Wo beginnt man am besten mit einer Buchbesprechung? Genau, beim Titel. Dieses Meer, dieses unerbittliche Meer heißt der Debütroman von Francesca Maria Benvenuto in der deutschen Übersetzung von Christine Ammann. Im italienischen Original heißt er „L’amore assaje“, zu Deutsch etwa „Viel Liebe“. Genauer gesagt im neapolitanischen Original, denn sowohl Roman als auch Autorin sind in Neapel beheimatet. Der Kunstmann Verlag hat vermutlich zu Recht befunden, dass damit auf Deutsch kein Blumentopf zu gewinnen wäre, und sich deshalb bei der Titelfindung für ein anderes zentrales Motiv entschieden – das Meer.
Zeno, der 15-jährige Protagonist, sitzt nämlich im Jahr 1991 auf der Gefängnisinsel Nisida ein, umringt vom Meer. Das empfindet er als besonders harte Strafe, denn was hat man schon vom Meer, wenn man noch nicht einmal darin baden kann? Und überhaupt erscheint ihm dieses Meer als ziemlich blöder Angeber, wie es sich da unendlich vor ihm ausbreitet, und das, obwohl es eigentlich zu gar nichts nütze ist, nicht mal sein Wasser kann man trinken.
Zeno hat jemanden erschossen, Michele, den Nachnamen kennt er nicht. Damit ist er dem gleichaltrigen Jungen zuvorgekommen, der den Auftrag hatte, ihn zu ermorden. Das hat mit Zenos Job zu tun, denn der 15-Jährige gehört zu den in Neapel „Babygangs“ genannten, minderjährigen Gangstern, die mit ihren Motorrollern durch die Stadt cruisen und für ihre Auftraggeber Drogen verticken und Raubüberfälle begehen. Minderjährig müssen sie deshalb sein, weil sie so unter das Jugendstrafrecht fallen. Auch Zeno hat mit zehn Jahren angefangen, Drogen zu verkaufen und Touristen auszurauben. Einmal hat er auch für seine Freundin Natalina eine Goldkette geklaut. Zeno stammt aus dem „Problemviertel“ Forcella, seine Mutter geht anschaffen, die Schwester Vittoria ist zu ihrem Lover gezogen, der gewalttätige Vater sitzt in Norditalien im Knast. Und irgendwer muss ja das Einkommen der Familie sichern, die kriminelle Laufbahn war vorprogrammiert.
Ohne die Verbrechen zu verharmlosen, wirft die Autorin ein Schlaglicht auf die sozialen Umstände, die dazu geführt haben, dass Zeno und seine Zellengenossen Marietto und Corradino im Knast gelandet sind – das ist die große Stärke des Romans. Er erzählt Geschichten von Armut und Perspektivlosigkeit, von patriarchalen Strukturen und falschen Vorbildern, von Hunger und häuslicher Gewalt. Was in jeder Geschichte durchscheint: Letztlich sind diese verurteilten Straftäter sich selbst überlassene Kinder, die sich vor allem danach sehnen, von ihren Eltern geliebt zu werden und ihrem Elend zu entfliehen.
Zenos Italienisch-Lehrerin im Gefängnis Nisida, die Professoressa, hat ihn beauftragt, seine Gedanken aufzuschreiben. Im Gegenzug legt sie beim Gefängnisdirektor ein gutes Wort für ihn ein, damit er an Weihnachten zwei Tage Ausgang bekommt und seine Mutter besuchen kann. Also macht er sich ans Schreiben, erklärt aber vorab, dass die Professoressa zwar seinen Text korrigieren, aber ein paar Fehler drin lassen muss, damit es auch wirklich nach ihm klingt, denn – das wird im Verlauf des Textes deutlich – Zeno nimmt kein Blatt vor den Mund und legt Wert auf höchste Authentizität.
Und damit wären wir bei der Sprache des Romans, der größtenteils aus den Tagebucheinträgen Zenos besteht. Zeno spricht Neapolitanisch, was auch in seiner Schrift zum Ausdruck kommt. Die Übersetzerin Christine Ammann stand also gleich vor mehreren Herausforderungen: Sie musste im Deutschen eine Sprache finden, die zu einem 15-Jährigen passt, der im Jahr 1991 schreibt, und das fehlerhaft und in einer derben Gossensprache mit starker dialektaler Einfärbung.
Die derzeit gängige Übersetzungspraxis in einem solchen Fall besteht darin, den fremdsprachigen Dialekt nicht mit einem deutschen Dialekt wiederzugeben. Es würde schließlich seltsam anmuten, würde Zeno schwäbelnd über Forcella und die Comorra sinnieren. Christine Ammann wählt stattdessen die überzeugendere Strategie, sich der deutschen Jugendsprache samt typischer Rechtschreibfehler zu bedienen (Vorhebungen von mir):
Sono al carcere minorile di Nisida perché ho acciso a uno, cioè l’aggio sparato. […] Non so come si chiamava quello là che aggio acciso, forse teneva ’nu bellu nome, meglio del mio. […] Quando sono arrivato qui, […].
Ich sitz im Jugendknast von Nisida, weil ich hab ein umgebracht – abgeknallt, genauer gesagt. […] Ich hab keine Ahnung, wie der Typ heißt, den ich umgebracht hab, vielleicht hatte er einen schönen Namen, besser wie meiner. […] Wie ich hier angekommen bin, […].
Neben fehlenden Akkusativendungen („ein“ statt „einen”) und falschen Vergleichspartikeln („wie“ statt „als“) kommen auch Fehler wie „seit“ statt „seid“, „bescheit“ statt „bescheid“, das beliebte „der Einzigste“ sowie „sein Bruder sein Tod“ zum Einsatz, wodurch Zeno genau so authentisch klingt wie im Original. Hier hat Christine Ammann ganze Arbeit geleistet, oder wie es in ihrer Übersetzung öfter für „faticare“ und „fatica“ (beschwerliche Arbeit) heißt, sie hat ziemlich „malocht“.
Eine weitere sprachliche Besonderheit im Original ist die höfliche Anrede mit dem „voi“ (ihr) statt „Lei“ (Sie), wie sie in Süditalien weit verbreitet ist. Da diese Form für die breite italienische Leserschaft antiquiert klingt, entscheidet sich die Übersetzerin, das „ihr“ als Anrede beizubehalten. Das ist zunächst etwas gewöhnungsbedürftig, erreicht aber im Deutschen einen ähnlichen Effekt: Es markiert den Sprecher als jemanden mit einer regionalen, archaisch klingenden Einfärbung.
Ma voi, professore’, vi siete allarmata perché non ci siete abituata a queste cose.
Aber ihr, Professoressa, habt euch echt aufgeregt, ihr seit sowas eben nicht gewöhnt.
Hier und da tauchen jedoch auch Wörter auf, die nicht recht zur Ausdrucksweise eines Teenagers im Jahr 1991 passen wollen. Da sind zum einen das zu moderne Wort „geil“, das eher ab den 2000er-Jahren en vogue war, zum anderen etwas altmodische Begriffe wie „puterrot“, „Prahlhans“ oder „Klassenprimus“.
Doch abgesehen von solchen Kleinigkeiten liest sich der Roman flüssig und rund, und immer wieder scheinen geradezu poetische Stellen auf, wie diese hier:
Quando è stato il dieci di agosto era la notte che dovevano cadere le stelle, ma senza impegno perché tanto nisciuno le obbligava.
Corradino s’è appizzato davanti alla finestra della cella nostra per esprimere i desideri, e lui a ste cose ci crede assaje.
Guardava, guardava, ma quelle stavano semp’ là e pareva che lo facevano apposta!
Io ci aggio fatto nu poc’ di cumpagnia, perché lui stava dispiaciuto.
Poi è venuto pure Marietto e abbiamo guardato assieme per vedere se facevamo pietà a qualcuno.
Ma niente.
Manco una fetente di stella ha buttato il sangue.
Che poi, professore’, quelle pure quando cadono, ma addò se ne vann’? Sicuramente rint’ alle tasche di qualcuno che non se l’è ammeritate!
Am zehnten August, hat Corradino gesagt, da fallen die Sternschnuppen vom Himmel, aber nur vielleicht, das ist kein Muss.
Aber er hat sich in unserer Zelle vors Fenster gehängt, wollte sich was wünschen, er glaubt an sowas.
Er hat hochgestarrt, aber die Sterne haben sich nicht von der Stelle gerührt, das haben die doch extra gemacht!
Ich hab ihm ein bisschen Gesellschaft geleistet, weil er war so enttäuscht.
Auch Marietto ist noch gekommen und wir haben zusammen geguckt, ob sich nicht doch einer erbarmt.
Aber nichts.
Nich mal nen Fitzelchen von Stern ist tot umgefallen.
Übrigens Professoressa, wo landen die überhaupt, wenn einer vom Himmel fällt? Doch bestimmt in den Taschen von Leuten, die das gar nicht verdient haben!
Was Zeno im Buch an Gedanken zu Papier bringt, enthält trotz aller Flüche und Uneinsichtigkeit ein tiefes Verständnis für das Leben und das Schicksal der armen Leute, die eigentlich unverschuldet der Mafia in die Arme getrieben werden. Oft nimmt das ein dramatisches Ende – so auch in diesem Fall. Mehr soll hier allerdings nicht verraten werden. Denn die Lektüre des Romans ist sehr zu empfehlen, was nicht zuletzt Christine Ammann zu verdanken ist, die dem Erzähler mit viel Einfühlsamkeit eine auf Deutsch ebenso unverstellte, teils kindlich-naive Stimme geliehen hat, wie im Original. Einem Jungen, dessen Kindheit vorbei ist, ehe sie richtig begonnen hat.
Bis zuletzt hat Zeno die Hoffnung nicht aufgegeben, dass ihn seine Mama – die ihn kein einziges Mal im Knast besuchen kommt – nicht vergessen hat. Denn genau das geschieht allzu leicht mit den kriminellen Jungs – noch halbe Kinder –, die in diesem Moment hinter Gittern sitzen und die letztlich Opfer ihrer prekären Herkunft sind. Die Gesellschaft hat sie vergessen. Deshalb: Lest Francesca Benvenutos Roman, und entreißt sie dem Vergessen!