1991, Gefängnisinsel Nisida vor Neapel. Der fünfzehnjährige Zeno bekommt eine letzte Chance: Seine Lehrerin, Signora Martina, hat ihm für Weihnachten zwei Tage Ausgang organisiert, und er fiebert dem Moment entgegen, an dem er seine Mutter zumindest für ein paar Stunden wiedersehen darf. Aber vorher soll er Tagebuch führen und aufschreiben, was er denkt und fühlt, und woran er sich erinnert.
Seine von Schlägen und Armut geprägte Kindheit, an die er sich nicht erinnern kann oder will, endete mit zehn Jahren, als sein Vater ins Gefängnis musste. Als einzige Möglichkeit, seine Mutter und Schwester zu unterstützen, bleiben auch ihm nur die kriminellen Revierkämpfe seines Viertels. Die Jugendlichen ohne Zukunft dienen den „Capos“ als ideale Drogenkuriere. Und so gerät er eines Tages zwischen die Fronten und erschießt einen anderen Jungen. In diesem beinahe therapeutischen Bekennerschreiben beschreibt Zeno liebevoll seine Mitinsassen und erzählt ihre Geschichten. Er träumt davon, eines Tages Schriftsteller zu werden, zu reisen und seine Freundin Natalina zu heiraten.
Die kurzweilige und gleichzeitig intensive Lektüre des Debüts von Francesca Maria Benvenuto, geboren 1986 in Neapel, hält die Spannung bis zum Schluss aufrecht, ob er es schaffen wird, seine Mutter wiederzusehen (was hier natürlich nicht verraten wird). Dazu dient vor allem der ungebrochene Lesefluss, der in der Übersetzung super erhalten wurde und die ungefilterten, naiven Gedanken von Zeno widerspiegelt. Um den neapolitanischen Dialekt von Zeno nachzubilden, hat Christine Ammann ein auffälliges, den gesamten Roman durchziehendes Sprachregister gewählt, das von umgangssprachlichen Kurzformen, Rechtschreibfehlern und ungewöhnlichen grammatischen Konstruktionen geprägt ist. – Viktoria Wenker
Francesca Maria Benvenuto/Christine Ammann (aus dem Italienischen): Dieses Meer, dieses unerbittliche Meer, Verlag Antje Kunstmann 2024, 176 Seiten, 22 Euro.
Als Ninon Moineau, eine Pariser Concierge, ihren Ruhestand antritt, trifft sie eine folgenreiche Entscheidung. Um auf ihre alten Tage noch etwas von der Welt zu sehen, tauscht sie ihre dürftige Rente gegen Kost und Logis auf einem Containerschiff ein. Dafür schließt sie einen Leibrentenvertrag mit einem ominösen Richard LeRoy. Statt in ihrer 18-m²-Loge in der Rue de la Corderie Nr. 5 sitzt sie jetzt also auf 12 m² in einem Container auf einem Frachter, der auf einer immergleichen Schleife alle 77 Tage die Weltmeere abfährt.
Und dort sitzt sie fest. Denn wie sich herausstellt, hat sie einen Pakt mit einem Teufel der Immobilienspekulation geschlossen, einem Finanzhai, der sich totstellt, als Ninon versucht, mit ihm Kontakt aufzunehmen. In ihrer Not schreibt Ninon daraufhin einer gewissen Clémentine Noisette, die sie nicht kennt, an deren Namen sie sich aber erinnert, weil er mit dem Zusatz „Beratung“ auf einem Messingschild an der Tür der Rue de la Corderie N°6 stand. Clémentine Noisette antwortet, allerdings denkbar wortkarg. Zum Glück ist da noch ein gewisser Aimé Cosat, der sich in die Korrespondenz einzumischen beginnt.
Mit Une loge en mer hat Magali Desclozeaux den Briefroman aus der Mottenkiste geholt und führt mit dem herrlich skurrilen Schriftwechsel zwischen Ninon, Clémentine, Aimé und anderen mal eben die Absurditäten eines globalisierten Spätkapitalismus vor. Zwischen Altersarmut und Immobilienspekulation, Steueroasen und Briefkastenfirmen entsteht eine hochspannende Erzählung, die unter dem Titel Die Concierge ist auf See dieses Jahr im Maro Verlag auch auf Deutsch erschienen ist. Aus dem Französischen übersetzt hat ihn Merle Struve, die es schafft, mit großer Präzision und scheinbar spielerischer Leichtigkeit die Jargons von Seefahrt und Finanztrickserei auch im Deutschen in einer humorvollen Sprache zu verbinden und den unerwarteten Brieffreundschaften einen Tonfall augenzwinkernder Intimität zu geben. – Sula Textor
Magali Desclozeaux/Merle Struve (aus dem Französischen): Die Concierge ist auf See, Maro Verlag 2024, 168 Seiten, 22 Euro.
Ich bin natürlich ein wenig voreingenommen, was Europas Hunde von Alhierd Bacharevič angeht. Sein Übersetzer Thomas Weiler hatte mir im September ausführlich erzählt, wie viel Arbeit in den Roman geflossen ist, wie lange es gedauert hat, den passenden Verlag zu finden, und wie mühsam es generell ist, Interesse für belarussische Literatur zu wecken. Dieser Aufwand führt eindrücklich vor Augen, dass Übersetzer:innen weit mehr als nur Übertragende von Texten sind – sie sind zugleich Literaturvermittler:innen und übernehmen eine Vielzahl weiterer Aufgaben.
Es hat eine Weile gedauert, bis ich die 744 Seiten von Europas Hunde zu Ende gelesen hatte. Die sechs Teile fühlten sich mitunter wie eigenständige Romane an. Passender wäre es jedoch, sie als Teile eines Roman-Puzzles zu bezeichnen: Man tauchte jedes Mal in eine neue Welt ein, doch am Ende fügte sich alles auf faszinierende Weise zusammen. Die Bezüge und Motive, die Eigenheiten der Figuren und die verschiedenen Versionen von Belarus erschlossen sich mir erst richtig, als ich das Buch beendet hatte. Selbst dann blieb das Gefühl, den Roman eigentlich gleich noch einmal lesen zu müssen, um ihn wirklich zu durchdringen.
Es wäre müßig, den „Plot“ an dieser Stelle nachzuzeichnen. Kurz gesagt: Europas Hunde ist ein wilder Ritt – stellenweise absurd, oft witzig, mitunter verstörend und durchweg spannend. Alhierd Bacharevič erschafft Welten, die vollkommen fremd und zugleich seltsam vertraut und gleichzeitig überraschend wirken. Auf der nächsten Leipziger Buchmesse wird ihm dafür der Leipziger Buchpreis zur Europäischen Verständigung 2025 verliehen. Ohne seinen Übersetzer Thomas Weiler wäre diese europäische Verständigung jedoch gar nicht erst möglich. – Julia Rosche
Alhierd Bacharevič/Thomas Weiler (aus dem Belarussischen): Europas Hunde, Voland & Quist 2024, 744 Seiten, 36 Euro.
Wir zeichnen den 8. Februar 1944: Der Krieg tobt, aber an den Sieg glaubt im italienischen Asti niemand mehr. Diverse Soldaten sind desertiert, andere sitzen wegen Verrats im Gefängnis, darunter auch der Zahnarzt des schmerzgeplagten – und dentophobischen – Unteroffiziers Cesco Magetti. Da erteilt ihm auch noch der Chefadjutant der republikanischen Eisenbahngarde den Befehl, eine Karte des mexikanischen Eisenbahnnetzes zu zeichnen. Warum? „Weil ich es dir befehle, Magetti. Ist das für dich Grund genug?“
Es beginnt eine Odyssee, denn das einzige Buch in und um Asti, das nützliche Informationen für dieses Himmelfahrtskommando zu enthalten verspricht, scheint verschwunden. Weder in der Bibliothek lässt sich die Historia poetica y pintoresca de los ferrocarriles en México finden, noch auf dem von anarchistischen Totengräbern geführten Friedhof von San Rocco, nicht in der Sakristei einer entweihten Kirche bei einem selbsternannten Bremser-Poeten mit Opiumsucht und auch nicht in den öffentlichen Waschräumen der Stadt.
Die Eisenbahnen Mexikos sprüht vor Sprachfreude und Ironie und ist voller idiosynkratischer Figuren und skurriler Erzählungen. In einem Kapitel, das an die Suche nach Passierschein A38 von Asterix und Obelix erinnert, erfahren wir überhaupt erst den Auslöser für die ganze Ereigniskette, der die Nazis im mexikanischen Santa Brígida eine Wunderwaffe vermuten und deshalb eine Eisenbahnkarte in Auftrag geben ließ. In einem anderen Kapitel dürfen wir gemeinsam mit Cesco (und einem hilfreichen Fremden) ein Kreuzworträtsel lösen, um ein Codewort für die nächste Etappe der Literatursuche zu erhalten. In einem weiteren erfahren wir, nach welchen Kriterien Arturo Belano – den die geneigte Leserin als Alter Ego des Autors Roberto Bolaño erkennt, ein erklärtes Vorbild von Griffi – die Güte von Dichter*innen zu katalogisieren pflegt, um dann eine mehrseitige Liste bedeutender Dichter*innen und ihrer Suizidmethoden präsentiert zu bekommen: „Diejenigen, die sich von einem Felsen, einem Haus, einer Brücke, vom Deck eines Schiffes gestürzt haben, sind die vollkommenen Dichter“.
Mit seinem Romandebüt bei dem kleinen italienischen Verlag Laurana Editore gehörte Gian Marco Griffi direkt zu den Nominierten für den renommierten Premio Strega. Und auch seine Übersetzerin, Verena von Koskull, hat ganze Arbeit geleistet. In Die Eisenbahnen Mexikos sprechen die Figuren in verschiedenen Soziolekten und Dialekten, die sie ebenso kreativ wie konsequent übertragen hat. Es gab in diesem Jahr keinen anderen Roman, der mich derart häufig in lautes Gelächter (und an einer Stelle auch in Tränen) hat ausbrechen lassen. Als leidenschaftliche NYT-Wordlerin (und neuerdings auch Connections-Süchtige) hat mich diese ambitionierte literarische Schnitzeljagd sofort in ihren Bann gezogen, der außerdem über die rund 800 Seiten ungebrochen blieb. Ein Gift mit sechs Buchstaben, das bei der Aufnahme über die Blutbahn tödlich ist, beim Verschlucken jedoch unbedenklich, anyone? – Theresa Rüger
Gian Marco Griffi/Verena von Koskull (aus dem Italienischen): Die Eisenbahnen Mexikos, Claassen 2024, 800 Seiten, 36 Euro.
Als ich irgendwo in den unendlichen Weiten des Internets das gelbe Cover mit dem Hähnchen und dem Titel Die Ballade vom vakuumverpackten Hähnchen entdeckte, hatte das Buch mich eigentlich schon. Dann lag es auch noch direkt nach Erscheinen in meiner Lieblingsbuchhandlung – also musste ich es direkt mitnehmen und lesen. Und was soll ich sagen? Es hat sich gelohnt!
Hannah erbt den Hühnerhof ihrer Mutter in einem kleinen französischen Kaff, wo alles eher traditionell gehandhabt wird. Als sie aus der Großstadt zum Anwesen fährt, um das Notwendigste zu regeln, baut sie unerwartet schnell eine Verbindung zu den Tieren auf – und wenn ich Verbindung sage, dann meine ich das auch so. Hannahs Lieblingshuhn schläft mit ihr im Bett und wird verhätschelt, auch die anderen Hühner haben alle Namen und Hannah weiß bestens über ihre Marotten Bescheid. Aber geschlachtet wird trotzdem, schließlich sind die Hühner zum Essen da – allerdings nicht für Hannah, die ist nämlich Vegetarierin.
Aus einem Impuls heraus schreibt Hannah eine Biografie über die ersten von ihr geschlachteten Hühner und klebt die Texte auf die Verpackung. Bei den anderen Bauern auf dem Markt kommen Hannah und ihre Hühnchenbiografien gar nicht gut an, doch ein Mann wird auf sie und ihr Produkt aufmerksam und sieht darin den nächsten großen Marketingclou. Wer jetzt schon denkt, dass das alles ganz schön irre klingt, sollte das Buch auf jeden Fall in die Hand nehmen und sich davon überzeugen lassen, dass es noch viel verrückter geht – auf eine großartige Art und Weise und in der auf ganzer Linie überzeugenden Übersetzung von Milena Adam. Allein die Hühnernamen und ‑biografien sind ein echter Lesegenuss, für die Adam mit Sicherheit die volle Bandbreite ihrer Kreativität nutzen musste. – Lisa Mensing
Lucie Rico/Milena Adam (aus dem Französischen): Die Ballade vom vakuumverpackten Hähnchen, Matthes & Seitz 2024, 235 Seiten, 22 Euro.
La Storia ist ein Roman der italienischen Schriftstellerin Elsa Morante, der 1974 veröffentlicht wurde. Ich gebe gern zu, dass ich Morantes Romane vor ein paar Jahren zu lesen begonnen habe, weil Elena Ferrante sie in einem Interview als ihr literarisches Vorbild bezeichnet hat. Sicherlich ist es dem Ferrante-Hype zu verdanken, dass Morantes Werke in den letzten Jahren neu aufgelegt und neu übersetzt wurden, dabei war Morante bereits zu Lebzeiten ein absoluter Star. Anlässlich des Ehrengastauftritts Italiens auf der Buchmesse erschien im Frühjahr auch eine deutsche Neuübersetzung ihres wohl bedeutendsten Romans.
La Storia war bereits nach Veröffentlichung ein großer Erfolg, zog jedoch einige Kontroversen nach sich und dürfte auch heute noch als starker Tobak gelten. (Achtung Triggerwarnung) Der Roman erzählt die Geschichte der verwitweten, jüdisch-italienischen Lehrerin Ida Ramundo während des Zweiten Weltkriegs. Ida wird von einem deutschen Soldaten vergewaltigt und bringt einen Sohn zur Welt, den sie Useppe nennt. Useppe wird zur zentralen Figur des Romans. Er wächst in einer zerstörten Welt auf, bewahrt sich aber trotz der Schrecken des Krieges eine gewisse Unschuld. Nino, der ältere Sohn, schließt sich schließlich dem Widerstand gegen die Faschisten an. Im Verlauf des Romans erleben die Figuren die verheerenden Folgen des Krieges, einschließlich der Bombardierungen, der deutschen Besatzung und des Zusammenbruchs des faschistischen Regimes in Italien.
Die Übersetzerinnen Maja Pflug und Klaudia Ruschkowski haben Morantes großen Nachkriegsroman, der inzwischen Klassikerstatus erreicht hat, entstaubt. Hoffentlich trägt die Neuübersetzung dazu bei, dass Elsa Morantes Werk wieder mehr gelesen wird. Übrigens habe ich auch die solide ältere Übersetzung von Hannelise Hinderberger gern gelesen Wer noch tiefer eintauchen will: ebenfalls empfehlenswert ist die einstündige Arte-Doku „La Storia – vom Skandal zum Klassiker“. – Julia Rosche
Elsa Morante/Maja Pflug/Klaudia Ruschkowski (aus dem Italienischen): La Storia, Verlag Klaus Wagenbach 2024, 288 Seiten, 38 Euro.
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