Ein Gerichtsprozess wegen Kindsmordes – das ist der Ausgangspunkt von Tore Renbergs erstem historischen Roman Die Lungenschwimmprobe. In der deutschen Übersetzung von Karoline Hippe und Ina Kronenberger bleibt die Erzählung dem Stil und Erscheinungsbild der norwegischen Originalausgabe treu: Titel und Untertitel wurden wörtlich übertragen, und auch die anatomische Darstellung einer Lunge auf dem Cover wurde unverändert übernommen. Renbergs Werk bewegt sich geschickt an der Schnittstelle von Faktualität und Fiktion. Obwohl historische Quellen den Rahmen für die Erzählung bieten, muss der Autor immer wieder die Lücken der Geschichtsschreibung füllen – etwa, weil die Prozessakten zum im Roman verhandelten Fall heute als verschollen gelten, möglicherweise zerstört durch den sächsischen Staat.
Die Lungenschwimmprobe nimmt die Leser*innen mit ins barocke Sachsen des 17. Jahrhunderts. Hier wird 1681 die fünfzehnjährige Anna Voigt vom Gut Greitschütz wegen Unzucht, Geburt im Geheimen und Tötung ihres Kindes angeklagt. Als Anwalt steht ihr der spätere Mitbegründer der Universität von Halle, Christian Thomasius, zur Seite. Die Obduktion von Anna Voigts Kind übernimmt der Stadtphysicus von Zeitz, Johannes Schreyer. Dieser wendet bei der Obduktion des Leichnams erstmalig die sogenannte Lungenschwimmprobe an, mit der festgestellt werden kann, ob ein Kind tot oder lebendig zur Welt gekommen ist.
Zur Durchführung der Probe wird dem Leichnam die Lunge entnommen und diese ins Wasser gelegt. Schwimmt die Lunge oben, ist Luft in ihr, was ein untrügliches Zeichen dafür ist, dass das Kind außerhalb des Mutterleibs gelebt und seinen ersten Atemzug gemacht hat. Sinkt die Lunge hingegen im Wasser ab, ist das Gegenteil der Fall und es muss sich um eine Totgeburt handeln. Die durch Johannes Schreyer im Fall Anna Voigt durchgeführte Lungenschwimmprobe gilt heute als die Geburtsstunde der modernen Rechtsmedizin.
Die Lunge von Annas Kind schwimmt nicht, sondern geht unter. Trotzdem ergeht gegen Anna das Urteil Folter. Denn der medizinischen Probe Schreyers sowie Thomasius’ logisch geführten Argumentationen, die Anna von ihrer Schuld freisprechen, wird kein Glaube geschenkt. Unter Folter soll Anna daher dazu gebracht werden die Wahrheit zu sagen. Die Lungenschwimmprobe erzählt von einer Umbruchzeit. Von einer Zeit, in der konservative Kräfte der Wissenschaft im Weg standen. Darauf verweist auch das dem Buch vorangestellte Motto:
Den nye tiden hadde inntrådt,
men vi gjorde motstand.
P.O. Enquist, Lewis reise, 2001
Die neue Zeit war angebrochen,
aber wir setzten uns ihr zur Wehr.
P.O. Enquist, Lewis Reise (aus dem Schwedischen von Wolfgang Butt)
Im barocken Sachsen des 17. Jahrhunderts war die Gesellschaft strengen Regeln unterworfen und die kirchlichen Lehren beherrschten das Weltbild. Für wissenschaftliche Erkenntnisse und Methoden, wie die der Rechtsmedizin sowie Vernunftsdenken generell, war darin kein Platz. Als Wegbereiter der Aufklärung hatten Christian Thomasius und Johannes Schreyer daher mit großen Widrigkeiten zu kämpfen.
Tore Renberg lässt den Leser diesen Kampf selbst nachvollziehen, indem er in Die Lungenschwimmprobe den Gerichtsfalls Anna Voigt nicht zusammenhängend erzählt, sondern immer wieder unterbrochen durch die Geschichten der Nebenfiguren. Wie die konservativen Kräfte in Sachsen, die Anna Voigt von Dezember 1684 bis Juni 1687 inhaftiert hielten (eine außergewöhnlich lange Zeit für die damaligen Verhältnisse), breitet Renberg damit den Mantel des Vergessens über den Fall Anna Voigt. Einige Leser werden das Buch daher vielleicht zur Seite legen, weil sie sich nicht durch die Nebenrollen „hindurch kämpfen“ wollen, um Anna wieder zu begegnen. Dann ist der Kampf verloren und Anna vergessen. Andere wiederum werden den Nebenfiguren folgen – mit ihnen „kämpfen“. Und so zu Anna zurückkehren und ihre Geschichte vor dem Vergessen bewahren.
Die Lungenschwimmprobe mag aufgrund der Ausführlichkeit, mit der Renberg erzählt, an manchen Stellen langatmig wirken. Doch der langsame Rhythmus des Romans steht in Einklang mit dem langsamen Lebensrhythmus des 17. Jahrhunderts. Gebrochen wird dieser Rhythmus nur in den „Büchern“ zwei, vier und sieben, in denen von der Rache des Vaters erzählt wird. Hier herrscht ein schneller Erzählrhythmus vor. Bewirkt wird dieser durch kurz gehaltene Erzählabschnitte, in denen der Vater als Ich-Erzähler auftritt und das Erzählte sich in Form einer konstanten gedanklichen Unterredung, die an Anna gerichtet ist, präsentiert.
Man merkt der Übersetzung von Hippe und Kronenberger ein gutes Gespür für den Wechsel zwischen Rhythmen und Tonlagen an. In diesen Abschnitten ziehen sie etwa kurze Formulieren wortgetreueren Übersetzung vor. So wird zum Beispiel „I den fire år lange søvnen, Anna. I godt og vel fire år“ kurz und knapp als „Vier Jahre Schlaf, Anna. Vier lange Jahre“ übersetzt. Oder bei der Formulierung: „Jeg spratt opp av sengen, jeg gikk til speilet, jeg kikket i det, å fy“, die jeweils wiederholend mit „jeg“ (dt. „ich“) beginnt, verkürzend die dritte Wiederholung weggelassen. „Ich sprang aus dem Bett, ich trat vor den Spiegel, schaute hinein, pfui!“. Durch die Verknappungen tritt auch in der deutschen Übertragung der schnelle Erzählrhythmus deutlich hervor.
Im Kapitel „Der Korridor“ taucht Renberg selbst als Ich-Erzähler auf und berichtet von seiner Recherche-Arbeit im Jahr 2022. Dabei richtet er sich wie Annas Vater beim Erzählen in einer Art gedanklichem Gespräch an Anna und beklagt dabei die Unterdrückung der Frau durch den Mann.
[…] det går ikke an å si det på noen annen måte, historien om verden er også fortellingen om menns behov for å holde kvinner nede.
[…] anders kann man es nicht sagen, die Geschichte der Welt ist auch die Geschichte des männlichen Bedürfnisses, Frauen kleinzuhalten.
Ironischerweise führt Renberg mit der Form, die er für die Ich-Erzählung von Annas Vater und sich selbst wählt, die Unterdrückung der Frauenstimme fort, denn eine Antwort Annas bleibt stets aus. Über das ganze Werk betrachtet, bleiben Frauenstimmen im Allgemeinen und die Stimme von Anna im Besonderen eher leise. Zu Beginn des Werks ist Annas Stimme noch deutlich hörbar:
„Ich will nur mein Kind zurück. Es war ein kleines Mädchen, geliebter Vater, sie hatte die drollige Unterlippe unserer Familie, und ich wollte sie Maria nennen, nach der lieben Frau Mama. Ich wollte sie ganz dicht am Körper tragen und mich in einer Hütte im Wald verstecken […]“.
Doch im Laufe der Erzählung wird ihre Stimme immer leiser, bis sie am Ende der Erzählung einer Außensicht weicht: „Noch am selben Abend wurde Anna im Obergeschoss des Hospitals einquartiert, sie wurde an ein Bett gekettet, überwacht und gepflegt. Sie war sich nicht mehr sicher, ob das Kind, um das sie sich in der Hütte gekümmert hatte, wirklich existierte. War es nur ein schöner Traum gewesen?“. Dadurch bleibt die Figur Anna dem*der Leser*in eher fern.
Renbergs Text zeichnet sich durch steten Perspektivwechsel und die Vermischung von verschiedenen Genres aus. Der Roman enthält unter anderem Prosa, Gesetzestexte, Gebete, Briefe und Sonette. Renberg versucht in seinem Erzählen den tatsächlichen Ereignissen so wahrheitsgetreu wie möglich zu folgen, indem er sich an historischen Quellen orientiert. Auch das Einbringen der verschiedenen Textgenres kann darin begründet liegen, wird der*die Leser*in durch diese doch in die Zeit des 17. Jahrhunderts und die damals in Sachsen vorherrschenden Gesellschafts- und Rechtskonventionen eingeführt. So erklärt ein Auszug aus dem deutschen Strafgesetzbuch von 1532 Artikel 131 beispielsweise:
„Jene Frauen, die ein lebendiges oder wohlgebildetes Kind geboren haben und es heimlich, böswillig, vorsätzlich töten, werden gewöhnlich lebendig begraben und gepfählt. Um die damit verbundene Verzweiflung zu verhindern, kann die besagte Übeltäterin indes auch ertränkt werden, sollte das Gericht Zugang zu einer geeigneten Wasserstelle haben“.
Dass derlei Gesetze nicht nur in den Rechtsbüchern niedergeschrieben waren, sondern sich auch den Köpfen der Menschen festgesetzt hatten, zeigt sich im Gebet der Köchin der Familie Greitschütz, die erklärt:
„[…] das Schlimmste, was ein Mensch tun kann, schlimmer als Heuchelei, schlimmer als Hurerei, schlimmer als Diebstahl, schlimmer als Zauberei, ist, im Geheimen ein Kind zu zeugen, seine Geburt geheim zu halten, um dann aus Böswilligkeit […] sein unschuldiges Kind zu töten“.
Den Übersetzerinnen Hippe und Kronenberger spielt hier in die Karten, dass Renberg vielfach deutschsprachige historische Quellen zitiert. So bleibt ihnen beispielsweise die schwierige Aufgabe erspart, das Sonett von Andreas Gryphius in Kapitel 41 übertragen zu müssen. Hier ist es der Originaltext, der die Übersetzungsleistung erbringen musste, da das Sonett für die norwegischen Leser in ihre Sprache übertragen wurde. Nichtsdestotrotz ist die übersetzerische Arbeit im Allgemeinen und insbesondere, wenn es sich wie hier um einen historischen Erzählstoff handelt, für die Übersetzer*innen auch immer mit dem Erwerb von Sachkenntnis und dementsprechend mit viel Recherchearbeit verbunden. Zudem wurden, wie die Übersetzerinnen am Ende des Buches anmerken, längere vorliegende Originalquellen wie der oben zitierte Auszug aus dem deutschen Strafgesetzbuch in Anlehnung an den norwegischen Ausgangstext in ein modernes Deutsch übertragen.
Renberg gibt der Lungenschwimmprobe eine Sprache, die zwar modern zwecks Lesbarkeit aber doch altertümlich angehaucht ist. Wie er im Nachwort erklärt, verzichtet er bewusst auf Wörter wie „Epidemie“ oder „Panik“, da diese in der Zeit, von der erzählt wir, noch nicht existierten. Zudem sei er mit den damaligen Traditionen der deutschen Namensgebung frei umgegangen. Oft benutzt er die zu Annas Zeit übliche Endung ‑in für Frauennachnamen. So wird aus Frau Voigt, Frau Voigtin oder aus Frau Schreyer, Frau Schreyerin. Außerdem lässt Renberg gerade im juristischen Kontext gerne lateinische Begriffe in seinen Text miteinfließen. In der deutschen Übersetzung fällt eine Latinisierung besonders auf. Der Anwalt der Familie Voigt Christian Thomasius wird durchgehende als „Herr Advocatus“ angesprochen. In der norwegischen Originalfassung wird nicht auf die latinisierter Anrede zurückgegriffen. Hier wird Thomasius lediglich als «Herr Advokat» bezeichnet.
Als die Anrede zum ersten Mal auftaucht, ist es Christian Thomasius’ Frau, die sie verwendet. Da anders als in der norwegischen Fassung in der Übersetzung von Hippe und Kronenberger sich die Ehepaare duzen und nicht siezen, erweckt die Anrede „Herr Advocatus“ hier im Gegensatz zur Originalfassung fast den Anschein, als würde Thomasius’ Frau ihn mit der Anrede necken wollen. Weiter wirkt die latinisierte Anrede Thomasius’ in der deutschen Fassung etwas unpassend, da in der Erzählung geschildert wird, dass gerade Thomasius sich für eine deutsche Standardsprache nach französischem Vorbild ausspricht und die Dreistigkeit besitzt eine Vorlesung in deutscher statt wie in der damaligen Zeit üblich in lateinischer Sprache anzukündigen.
Vergleicht man Tore Renbergs Originalfassung mit der Übersetzung von Kronenberger und Hippe, mögen solche übersetzerischen Details auffallen, jedoch funktioniert der deutsche Text bei eigenständiger Betrachtung sehr gut. Den beiden Übersetzerinnen gelingt die außergewöhnliche Leistung, einen Text in norwegischer Sprache, der in großem Umfang auf neuhochdeutschen Originalquellen beruht, in ein aktuelles Deutsch zu verwandeln, das zugleich modern und archaisch wirkt.
Mit der Übersetzung von Die Lungenschwimmprobe erhält ein Kapitel der deutschen Geschichte eine Stimme, das noch nie zuvor Gehör gefunden hat und weder in der Filmkunst noch in der Literatur bislang thematisiert wurde. Der Roman schlägt die Brücke vom 17. ins 21. Jahrhundert. Er zeigt auf, wie in der Zeit von Anna Voigt Grundsteine für die heutigen Kinder- und Frauenrechte sowie Meinungsfreiheit gelegt wurden. In Anbetracht der großen Bedeutung dieser geschichtlichen Zeit ist es etwas bedauerlich, dass der Anhang mit den historischen Quellen (Personenregister, Karten und Illustrationen sowie Literatur- und Quellenverzeichnis) der deutschen Übertragung nur in digitaler Form angefügt wurde. Dieser Kritikpunkt vermag aber nicht die Leistung der Übersetzerinnen zu schmälern.