te“ sowie „sein Bru­der sein Tod“ zum Ein­satz, wodurch Zeno genau so authen­tisch klingt wie im Ori­gi­nal. Hier hat Chris­ti­ne Ammann gan­ze Arbeit geleis­tet, oder wie es in ihrer Über­set­zung öfter für „fati­ca­re“ und „fati­ca“ (beschwer­li­che Arbeit) heißt, sie hat ziem­lich „malocht“.

Eine wei­te­re sprach­li­che Beson­der­heit im Ori­gi­nal ist die höf­li­che Anre­de mit dem „voi“ (ihr) statt „Lei“ (Sie), wie sie in Süd­ita­li­en weit ver­brei­tet ist. Da die­se Form für die brei­te ita­lie­ni­sche Leser­schaft anti­quiert klingt, ent­schei­det sich die Über­set­ze­rin, das „ihr“ als Anre­de bei­zu­be­hal­ten. Das ist zunächst etwas gewöh­nungs­be­dürf­tig, erreicht aber im Deut­schen einen ähn­li­chen Effekt: Es mar­kiert den Spre­cher als jeman­den mit einer regio­na­len, archa­isch klin­gen­den Einfärbung.

Ma voi, pro­fes­so­re’, vi sie­te all­ar­ma­ta per­ché non ci sie­te abitua­ta a ques­te cose.

Aber ihr, Pro­fes­so­res­sa, habt euch echt auf­ge­regt, ihr seit sowas eben nicht gewöhnt.

Hier und da tau­chen jedoch auch Wör­ter auf, die nicht recht zur Aus­drucks­wei­se eines Teen­agers im Jahr 1991 pas­sen wol­len. Da sind zum einen das zu moder­ne Wort „geil“, das eher ab den 2000er-Jah­ren en vogue war, zum ande­ren etwas alt­mo­di­sche Begrif­fe wie „puter­rot“, „Prahl­hans“ oder „Klas­sen­pri­mus“.

Doch abge­se­hen von sol­chen Klei­nig­kei­ten liest sich der Roman flüs­sig und rund, und immer wie­der schei­nen gera­de­zu poe­ti­sche Stel­len auf, wie die­se hier:

Quan­do è sta­to il die­ci di agos­to era la not­te che dove­va­no cade­re le stel­le, ma sen­za impeg­no per­ché tan­to nisci­u­no le obbligava.

Cor­ra­di­no s’è appiz­za­to davan­ti alla fine­s­tra del­la cel­la nos­t­ra per espri­me­re i desi­de­ri, e lui a ste cose ci cre­de assaje.

Guar­da­va, guar­da­va, ma quel­le sta­va­no semp’ là e par­e­va che lo face­va­no apposta!

Io ci aggio fat­to nu poc’ di cum­pa­gnia, per­ché lui sta­va dispiaciuto.

Poi è ven­uto pure Mari­et­to e abbia­mo guar­da­to assie­me per vede­re se face­va­mo pie­tà a qualcuno.

Ma nien­te.

Man­co una feten­te di stel­la ha but­ta­to il sangue.

Che poi, pro­fes­so­re’, quel­le pure quan­do cado­no, ma addò se ne vann’? Sicu­ra­men­te rint’ alle tasche di qual­cu­no che non se l’è ammeritate!

Am zehn­ten August, hat Cor­ra­di­no gesagt, da fal­len die Stern­schnup­pen vom Him­mel, aber nur viel­leicht, das ist kein Muss. 

Aber er hat sich in unse­rer Zel­le vors Fens­ter gehängt, woll­te sich was wün­schen, er glaubt an sowas.

Er hat hoch­ge­starrt, aber die Ster­ne haben sich nicht von der Stel­le gerührt, das haben die doch extra gemacht!

Ich hab ihm ein biss­chen Gesell­schaft geleis­tet, weil er war so enttäuscht.

Auch Mari­et­to ist noch gekom­men und wir haben zusam­men geguckt, ob sich nicht doch einer erbarmt.

Aber nichts.

Nich mal nen Fit­zel­chen von Stern ist tot umgefallen.

Übri­gens Pro­fes­so­res­sa, wo lan­den die über­haupt, wenn einer vom Him­mel fällt? Doch bestimmt in den Taschen von Leu­ten, die das gar nicht ver­dient haben!

Was Zeno im Buch an Gedan­ken zu Papier bringt, ent­hält trotz aller Flü­che und Unein­sich­tig­keit ein tie­fes Ver­ständ­nis für das Leben und das Schick­sal der armen Leu­te, die eigent­lich unver­schul­det der Mafia in die Arme getrie­ben wer­den. Oft nimmt das ein dra­ma­ti­sches Ende – so auch in die­sem Fall. Mehr soll hier aller­dings nicht ver­ra­ten wer­den. Denn die Lek­tü­re des Romans ist sehr zu emp­feh­len, was nicht zuletzt Chris­ti­ne Ammann zu ver­dan­ken ist, die dem Erzäh­ler mit viel Ein­fühl­sam­keit eine auf Deutsch eben­so unver­stell­te, teils kind­lich-nai­ve Stim­me gelie­hen hat, wie im Ori­gi­nal. Einem Jun­gen, des­sen Kind­heit vor­bei ist, ehe sie rich­tig begon­nen hat.

Bis zuletzt hat Zeno die Hoff­nung nicht auf­ge­ge­ben, dass ihn sei­ne Mama – die ihn kein ein­zi­ges Mal im Knast besu­chen kommt – nicht ver­ges­sen hat. Denn genau das geschieht all­zu leicht mit den kri­mi­nel­len Jungs – noch hal­be Kin­der –, die in die­sem Moment hin­ter Git­tern sit­zen und die letzt­lich Opfer ihrer pre­kä­ren Her­kunft sind. Die Gesell­schaft hat sie ver­ges­sen. Des­halb: Lest Fran­ce­s­ca Ben­ven­u­tos Roman, und ent­reißt sie dem Vergessen!

Fran­ce­s­ca Maria Ben­ven­uto | Chris­ti­ne Ammann

Die­ses Meer, die­ses uner­bitt­li­che Meer



Kunst­mann 2024 ⋅ 176 Sei­ten ⋅ 22 EUR

1 Comment

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  1. 1
    Ellen Göppl

    Das klingt wirk­lich nach einer her­aus­for­dern­den (und gelun­ge­nen) Über­set­zung! Vie­len Dank für die Bei­spie­le. Was das Wort „geil“ angeht, kann ich aller­dings bestä­ti­gen, dass wir das als Jugend­li­che ab den spä­ten 80ern viel benutzt haben… natür­lich nicht zur Begeis­te­rung der Erwachsenen!

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