Zum ersten Mal habe ich von Pol Guasch und Napalm im Herzen im späten Herbst 2021 im Rahmen eines Übersetzungsseminars gehört, zu dem einer der Teilnehmenden einen Auszug daraus mitgebracht hatte. Napalm im Herzen ist der Debütroman des katalanischen Autors, der vorher bereits zwei Lyrikbände veröffentlicht hat. Er wurde in Spanien mit mehreren Preisen ausgezeichnet und wurde mittlerweile u. a. ins Spanische, ins Französische und Englische übersetzt. Das katalanische Original konnte ich nicht lesen, doch schon die ersten Seiten der Probeübersetzung reichten aus, um meine Neugier zu wecken. Fast genau ein Jahr nach dem Seminar hatte ich dann die Gelegenheit, Guasch in Paris aus dem katalanischen Original lesen zu hören, und habe direkt im Anschluss die französische Übersetzung gelesen. Weitere zwei Jahre später ist endlich die deutsche Übersetzung von Kirsten Brandt bei Wallstein erschienen.
Hauptfigur und Erzähler des Romans ist ein namenloser junger Mann, der zusammen mit seiner Mutter in einer ländlichen Gegend inmitten einer militärischen Sperrzone lebt. Diese wurde nach einem Vorfall in einer Fabrik im nahgelegenen Gebirge eingerichtet, der zu Beginn des Romans etwas mehr als 900 Tage her ist. Was genau passiert ist, erfahren wir nicht, die Erzählungen von einem lauten Knall und Lichtblitz sowie die verschiedenen Auswirkungen auf die Umwelt der Hauptfigur deuten auf einen nuklearen Vorfall hin. Das Leben in der Sperrzone ist von Eintönigkeit gekennzeichnet: Während die Mutter die Besuche eines glatzköpfigen Soldaten herbeisehnt, der die ‚andere‘ Sprache spricht, wartet der Sohn jeden Tag auf Briefe von Boris, seinem Liebhaber, der auf der anderen Seite des Gebirges in einer nun ebenfalls verlassenen Stadt lebt.
In Rückblicken erfahren wir mehr über das Leben des Erzählers vor dem Vorfall, etwa über seine Kindheit als Außenseiter, den Anfang seiner Beziehung zu Boris und den Tod seines Vaters. In der Gegenwart versuchen Mutter und Sohn, so gut wie eben möglich zu überleben. Gleichzeitig beginnt der Soldat, in den die Mutter sich verliebt, eine immer größere Rolle in ihrem Leben und dem des Erzählers zu spielen.
Der Text setzt sich aus kurzen Abschnitten zusammen, die meist ungefähr eine Seite lang sind. Der Erzähler beschreibt gegenwärtige und vergangene Eindrücke, die in ihrer Kürze und Prägnanz an Schnappschüsse erinnern. Zwar folgen die Abschnitte einer losen zeitlichen Abfolge, diese wird allerdings oft von Zeitsprüngen und Verschiebungen unterbrochen. Es ist meist nicht direkt ersichtlich, zu welchem Zeitpunkt im Leben der Hauptfigur ein Abschnitt spielt, da es nur wenige spärliche Elemente gibt, die die Orientierung erleichtern. Häufig fällt erst dann auf, dass ein Abschnitt in der Vergangenheit angesiedelt ist, wenn etwa eine eigentliche bereits verstorbene Figur wieder auftritt.
In den meisten Abschnitten des Romans berichtet der Erzähler von Ereignissen aus seinem Leben, dazwischen stehen aber immer wieder seine Briefe an Boris sowie später auch Ausschnitte aus einem recht lyrischen Brief der Mutter an die Hauptfigur. Je etwa zwei oder drei Abschnitte werden unter einer gemeinsamen Überschrift zusammengefasst. Die Überschriften folgen alle dem Muster ‚Artikel + Substantiv‘, etwa „Der Schuss“, „Die Verdauung“ oder „Die Synonyme“, und haben scheinbar keine Verbindung zum Inhalt der Abschnitte.
Eine multimodale Seite wird dem Text von wiederkehrenden Strichlisten und einer Vielzahl von schwarzweißen Fotos verliehen, die immer wieder im Roman auftauchen und bei denen es sich um die Fotografien handeln könnte, die Boris der Hauptfigur in seinen Briefen schickt. Sie zeigen vor allem Naturmotive wie lebende und tote Tiere, umgefallene Bäume oder das Meer und werden wie die Textabschnitte ebenfalls von Überschriften gerahmt, die auf den ersten Blick nicht mit ihnen zusammenhängen. Dadurch lädt der Roman seine Leser*innen zu einem Spiel der Assoziationen zwischen Text, Überschriften und Bildern ein, und fordert auch beim Einordnen der Szenen in den zeitlichen Ablauf der Handlung ihre Mitarbeit.
Guasch vereint in dem Roman eine große Breite an Einflüssen: Er verwendet etwa Zitate aus dem Werk der baskischen Autorin Eider Rodríguez, aus Liedern von Fiona Apple oder aus Gedichten von Adrienne Rich (deren Sammlung Diving Into The Wreck er 2022 ins Katalanische übersetzt hat) als Motti. Auch der Text selbst ist gespickt mit intertextuellen Verweisen: manche in Form von fast direkten Zitaten, wie aus Der Fremde von Albert Camus, andere eher in Form thematischer Verweise wie beispielsweise auf die Kurzgeschichte Eine Henne von Clarice Lispector oder auf eine Vorlesung von Anne Carson.
Thematisch ist der Roman von großer Aktualität: Guasch behandelt Faschismus, in Form von Führerkult und Militarisierung, Besatzung und Vertreibung, geschlossenen Grenzen und Zwangsarbeit. Verschiedene Konzepte von Männlichkeit, verkörpert durch den Erzähler, seinen Vater und Großvater, Boris und den Soldaten, werden hinterfragt.
In diesem Zusammenhang spielt auch die Frage von sogenannten kleinen Sprachen eine Rolle. Im Text wird immer wieder von ‚unserer‘ Sprache und der ‚anderen‘ gesprochen. Die Sprache der Hauptfigur ist die ‚kleine‘ und ‚unbedeutende‘, die durch die Sprecher der großen Sprache, durch den Staat und die Armee Repressionen ausgesetzt ist. Vor dem Hintergrund, dass der Roman auf Katalanisch verfasst wurde, fällt es leicht, dies als einen Verweis auf die linguistische Situation in Spanien zu verstehen, wo die kastilische Sprache, die wir gemeinhin als Spanisch kennen, neben den ‚kleinen‘ Sprachen Katalanisch, Galizisch und Baskisch existiert.
Besonders die Hinweise auf die Führerfigur, deren Statue im Dorf steht und deren Abbild in jedem Haus hängt, lassen sich als Andeutungen auf die faschistische Diktatur unter Franco im 20. Jahrhundert lesen, und auf die damit einhergehende staatliche Unterdrückung der anderen in Spanien gesprochenen Sprachen zugunsten des Kastilischen. Auch auf die Identitätsprobleme, die diese linguistischen Spannungen auslösen können, geht Guasch ein: So sind zwar alle Figuren zweisprachig, die Mutter offenbart aber später in einem Brief an ihren Sohn, dass ihre Muttersprache eigentlich die ‚andere‘ gewesen sei und dass sie immer unter der Spannung zwischen ihrer Liebe zu ihrer anderssprachigen Familie und ihrer Liebe zur eigenen Herkunft gelitten habe.
Außerdem verhandelt Guasch in dem Roman auch Fragen der Ökologie. Einerseits hat der Vorfall in der Fabrik die Umgebung verwüstet und Tiere wie Menschen getötet, andererseits hat er auch zu einem Rückgang menschlicher Aktivitäten geführt und nicht-menschlichen Lebewesen damit mehr Platz eingeräumt. Die Grenzen zwischen Menschen und Natur werden im Roman verwischt und ihre Beziehung neu verhandelt.Natur- und Wettererscheinungen werden in einer stark poetisch geprägten Sprache beschrieben. In Kirsten Brandts Übersetzung klingt das zum Beispiel so:
Die Morgen verstrichen gelb, aprikosenfarben; gegen Mittag wurde der Himmel blau wie ein Fluss, bevor er den Ozean erreicht; die Abende dehnten sich rot und neblig.
Die adverbiale Verwendung der Farbadjektive ist ungewöhnlich und verleiht dem Text eine unwirkliche, traumhafte Qualität und vermittelt ein sich auflösendes Zeitgefühl. Das zeigt sich in originellen und eigenartigen Sprachbildern:
Jeder Tag war ein Brunnen des Lebens, der vom Grund bis an die Oberfläche aufleuchtete und Licht verströmte […].
Vor Langeweile werden von den Figuren „Holzwurmlöcher mit Nadeln verstopft“, sie schauen sich „mit Augen wie Gewehrkugeln“ an oder nehmen einander wie „kleine Tiere in ihrem Bau“ in ihre Gruppen auf.
Der Ton, in dem die oft brutalen Situationen, denen die Figuren ausgesetzt sind, beschrieben werden, ist unaufgeregt. So zerlegt die Hauptfigur etwa zu Anfang des Romans ihren toten Großvater, da es der gefrorene Boden nicht erlaubt, ein Grab auszuheben.
Während ich die schmalen Handgelenke durchsägte, gingen mir unablässig Bilder durch den Kopf: Wie wir gemeinsam das Wasserbecken aushoben, ich mit einem kleinen Eimer, er mit der großen Schaufel und mit dem Karren, mit dem er die Erde in den Wald brachte – jetzt Elle und Speiche, die sich erbittert widersetzen; wie er mir erzählte, dass sein Vater nach seiner Rückkehr aus dem Krieg, den Körper voller Granatsplitter, verstummte und bis zu seinem Tod hartnäckig schwieg – jetzt die Nackenwirbel und die Aorta, aus der das Blut hervorschießt; wie er bei der Geburt seines Bruders […] die ganzen sechszehn Stunden der Geburt hindurch weinte, weil er glaubte, die Mutter und das Neugeborene würden langsam vergehen – jetzt der Wadenmuskel, zart und fein wie Hühnerfleisch, und das dicke Wadenbein, das knirscht.
Trotz der detaillierten Beschreibung des knirschenden Wadenbeins und der sich der Säge widersetzenden Elle und Speiche sind die Erinnerungen an den Verstorbenen berührend. Diese Gegenüberstellung von Ekel und Liebe zieht sich durch den ganzen Roman. Die extreme Kürze der Abschnitte erfordert eine achtsame und präzise sprachliche Darstellung, um den Drahtseilakt zwischen den beiden Extremen zu halten und weder in Geschmacklosigkeit noch in Sentimentalität abzugleiten, was Brandt hervorragend gelingt.
Gleichzeitig hat die Stelle auch etwas Humorvolles durch den grotesken Vergleich des Wadenmuskels mit zartem Hühnerfleisch. Dieser Humor kommt auch dann durch, als eine Nachbarin den Vorschlag, den Leichnam den Fluss heruntertreiben zu lassen, mit folgendem Hinweis abweist: „[E]r wird an einer flachen Stelle hängen bleiben, dann kommen die wilden Tiere, und es gibt tagelang Großvater […]“. Brandt schafft es, das Bild „einer natürlichen Ordnung, die ebenso verkommen wie zerbrechlich ist“ zu transportieren.
Auch abweichende Register gibt Brandt differenziert wieder:
[Ich versuchte], mich nicht aufzuregen, die Alte nicht anzuspucken, die mir in die Wange kniff und sagte: ‚Du siehst ihm so ähnlich, zu ähnlich.‘ Stattdessen sagte ich zu mir selbst: ‚Halt endlich den Mund, Alte, vergiss mich, lass mich in Frieden, friss Scheiße, Alte, halt dein altes, faltiges Maul‘, und starrte sie an, damit sie sah, wie ihretwegen das Feuer in meinen Augen aufloderte.
Brandt trifft hier mit „Friss Scheiße, Alte, halt dein altes, faltiges Maul“ genau den richtigen Grad an Grobheit, der zwar zu einer anderen Sprachebene gehört, aber im sonst sehr poetischen Text nicht fehl am Platz wirkt.
Napalm im Herzen ist ein experimenteller Text, der verschiedene Gattungen und Modi in sich vereint. Guasch behandelt mit ungewöhnlicher Sprache eine große Bandbreite an hochaktuellen Themen, wobei die Handlung stets nah beim Erzähler, seiner Beziehung zu Boris und zu seiner Mutter bleibt. Dadurch verspricht der Roman sowohl auf sprachlicher als auch auf inhaltlicher Ebene eine reichhaltige Lektüre. Es ist sehr erfreulich, dass Kirsten Brandt diesen Text in ihrer Übersetzung jetzt auch einem deutschsprachigen Publikum vollumfänglich zugänglich gemacht hat. Zwischen meinem ersten Treffen mit diesem Text und dem Erscheinen seiner deutschen Übersetzung liegen drei Jahre und ich kann sagen: Das Warten hat sich gelohnt.