Die Inspirationsquellen für Schreibende sind bekanntermaßen vielfältig. Im Fall der diesjährigen Booker-Prize-Gewinnerin Samantha Harvey könnte man vermuten, sie habe sich selbst einen Writing Prompt gesucht, also eine Art Denkanstoß, wie das in Schreibkursen – Harvey selbst hat in kreativem Schreiben promoviert – manchmal so üblich ist. Wie dieser Prompt ungefähr ausgesehen haben könnte, verrät die Autorin in einem Interview auf der Booker-Prize-Webseite. Dort berichtet sie: „I wanted to write about our human occupation of low earth orbit for the last quarter of a century – not as sci-fi but as realism. Could I evoke the beauty of that vantage point with the care of a nature writer?“
Das Resultat ist ihr Roman Umlaufbahnen, übersetzt von Julia Wolf, der glücklicherweise nur wenige Tage nach Verleihung des prestigeträchtigen Preises auf Deutsch erschien. In Großbritannien hatte sich das knapp 150-Seiten lange Buch (die deutsche Fassung ist etwas länger) schon vor der Verleihung gut verkauft. Die Auszeichnung dürfte die Nachfrage weiter ankurbeln.
Dabei ist Umlaufbahnen nur bedingt ein Page Turner im klassischen Sinne. In Harveys All passiert nicht besonders viel: der Roman begleitet sechs Astronaut:innen, die auf einer Raumstation leben und in dieser genau sechzehnmal innerhalb von 24 Stunden die Erde umrunden. Harvey stellt sich vor, wie so ein Tag im Detail wohl aussehen könnte und vermengt Zahlen und Fakten – was die Astronauten essen, welche Daten sie sammeln, wie weit sie von der Erde entfernt sind – mit metaphysischen Überlegungen und Gedanken.
Warum hat dieses Buch, an dessen Figuren man sich kaum erinnern dürfte, nun einen der wichtigsten Literaturpreise im englischsprachigen Raum gewonnen? Der Jury-Vorsitzende Edmund de Waal erklärt den Entscheidungsprozess wie folgt: „we were determined to find a book that moved us.“ Und genau diesem Anspruch wird Harvey gerecht. Umlaufbahnen berührt – nicht durch seinen „Plot“, sondern weil Harvey die Leser:innen mit bisweilen unangenehmen Wahrheiten konfrontiert: der Einsamkeit des menschlichen Daseins im Universum, der Belanglosigkeit der eigenen Existenz und der Banalität menschlicher Konflikte angesichts der Endlichkeit unseres Sonnensystems.
Irgendwann wird es uns alle nicht mehr geben. Und was bleibt dann? Ein Planet, der von der Gier und dem Größenwahn der Menschen zugrunde gewirtschaftet wurde? Harveys Astronaut:innen fühlen sich, obgleich sie ihre Mission nie infrage stellen, hin und wieder klein und unbedeutend. Wer einmal bewusst aus einem Flugzeugfenster geschaut hat, wird das Gefühl nachvollziehen können. Aber Harvey geht noch einen Schritt weiter – es gibt Passagen, die deutliche Kritik an geopolitischen Ambitionen und menschlicher Selbstüberschätzung durchblicken lassen. Wer die folgenden Sätze liest, dürfte unwillkürlich an einen bestimmten Multimilliardär denken, der die Ausweitung seiner Macht nicht auf das Internet oder gar den Erdboden beschränkt:
Because who can look at man’s neurotic assault on the planet and find it beautiful? Man’s hubris. A hubris so almighty it’s matched only by his stupidity. And these phallic ships thrust into space are surely the most hubristic of them all, the totems of a species gone mad with self-love.
Denn wie kann man den neurotischen Angriff der Menschen auf den Planeten beobachten und schön finden? Die menschliche Hybris. Derart mächtig, dass nur die menschliche Dummheit mithalten kann. Und die phallischen Raumschiffe, die ins All gestoßen werden, sind eindeutig die größte Anmaßung überhaupt, Totemfiguren einer Spezies, die vor lauter Selbstverliebtheit verrückt geworden ist.
Dass man gerade jetzt mit Umlaufbahnen einen Roman prämiert, der den Menschen so deutlich einen Spiegel vorhält, dürfte also als politisches Statement gewertet werden.
Ein weiterer Grund für die Auszeichnung ist Harveys Umgang mit Sprache. Die Autorin nimmt die selbst auferlegte Herausforderung ernst, das Universum ganz im Sinne des Nature Writings zum Erklingen zu bringen. „[Those] transporting riffs, those fine rhapsodies!,“ schwärmt Joshua Ferris in der NY Times, während Adam Soboczynski in der ZEIT verkündet, dass der Roman von „seltener Eleganz und sprachlicher Schönheit“ sei. Aber was bedeutet das eigentlich? Und wie kommt man zu diesem Schluss? Die Besprechung eines Buchs, das nicht auf Plot, sondern auf Sprache setzt, kann gar nicht ohne Übersetzungskritik auskommen. Spätestens jetzt ist also ein genauer Blick in die Übersetzung von Julia Wolf notwendig.
Wie Eleganz für die englische Sprache definiert wird, unterscheidet sich an vielen Stellen doch recht grundlegend von den Maßstäben für die deutsche Sprache. Julia Wolf hat für diesen Umstand ein feines Gespür, das die an vielen Stellen notwendige Emanzipation vom Original bedingt, und ab und an dazu führt, dass sie mitunter recht eigenwillige Entscheidungen trifft. Allein die Übersetzung des ersten Satzes dürfte das deutlich vor Augen führen:
Rotating about the earth in their spacecraft they are so together, and so alone, that even their thoughts, their internal mythologies, at times convene.
So einsam sind sie in ihrem um die Erde kreisenden Raumschiff und gleichzeitig einander so nah, dass ihre Gedanken, ihre individuellen Mythologien, bisweilen zusammenfinden.
Der Satz zeigt einen grundsätzlichen, immer weiter ausgeführten Widerspruch des Romans auf: Die Austronaut:innen im All leben zusammen auf engstem Raum, aber eigentlich sind sie einander in vielerlei Hinsicht fremd. Außerdem befinden sie sich in einer menschenfeindlichen Umgebung, weil jemand sie dorthin entsandt hat; sie sind also Teil eines größeren Ganzen. Gleichzeitig bietet die Distanz den Raum zur Reflektion.
Julia Wolfs Satz beginnt mit „so einsam“. In Harveys Original kommt der Einschub „so alone“ jedoch an einer völlig anderen Stelle. Was macht das mit dem Text? Das Original setzt den Fokus im ersten Teil des Satzes auf die Beschreibung des Raumschiffs. Das „rotating about the earth in their spacecraft“ dürfte im Kopf vieler Leser:innen sofort ein klares Bild erzeugen, womöglich eines, das man aus den gängigen Weltraum-Filmklassikern kennt. Erst dann erfahren wir durch das „they“, dass es dort wohl mehrere Personen gibt, die sowohl „together“ als auch „alone“ sind. Bei Harvey sind diese beiden Wörter ganz nah beieinander. Der Einschub des „alone“ relativiert das „together“, er gibt ihm eine melancholische Note, die sich durch den Roman zieht.
Die Übersetzung schafft innerhalb des Satzes größtmögliche Distanz zwischen der Einsamkeit und dem Gefühl der Nähe. Im Deutschen werden aber beide Zustände deutlicher auf dieselbe Stufe gehoben, indem ein „und gleichzeitig“ eingefügt wird, wo im Englischen lediglich ein „and“ steht. Harveys Originalsatz lässt offen, dass es sich bei dem Roman vielleicht doch um ein Weltraumabenteuer handeln könnte. Die Übersetzerin, die mit dem Original vertraut ist, weiß, dass es darum aber im Kern nicht gehen wird; ihr eigener Spin liegt bereits über dem Text. Streng genommen ist dieser erste Satz, obgleich hervorstechend, nicht besonders elegant. Der Beginn mutet etwas unvermittelt an, als hätte man den eigentlichen Anfang verpasst oder, wenn man es laut liest, als würde jemand gerade zu einer Ansprache ansetzen.
Während der Satzbau an der zitierten Stelle den Sinn etwas verschiebt, dient die übersetzerische Neuordnung einzelner Bauteile an vielen Stellen tatsächlich primär der Eleganz. Wenn drei Sätze im Original hintereinander mit „they“ beginnen, dann mag das für englische Leser:innen angenehm rhapsodisch klingen – im Deutschen würde es negativ auffallen und wäre wohl kaum Inbegriff sprachlichen Könnens:
They look down and they understand why it’s called Mother Earth. They all feel it from time to time. They all make an association between the earth and a mother, and this in turn makes them feel like children.
Bei ihrem Blick auf die Erde verstehen sie, warum man sie auch Mutter Erde nennt. Von Zeit zu Zeit spüren sie es alle, stellen diese Verbindung zwischen der Erde und einer Mutter her und werden somit selbst zu Kindern.
Aus drei Sätzen macht die Übersetzerin zwei. Das passiert oft in dieser Übersetzung, die an einigen Stellen merklich länger ist als das Original, weil Julia Wolf Subjekte und Prädikate dort ergänzt, wo im Original darauf verzichtet wurde, und Gerundien in Nebensätze verwandelt, die den Text voller werden lassen.
Das Beispiel steht nicht dafür, dass im Deutschen keine Wortwiederholungen möglich sind, aber sie kommen an anderen Stellen zu tragen und werden anders eingesetzt als im Englischen. Zu erkennen, wann solche Wiederholungen im Deutschen effektiver sind, ist Teil übersetzerischer Überlegungen und Julia Wolf versteht ihren Job. Die Erde ist als „gewaltige Mutter durch die Glaskuppel immer in Sicht, immer präsent“, heißt es ein wenig später. Im Englischen wird dasselbe ausgesagt, aber mit anderen Mitteln: „Their towering parent ever-present through the dome of glass.“
Doch nicht nur der Satzbau ist entscheidend: Auch auf Wortebene äußert sich die Literarizität des Textes – im Deutschen zuweilen eindeutiger als im Englischen. Aus „blaze of suited-booted glory“ wird eine „Feuersbrunst von geschniegelter und gestriegelter Pracht“ und ein „weird hot longing“ wird zu einem „seltsamen, stürmischen Verlangen“. Es gibt eine Passage, die einen glauben lässt, man würde der Autorin und ihrer Übersetzerin beim Schreiben über die Schulter schauen:
All the moist warm air evaporating off the equatorial oceans and pulled in an arc to the poles, cooling, sinking, tugged back down in a westward curve. Ceaseless movement. Although, these words – drag, pull, tug – they describe the force of this movement but not its grace, not its – what? Its synchronicity/fluidity/harmony. None of those is quite the word.
All die feuchte, warme Luft, die über den Äquatorialmeeren verdampft und in einem Bogen zu den Polen gezogen wird, sich abkühlt, absinkt, in einer nach Westen führenden Kurve wieder nach unten gezupft wird. Ständige Bewegung. Auch wenn diese Worte – zerren, ziehen, zupfen – zwar die Kraft der Bewegung beschreiben, aber nicht die Anmut, nicht die – was? Die Synchronizität/Fluidität/Harmonie. Keines dieser Worte ist das richtige.
Hier wird nach Worten für etwas gesucht, das die wenigsten von uns wohl mit eigenen Augen erleben dürfen. Und die Passage gibt Einblick in das Dilemma, das Harvey beschäftigt haben muss: Wie die technischen Aspekte dieser Unternehmung einbauen, ohne das Poetische einzubüßen? Auch an dieser Stelle glänzt die Übersetzung – zerren, ziehen, zupfen: hart klingende Worte, die so eingesetzt jedoch zum Flair des Textes beitragen.
Nicht alles klingt in Umlaufbahnen elegant: ein Astronaut muss beispielsweise „neun Monate auf die Erde hinabglotzen“ (nine months of this earthward gaping), die Erde ist an anderer Stelle „ein gottgegebener Klumpen“ (a God-given clod) und es ist klar, dass „diese ganze Chose“ („the whole thing“, gemeint sind die Galaxien) irgendwann explodieren wird. Solche ruppigen Wörter durchbrechen manche geschliffenen Sätze – und das sicher nicht unabsichtlich. Das Leben in Harveys All ist „brutal“, gar „unmenschlich“, und auf die Erde durch ein kleines Fenster zu blicken, nicht immer nur beschaulich. Folglich wird auf Wortebene hin und wieder zu Tricks gegriffen, um den Text vor allzu viel Weltschmerz zu bewahren.
In dem Interview hat Harvey übrigens die Essenz ihrer sprachlichen Agenda verraten. Sie erzählt an einer Stelle, was sie an den Romanen von George Eliot, Marilynne Robinson oder Yasunari Kawabata besonders schätzt: „they’re all simple tales told with utmost word-perfect elegance.“ Dass damit im Deutschen etwas anderes als im Englischen gemeint ist, zeigt Julia Wolfs Übersetzung von Umlaufbahnen sehr eindrücklich. Man könnte meinen, auch die Übersetzerin hätte sich einen Prompt gesucht und wäre bei diesem Zitat gelandet. Das Ergebnis spricht für sich.