Nach der Katastrophe

In „Napalm im Herzen“ erzählt der katalanische Autor Pol Guasch eine queere Liebesgeschichte in einem dystopischen Setting. Kirsten Brandt hat den hochpoetischen Roman meisterhaft ins Deutsche übersetzt. Von

Cover von Pol Guaschs Roman Napalm im Herzen. Illustration eines jungen Menschen mit dunklen Haaren in grellen Rottönen.
"Napalm im Herzen", erschienen im Wallstein Verlag. Hintergrundbild: Dexter Fernandes via Unsplash

Zum ers­ten Mal habe ich von Pol Guasch und Napalm im Her­zen im spä­ten Herbst 2021 im Rah­men eines Über­set­zungs­se­mi­nars gehört, zu dem einer der Teil­neh­men­den einen Aus­zug dar­aus mit­ge­bracht hat­te. Napalm im Her­zen ist der Debüt­ro­man des kata­la­ni­schen Autors, der vor­her bereits zwei Lyrik­bän­de ver­öf­fent­licht hat. Er wur­de in Spa­ni­en mit meh­re­ren Prei­sen aus­ge­zeich­net und wur­de mitt­ler­wei­le u. a. ins Spa­ni­sche, ins Fran­zö­si­sche und Eng­li­sche über­setzt. Das kata­la­ni­sche Ori­gi­nal konn­te ich nicht lesen, doch schon die ers­ten Sei­ten der Pro­be­über­set­zung reich­ten aus, um mei­ne Neu­gier zu wecken. Fast genau ein Jahr nach dem Semi­nar hat­te ich dann die Gele­gen­heit, Guasch in Paris aus dem kata­la­ni­schen Ori­gi­nal lesen zu hören, und habe direkt im Anschluss die fran­zö­si­sche Über­set­zung gele­sen. Wei­te­re zwei Jah­re spä­ter ist end­lich die deut­sche Über­set­zung von Kirs­ten Brandt bei Wall­stein erschienen.

Haupt­fi­gur und Erzäh­ler des Romans ist ein namen­lo­ser jun­ger Mann, der zusam­men mit sei­ner Mut­ter in einer länd­li­chen Gegend inmit­ten einer mili­tä­ri­schen Sperr­zo­ne lebt. Die­se wur­de nach einem Vor­fall in einer Fabrik im nah­ge­le­ge­nen Gebir­ge ein­ge­rich­tet, der zu Beginn des Romans etwas mehr als 900 Tage her ist. Was genau pas­siert ist, erfah­ren wir nicht, die Erzäh­lun­gen von einem lau­ten Knall und Licht­blitz sowie die ver­schie­de­nen Aus­wir­kun­gen auf die Umwelt der Haupt­fi­gur deu­ten auf einen nuklea­ren Vor­fall hin. Das Leben in der Sperr­zo­ne ist von Ein­tö­nig­keit gekenn­zeich­net: Wäh­rend die Mut­ter die Besu­che eines glatz­köp­fi­gen Sol­da­ten her­bei­sehnt, der die ‚ande­re‘ Spra­che spricht, war­tet der Sohn jeden Tag auf Brie­fe von Boris, sei­nem Lieb­ha­ber, der auf der ande­ren Sei­te des Gebir­ges in einer nun eben­falls ver­las­se­nen Stadt lebt.

In Rück­bli­cken erfah­ren wir mehr über das Leben des Erzäh­lers vor dem Vor­fall, etwa über sei­ne Kind­heit als Außen­sei­ter, den Anfang sei­ner Bezie­hung zu Boris und den Tod sei­nes Vaters. In der Gegen­wart ver­su­chen Mut­ter und Sohn, so gut wie eben mög­lich zu über­le­ben. Gleich­zei­tig beginnt der Sol­dat, in den die Mut­ter sich ver­liebt, eine immer grö­ße­re Rol­le in ihrem Leben und dem des Erzäh­lers zu spielen.

Der Text setzt sich aus kur­zen Abschnit­ten zusam­men, die meist unge­fähr eine Sei­te lang sind. Der Erzäh­ler beschreibt gegen­wär­ti­ge und ver­gan­ge­ne Ein­drü­cke, die in ihrer Kür­ze und Prä­gnanz an Schnapp­schüs­se erin­nern. Zwar fol­gen die Abschnit­te einer losen zeit­li­chen Abfol­ge, die­se wird aller­dings oft von Zeit­sprün­gen und Ver­schie­bun­gen unter­bro­chen. Es ist meist nicht direkt ersicht­lich, zu wel­chem Zeit­punkt im Leben der Haupt­fi­gur ein Abschnitt spielt, da es nur weni­ge spär­li­che Ele­men­te gibt, die die Ori­en­tie­rung erleich­tern. Häu­fig fällt erst dann auf, dass ein Abschnitt in der Ver­gan­gen­heit ange­sie­delt ist, wenn etwa eine eigent­li­che bereits ver­stor­be­ne Figur wie­der auftritt.

In den meis­ten Abschnit­ten des Romans berich­tet der Erzäh­ler von Ereig­nis­sen aus sei­nem Leben, dazwi­schen ste­hen aber immer wie­der sei­ne Brie­fe an Boris sowie spä­ter auch Aus­schnit­te aus einem recht lyri­schen Brief der Mut­ter an die Haupt­fi­gur. Je etwa zwei oder drei Abschnit­te wer­den unter einer gemein­sa­men Über­schrift zusam­men­ge­fasst. Die Über­schrif­ten fol­gen alle dem Mus­ter ‚Arti­kel + Sub­stan­tiv‘, etwa „Der Schuss“, „Die Ver­dau­ung“ oder „Die Syn­ony­me“, und haben schein­bar kei­ne Ver­bin­dung zum Inhalt der Abschnitte.

Eine mul­ti­mo­da­le Sei­te wird dem Text von wie­der­keh­ren­den Strich­lis­ten und einer Viel­zahl von schwarz­wei­ßen Fotos ver­lie­hen, die immer wie­der im Roman auf­tau­chen und bei denen es sich um die Foto­gra­fien han­deln könn­te, die Boris der Haupt­fi­gur in sei­nen Brie­fen schickt. Sie zei­gen vor allem Natur­mo­ti­ve wie leben­de und tote Tie­re, umge­fal­le­ne Bäu­me oder das Meer und wer­den wie die Text­ab­schnit­te eben­falls von Über­schrif­ten gerahmt, die auf den ers­ten Blick nicht mit ihnen zusam­men­hän­gen. Dadurch lädt der Roman sei­ne Leser*innen zu einem Spiel der Asso­zia­tio­nen zwi­schen Text, Über­schrif­ten und Bil­dern ein, und for­dert auch beim Ein­ord­nen der Sze­nen in den zeit­li­chen Ablauf der Hand­lung ihre Mitarbeit.

Guasch ver­eint in dem Roman eine gro­ße Brei­te an Ein­flüs­sen: Er ver­wen­det etwa Zita­te aus dem Werk der bas­ki­schen Autorin Eider Rodrí­guez, aus Lie­dern von Fio­na Apple oder aus Gedich­ten von Adri­en­ne Rich (deren Samm­lung Diving Into The Wreck er 2022 ins Kata­la­ni­sche über­setzt hat) als Mot­ti. Auch der Text selbst ist gespickt mit inter­tex­tu­el­len Ver­wei­sen: man­che in Form von fast direk­ten Zita­ten, wie aus Der Frem­de von Albert Camus, ande­re eher in Form the­ma­ti­scher Ver­wei­se wie bei­spiels­wei­se auf die Kurz­ge­schich­te Eine Hen­ne von Cla­ri­ce Lis­pec­tor oder auf eine Vor­le­sung von Anne Carson.

The­ma­tisch ist der Roman von gro­ßer Aktua­li­tät: Guasch behan­delt Faschis­mus, in Form von Füh­rer­kult und Mili­ta­ri­sie­rung, Besat­zung und Ver­trei­bung, geschlos­se­nen Gren­zen und Zwangs­ar­beit. Ver­schie­de­ne Kon­zep­te von Männ­lich­keit, ver­kör­pert durch den Erzäh­ler, sei­nen Vater und Groß­va­ter, Boris und den Sol­da­ten, wer­den hinterfragt.

In die­sem Zusam­men­hang spielt auch die Fra­ge von soge­nann­ten klei­nen Spra­chen eine Rol­le. Im Text wird immer wie­der von ‚unse­rer‘ Spra­che und der ‚ande­ren‘ gespro­chen. Die Spra­che der Haupt­fi­gur ist die ‚klei­ne‘ und ‚unbe­deu­ten­de‘, die durch die Spre­cher der gro­ßen Spra­che, durch den Staat und die Armee Repres­sio­nen aus­ge­setzt ist. Vor dem Hin­ter­grund, dass der Roman auf Kata­la­nisch ver­fasst wur­de, fällt es leicht, dies als einen Ver­weis auf die lin­gu­is­ti­sche Situa­ti­on in Spa­ni­en zu ver­ste­hen, wo die kas­ti­li­sche Spra­che, die wir gemein­hin als Spa­nisch ken­nen, neben den ‚klei­nen‘ Spra­chen Kata­la­nisch, Gali­zisch und Bas­kisch existiert. 

Beson­ders die Hin­wei­se auf die Füh­rer­fi­gur, deren Sta­tue im Dorf steht und deren Abbild in jedem Haus hängt, las­sen sich als Andeu­tun­gen auf die faschis­ti­sche Dik­ta­tur unter Fran­co im 20. Jahr­hun­dert lesen, und auf die damit ein­her­ge­hen­de staat­li­che Unter­drü­ckung der ande­ren in Spa­ni­en gespro­che­nen Spra­chen zuguns­ten des Kas­ti­li­schen. Auch auf die Iden­ti­täts­pro­ble­me, die die­se lin­gu­is­ti­schen Span­nun­gen aus­lö­sen kön­nen, geht Guasch ein: So sind zwar alle Figu­ren zwei­spra­chig, die Mut­ter offen­bart aber spä­ter in einem Brief an ihren Sohn, dass ihre Mut­ter­spra­che eigent­lich die ‚ande­re‘ gewe­sen sei und dass sie immer unter der Span­nung zwi­schen ihrer Lie­be zu ihrer anders­spra­chi­gen Fami­lie und ihrer Lie­be zur eige­nen Her­kunft gelit­ten habe.

Außer­dem ver­han­delt Guasch in dem Roman auch Fra­gen der Öko­lo­gie. Einer­seits hat der Vor­fall in der Fabrik die Umge­bung ver­wüs­tet und Tie­re wie Men­schen getö­tet, ande­rer­seits hat er auch zu einem Rück­gang mensch­li­cher Akti­vi­tä­ten geführt und nicht-mensch­li­chen Lebe­we­sen damit mehr Platz ein­ge­räumt. Die Gren­zen zwi­schen Men­schen und Natur wer­den im Roman ver­wischt und ihre Bezie­hung neu verhandelt.Natur- und Wet­ter­erschei­nun­gen wer­den in einer stark poe­tisch gepräg­ten Spra­che beschrie­ben. In Kirs­ten Brandts Über­set­zung klingt das zum Bei­spiel so:

Die Mor­gen ver­stri­chen gelb, apri­ko­sen­far­ben; gegen Mit­tag wur­de der Him­mel blau wie ein Fluss, bevor er den Oze­an erreicht; die Aben­de dehn­ten sich rot und neblig.

Die adver­bia­le Ver­wen­dung der Farb­ad­jek­ti­ve ist unge­wöhn­lich und ver­leiht dem Text eine unwirk­li­che, traum­haf­te Qua­li­tät und ver­mit­telt ein sich auf­lö­sen­des Zeit­ge­fühl. Das zeigt sich in ori­gi­nel­len und eigen­ar­ti­gen Sprachbildern:

Jeder Tag war ein Brun­nen des Lebens, der vom Grund bis an die Ober­flä­che auf­leuch­te­te und Licht verströmte […].

Vor Lan­ge­wei­le wer­den von den Figu­ren „Holz­wurm­lö­cher mit Nadeln ver­stopft“, sie schau­en sich „mit Augen wie Gewehr­ku­geln“ an oder neh­men ein­an­der wie „klei­ne Tie­re in ihrem Bau“ in ihre Grup­pen auf.

Der Ton, in dem die oft bru­ta­len Situa­tio­nen, denen die Figu­ren aus­ge­setzt sind, beschrie­ben wer­den, ist unauf­ge­regt. So zer­legt die Haupt­fi­gur etwa zu Anfang des Romans ihren toten Groß­va­ter, da es der gefro­re­ne Boden nicht erlaubt, ein Grab auszuheben.

Wäh­rend ich die schma­len Hand­ge­len­ke durch­säg­te, gin­gen mir unab­läs­sig Bil­der durch den Kopf: Wie wir gemein­sam das Was­ser­be­cken aus­ho­ben, ich mit einem klei­nen Eimer, er mit der gro­ßen Schau­fel und mit dem Kar­ren, mit dem er die Erde in den Wald brach­te – jetzt Elle und Spei­che, die sich erbit­tert wider­set­zen; wie er mir erzähl­te, dass sein Vater nach sei­ner Rück­kehr aus dem Krieg, den Kör­per vol­ler Gra­nat­split­ter, ver­stumm­te und bis zu sei­nem Tod hart­nä­ckig schwieg – jetzt die Nacken­wir­bel und die Aor­ta, aus der das Blut her­vor­schießt; wie er bei der Geburt sei­nes Bru­ders […] die gan­zen sechs­zehn Stun­den der Geburt hin­durch wein­te, weil er glaub­te, die Mut­ter und das Neu­ge­bo­re­ne wür­den lang­sam ver­ge­hen – jetzt der Waden­mus­kel, zart und fein wie Hüh­ner­fleisch, und das dicke Waden­bein, das knirscht.

Trotz der detail­lier­ten Beschrei­bung des knir­schen­den Waden­beins und der sich der Säge wider­set­zen­den Elle und Spei­che sind die Erin­ne­run­gen an den Ver­stor­be­nen berüh­rend. Die­se Gegen­über­stel­lung von Ekel und Lie­be zieht sich durch den gan­zen Roman. Die extre­me Kür­ze der Abschnit­te erfor­dert eine acht­sa­me und prä­zi­se sprach­li­che Dar­stel­lung, um den Draht­seil­akt zwi­schen den bei­den Extre­men zu hal­ten und weder in Geschmack­lo­sig­keit noch in Sen­ti­men­ta­li­tät abzu­glei­ten, was Brandt her­vor­ra­gend gelingt.

Gleich­zei­tig hat die Stel­le auch etwas Humor­vol­les durch den gro­tes­ken Ver­gleich des Waden­mus­kels mit zar­tem Hüh­ner­fleisch. Die­ser Humor kommt auch dann durch, als eine Nach­ba­rin den Vor­schlag, den Leich­nam den Fluss her­un­ter­trei­ben zu las­sen, mit fol­gen­dem Hin­weis abweist: „[E]r wird an einer fla­chen Stel­le hän­gen blei­ben, dann kom­men die wil­den Tie­re, und es gibt tage­lang Groß­va­ter […]“. Brandt schafft es, das Bild „einer natür­li­chen Ord­nung, die eben­so ver­kom­men wie zer­brech­lich ist“ zu transportieren.

Auch abwei­chen­de Regis­ter gibt Brandt dif­fe­ren­ziert wieder:

[Ich ver­such­te], mich nicht auf­zu­re­gen, die Alte nicht anzu­spu­cken, die mir in die Wan­ge kniff und sag­te: ‚Du siehst ihm so ähn­lich, zu ähn­lich.‘ Statt­des­sen sag­te ich zu mir selbst: ‚Halt end­lich den Mund, Alte, ver­giss mich, lass mich in Frie­den, friss Schei­ße, Alte, halt dein altes, fal­ti­ges Maul‘, und starr­te sie an, damit sie sah, wie ihret­we­gen das Feu­er in mei­nen Augen aufloderte.

Brandt trifft hier mit „Friss Schei­ße, Alte, halt dein altes, fal­ti­ges Maul“ genau den rich­ti­gen Grad an Grob­heit, der zwar zu einer ande­ren Sprach­ebe­ne gehört, aber im sonst sehr poe­ti­schen Text nicht fehl am Platz wirkt.

Napalm im Her­zen ist ein expe­ri­men­tel­ler Text, der ver­schie­de­ne Gat­tun­gen und Modi in sich ver­eint. Guasch behan­delt mit unge­wöhn­li­cher Spra­che eine gro­ße Band­brei­te an hoch­ak­tu­el­len The­men, wobei die Hand­lung stets nah beim Erzäh­ler, sei­ner Bezie­hung zu Boris und zu sei­ner Mut­ter bleibt. Dadurch ver­spricht der Roman sowohl auf sprach­li­cher als auch auf inhalt­li­cher Ebe­ne eine reich­hal­ti­ge Lek­tü­re. Es ist sehr erfreu­lich, dass Kirs­ten Brandt die­sen Text in ihrer Über­set­zung jetzt auch einem deutsch­spra­chi­gen Publi­kum voll­um­fäng­lich zugäng­lich gemacht hat. Zwi­schen mei­nem ers­ten Tref­fen mit die­sem Text und dem Erschei­nen sei­ner deut­schen Über­set­zung lie­gen drei Jah­re und ich kann sagen: Das War­ten hat sich gelohnt.


Pol Guasch | Kirs­ten Brandt

Napalm im Herzen



Wall­stein 2024 ⋅ 270 Sei­ten ⋅ 22 EUR

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