In eige­nen Sphären

In ihrem Roman „Umlaufbahnen“ hinterfragt Samantha Harvey die menschliche Existenz im Universum – und erhielt dafür den Booker Prize. Nun erschien die deutsche Übersetzung von Julia Wolf. Von

Hintergrundbild: Daniel Olah via Unsplash.

Die Inspi­ra­ti­ons­quel­len für Schrei­ben­de sind bekann­ter­ma­ßen viel­fäl­tig. Im Fall der dies­jäh­ri­gen Boo­ker-Pri­ze-Gewin­ne­rin Saman­tha Har­vey könn­te man ver­mu­ten, sie habe sich selbst einen Wri­ting Prompt gesucht, also eine Art Denk­an­stoß, wie das in Schreib­kur­sen – Har­vey selbst hat in krea­ti­vem Schrei­ben pro­mo­viert – manch­mal so üblich ist. Wie die­ser Prompt unge­fähr aus­ge­se­hen haben könn­te, ver­rät die Autorin in einem Inter­view auf der Boo­ker-Pri­ze-Web­sei­te. Dort berich­tet sie: „I wan­ted to wri­te about our human occu­pa­ti­on of low earth orbit for the last quar­ter of a cen­tu­ry – not as sci-fi but as rea­lism. Could I evo­ke the beau­ty of that van­ta­ge point with the care of a natu­re writer?“

Das Resul­tat ist ihr Roman Umlauf­bah­nen, über­setzt von Julia Wolf, der glück­li­cher­wei­se nur weni­ge Tage nach Ver­lei­hung des pres­ti­ge­träch­ti­gen Prei­ses auf Deutsch erschien. In Groß­bri­tan­ni­en hat­te sich das knapp 150-Sei­ten lan­ge Buch (die deut­sche Fas­sung ist etwas län­ger) schon vor der Ver­lei­hung gut ver­kauft. Die Aus­zeich­nung dürf­te die Nach­fra­ge wei­ter ankurbeln. 

Dabei ist Umlauf­bah­nen nur bedingt ein Page Tur­ner im klas­si­schen Sin­ne. In Har­veys All pas­siert nicht beson­ders viel: der Roman beglei­tet sechs Astronaut:innen, die auf einer Raum­sta­ti­on leben und in die­ser genau sech­zehn­mal inner­halb von 24 Stun­den die Erde umrun­den. Har­vey stellt sich vor, wie so ein Tag im Detail wohl aus­se­hen könn­te und ver­mengt Zah­len und Fak­ten – was die Astro­nau­ten essen, wel­che Daten sie sam­meln, wie weit sie von der Erde ent­fernt sind – mit meta­phy­si­schen Über­le­gun­gen und Gedanken.

War­um hat die­ses Buch, an des­sen Figu­ren man sich kaum erin­nern dürf­te, nun einen der wich­tigs­ten Lite­ra­tur­prei­se im eng­lisch­spra­chi­gen Raum gewon­nen? Der Jury-Vor­sit­zen­de Edmund de Waal erklärt den Ent­schei­dungs­pro­zess wie folgt: „we were deter­mi­ned to find a book that moved us.“ Und genau die­sem Anspruch wird Har­vey gerecht. Umlauf­bah­nen berührt – nicht durch sei­nen „Plot“, son­dern weil Har­vey die Leser:innen mit bis­wei­len unan­ge­neh­men Wahr­hei­ten kon­fron­tiert: der Ein­sam­keit des mensch­li­chen Daseins im Uni­ver­sum, der Belang­lo­sig­keit der eige­nen Exis­tenz und der Bana­li­tät mensch­li­cher Kon­flik­te ange­sichts der End­lich­keit unse­res Sonnensystems.

Irgend­wann wird es uns alle nicht mehr geben. Und was bleibt dann? Ein Pla­net, der von der Gier und dem Grö­ßen­wahn der Men­schen zugrun­de gewirt­schaf­tet wur­de? Har­veys Astronaut:innen füh­len sich, obgleich sie ihre Mis­si­on nie infra­ge stel­len, hin und wie­der klein und unbe­deu­tend. Wer ein­mal bewusst aus einem Flug­zeug­fens­ter geschaut hat, wird das Gefühl nach­voll­zie­hen kön­nen. Aber Har­vey geht noch einen Schritt wei­ter – es gibt Pas­sa­gen, die deut­li­che Kri­tik an geo­po­li­ti­schen Ambi­tio­nen und mensch­li­cher Selbst­über­schät­zung durch­bli­cken las­sen. Wer die fol­gen­den Sät­ze liest, dürf­te unwill­kür­lich an einen bestimm­ten Mul­ti­mil­li­ar­där den­ken, der die Aus­wei­tung sei­ner Macht nicht auf das Inter­net oder gar den Erd­bo­den beschränkt:

Becau­se who can look at man’s neu­ro­tic assault on the pla­net and find it beau­tiful? Man’s hub­ris. A hub­ris so almigh­ty it’s matched only by his stu­pi­di­ty. And the­se phal­lic ships thrust into space are sure­ly the most hub­ristic of them all, the totems of a spe­ci­es gone mad with self-love.

Denn wie kann man den neu­ro­ti­schen Angriff der Men­schen auf den Pla­ne­ten beob­ach­ten und schön fin­den? Die mensch­li­che Hybris. Der­art mäch­tig, dass nur die mensch­li­che Dumm­heit mit­hal­ten kann. Und die phal­li­schen Raum­schif­fe, die ins All gesto­ßen wer­den, sind ein­deu­tig die größ­te Anma­ßung über­haupt, Totem­fi­gu­ren einer Spe­zi­es, die vor lau­ter Selbst­ver­liebt­heit ver­rückt gewor­den ist.

Dass man gera­de jetzt mit Umlauf­bah­nen einen Roman prä­miert, der den Men­schen so deut­lich einen Spie­gel vor­hält, dürf­te also als poli­ti­sches State­ment gewer­tet werden.

Ein wei­te­rer Grund für die Aus­zeich­nung ist Har­veys Umgang mit Spra­che. Die Autorin nimmt die selbst auf­er­leg­te Her­aus­for­de­rung ernst, das Uni­ver­sum ganz im Sin­ne des Natu­re Wri­tin­gs zum Erklin­gen zu brin­gen. „[Tho­se] trans­port­ing riffs, tho­se fine rhap­so­dies!,“ schwärmt Joshua Fer­ris in der NY Times, wäh­rend Adam Soboc­zyn­ski in der ZEIT ver­kün­det, dass der Roman von „sel­te­ner Ele­ganz und sprach­li­cher Schön­heit“ sei. Aber was bedeu­tet das eigent­lich? Und wie kommt man zu die­sem Schluss? Die Bespre­chung eines Buchs, das nicht auf Plot, son­dern auf Spra­che setzt, kann gar nicht ohne Über­set­zungs­kri­tik aus­kom­men. Spä­tes­tens jetzt ist also ein genau­er Blick in die Über­set­zung von Julia Wolf notwendig.

Wie Ele­ganz für die eng­li­sche Spra­che defi­niert wird, unter­schei­det sich an vie­len Stel­len doch recht grund­le­gend von den Maß­stä­ben für die deut­sche Spra­che. Julia Wolf hat für die­sen Umstand ein fei­nes Gespür, das die an vie­len Stel­len not­wen­di­ge Eman­zi­pa­ti­on vom Ori­gi­nal bedingt, und ab und an dazu führt, dass sie mit­un­ter recht eigen­wil­li­ge Ent­schei­dun­gen trifft. Allein die Über­set­zung des ers­ten Sat­zes dürf­te das deut­lich vor Augen führen:

Rota­ting about the earth in their space­craft they are so tog­e­ther, and so alo­ne, that even their thoughts, their inter­nal mytho­lo­gies, at times convene. 

So ein­sam sind sie in ihrem um die Erde krei­sen­den Raum­schiff und gleich­zei­tig ein­an­der so nah, dass ihre Gedan­ken, ihre indi­vi­du­el­len Mytho­lo­gien, bis­wei­len zusammenfinden.

Der Satz zeigt einen grund­sätz­li­chen, immer wei­ter aus­ge­führ­ten Wider­spruch des Romans auf: Die Austronaut:innen im All leben zusam­men auf engs­tem Raum, aber eigent­lich sind sie ein­an­der in vie­ler­lei Hin­sicht fremd. Außer­dem befin­den sie sich  in einer men­schen­feind­li­chen Umge­bung, weil jemand sie dort­hin ent­sandt hat; sie sind also Teil eines grö­ße­ren Gan­zen. Gleich­zei­tig bie­tet die Distanz den Raum zur Reflektion.

Julia Wolfs Satz beginnt mit „so ein­sam“. In Har­veys Ori­gi­nal kommt der Ein­schub „so alo­ne“ jedoch an einer völ­lig ande­ren Stel­le. Was macht das mit dem Text? Das Ori­gi­nal setzt den Fokus im ers­ten Teil des Sat­zes auf die Beschrei­bung des Raum­schiffs. Das „rota­ting about the earth in their space­craft“ dürf­te im Kopf vie­ler Leser:innen sofort ein kla­res Bild erzeu­gen, womög­lich eines, das man aus den gän­gi­gen Welt­raum-Film­klas­si­kern kennt. Erst dann erfah­ren wir durch das „they“, dass es dort wohl meh­re­re Per­so­nen gibt, die sowohl „tog­e­ther“ als auch „alo­ne“ sind. Bei Har­vey sind die­se bei­den Wör­ter ganz nah bei­ein­an­der. Der Ein­schub des „alo­ne“ rela­ti­viert das „tog­e­ther“, er gibt ihm eine melan­cho­li­sche Note, die sich durch den Roman zieht.

Die Über­set­zung schafft inner­halb des Sat­zes größt­mög­li­che Distanz zwi­schen der Ein­sam­keit und dem Gefühl der Nähe. Im Deut­schen wer­den aber bei­de Zustän­de deut­li­cher auf die­sel­be Stu­fe geho­ben, indem ein „und gleich­zei­tig“ ein­ge­fügt wird, wo im Eng­li­schen ledig­lich ein „and“ steht. Har­veys Ori­gi­nal­satz lässt offen, dass es sich bei dem Roman viel­leicht doch um ein Welt­raum­aben­teu­er han­deln könn­te. Die Über­set­ze­rin, die mit dem Ori­gi­nal ver­traut ist, weiß, dass es dar­um aber im Kern nicht gehen wird; ihr eige­ner Spin liegt bereits über dem Text. Streng genom­men ist die­ser ers­te Satz, obgleich her­vor­ste­chend, nicht beson­ders ele­gant. Der Beginn mutet etwas unver­mit­telt an, als hät­te man den eigent­li­chen Anfang ver­passt oder, wenn man es laut liest, als wür­de jemand gera­de zu einer Anspra­che ansetzen. 

Wäh­rend der Satz­bau an der zitier­ten Stel­le den Sinn etwas ver­schiebt, dient die über­set­ze­ri­sche Neu­ord­nung ein­zel­ner Bau­tei­le an vie­len Stel­len tat­säch­lich pri­mär der Ele­ganz. Wenn drei Sät­ze im Ori­gi­nal hin­ter­ein­an­der mit „they“ begin­nen, dann mag das für eng­li­sche Leser:innen ange­nehm rhap­so­disch klin­gen – im Deut­schen wür­de es nega­tiv auf­fal­len und wäre wohl kaum Inbe­griff sprach­li­chen Könnens:

They look down and they under­stand why it’s cal­led Mother Earth. They all feel it from time to time. They all make an asso­cia­ti­on bet­ween the earth and a mother, and this in turn makes them feel like children.

Bei ihrem Blick auf die Erde ver­ste­hen sie, war­um man sie auch Mut­ter Erde nennt. Von Zeit zu Zeit spü­ren sie es alle, stel­len die­se Ver­bin­dung zwi­schen der Erde und einer Mut­ter her und wer­den somit selbst zu Kindern.

Aus drei Sät­zen macht die Über­set­ze­rin zwei. Das pas­siert oft in die­ser Über­set­zung, die an eini­gen Stel­len merk­lich län­ger ist als das Ori­gi­nal, weil Julia Wolf Sub­jek­te und Prä­di­ka­te dort ergänzt, wo im Ori­gi­nal dar­auf ver­zich­tet wur­de, und Gerun­di­en in Neben­sät­ze ver­wan­delt, die den Text vol­ler wer­den lassen.

Das Bei­spiel steht nicht dafür, dass im Deut­schen kei­ne Wort­wie­der­ho­lun­gen mög­lich sind, aber sie kom­men an ande­ren Stel­len zu tra­gen und wer­den anders ein­ge­setzt als im Eng­li­schen. Zu erken­nen, wann sol­che Wie­der­ho­lun­gen im Deut­schen effek­ti­ver sind, ist Teil über­set­ze­ri­scher Über­le­gun­gen und Julia Wolf ver­steht ihren Job. Die Erde ist als „gewal­ti­ge Mut­ter durch die Glas­kup­pel immer in Sicht, immer prä­sent“, heißt es ein wenig spä­ter. Im Eng­li­schen wird das­sel­be aus­ge­sagt, aber mit ande­ren Mit­teln: „Their towe­ring parent ever-pre­sent through the dome of glass.“

Doch nicht nur der Satz­bau ist ent­schei­dend: Auch auf Wort­ebe­ne äußert sich die Lite­r­a­ri­zi­tät des Tex­tes – im Deut­schen zuwei­len ein­deu­ti­ger als im Eng­li­schen. Aus „bla­ze of sui­ted-boo­ted glo­ry“ wird eine „Feu­ers­brunst von geschnie­gel­ter und gestrie­gel­ter Pracht“ und ein „weird hot lon­ging“ wird zu einem „selt­sa­men, stür­mi­schen Ver­lan­gen“. Es gibt eine Pas­sa­ge, die einen glau­ben lässt, man wür­de der Autorin und ihrer Über­set­ze­rin beim Schrei­ben über die Schul­ter schauen:

All the moist warm air eva­po­ra­ting off the equa­to­ri­al oce­ans and pul­led in an arc to the poles, coo­ling, sin­king, tug­ged back down in a west­ward cur­ve. Cea­se­l­ess move­ment. Alt­hough, the­se words – drag, pull, tug – they descri­be the force of this move­ment but not its grace, not its – what? Its synchronicity/fluidity/harmony. None of tho­se is quite the word.

All die feuch­te, war­me Luft, die über den Äqua­to­ri­al­mee­ren ver­dampft und in einem Bogen zu den Polen gezo­gen wird, sich abkühlt, absinkt, in einer nach Wes­ten füh­ren­den Kur­ve wie­der nach unten gezupft wird. Stän­di­ge Bewe­gung. Auch wenn die­se Wor­te – zer­ren, zie­hen, zup­fen – zwar die Kraft der Bewe­gung beschrei­ben, aber nicht die Anmut, nicht die – was? Die Synchronizität/Fluidität/Harmonie. Kei­nes die­ser Wor­te ist das richtige.

Hier wird nach Wor­ten für etwas gesucht, das die wenigs­ten von uns wohl mit eige­nen Augen erle­ben dür­fen. Und die Pas­sa­ge gibt Ein­blick in das Dilem­ma, das Har­vey beschäf­tigt haben muss: Wie die tech­ni­schen Aspek­te die­ser Unter­neh­mung ein­bau­en, ohne das Poe­ti­sche ein­zu­bü­ßen? Auch an die­ser Stel­le glänzt die Über­set­zung – zer­ren, zie­hen, zup­fen: hart klin­gen­de Wor­te, die so ein­ge­setzt jedoch zum Flair des Tex­tes beitragen.

Nicht alles klingt in Umlauf­bah­nen ele­gant: ein Astro­naut muss bei­spiels­wei­se „neun Mona­te auf die Erde hin­ab­glot­zen“ (nine months of this ear­thward gaping), die Erde ist an ande­rer Stel­le „ein gott­ge­ge­be­ner Klum­pen“ (a God-given clod) und es ist klar, dass „die­se gan­ze Cho­se“ („the who­le thing“, gemeint sind die Gala­xien) irgend­wann explo­die­ren wird. Sol­che rup­pi­gen Wör­ter durch­bre­chen man­che geschlif­fe­nen Sät­ze – und das sicher nicht unab­sicht­lich. Das Leben in Har­veys All ist „bru­tal“, gar „unmensch­lich“, und auf die Erde durch ein klei­nes Fens­ter zu bli­cken, nicht immer nur beschau­lich. Folg­lich wird auf Wort­ebe­ne hin und wie­der zu Tricks gegrif­fen, um den Text vor all­zu viel Welt­schmerz zu bewahren.

In dem Inter­view hat Har­vey übri­gens die Essenz ihrer sprach­li­chen Agen­da ver­ra­ten. Sie erzählt an einer Stel­le, was sie an den Roma­nen von Geor­ge Eli­ot, Mari­lyn­ne Robin­son oder Yas­u­na­ri Kawa­ba­ta beson­ders schätzt: „they’re all simp­le tales told with utmost word-per­fect ele­gan­ce.“ Dass damit im Deut­schen etwas ande­res als im Eng­li­schen gemeint ist, zeigt Julia Wolfs Über­set­zung von Umlauf­bah­nen sehr ein­drück­lich. Man könn­te mei­nen, auch die Über­set­ze­rin hät­te sich einen Prompt gesucht und wäre bei die­sem Zitat gelan­det. Das Ergeb­nis spricht für sich. 


Saman­tha Har­vey | Julia Wolf

Umlauf­bah­nen



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