
Alan Hollinghurst, Oscar Wilde, Thomas Mann: James Cahills Debüt Tiepolo Blau (OT: Tiepolo Blue) ist bereits (zurecht!) mit zahlreichen literarischen Vergleichen geschmeichelt worden. Wie schön wäre es also, wenn sich für die Übersetzung des Romans in eine andere Sprache jemand fände, der mit all den genannten Autoren nicht nur bestens vertraut ist, sondern sich noch dazu bereits wissenschaftlich und/oder literarisch mit ihnen auseinandergesetzt hat? Höchst erfreulich, dass sich für die Übersetzung ins Deutsche tatsächlich genau dieser Jemand gefunden hat: Joachim Bartholomae, Übersetzer, Mitgründer des Männerschwarm-Verlags, Autor und Herausgeber literaturwissenschaftlicher Werke. Und noch erfreulicher, dass Bartholomae das nicht gerade unkomplizierte Unterfangen, die Finesse und Vielschichtigkeit von Cahills fesselnder Prosa ins Deutsche zu übertragen, hervorragend gemeistert hat.
Tiepolo Blau ist im englischen Original im Juni 2022 bei Sceptre erschienen, auf dem Buchcover wird Stephen Fry zitiert, „The best novel I have read for ages… masterly“ – und ein umfassenderer Blick auf die englischen Pressestimmen zeigt schnell, dass Cahills Debüt neben Fry noch viele weitere in seinen Bann gezogen hat. Wir Lesenden können jedenfalls mehr als froh darüber sein, dass die deutsche Ausgabe dieses hochgelobten Romans ihren Weg zum Albino Verlag gefunden hat: Nicht nur die Übersetzung, sondern die gesamte Aufmachung des Buches, gewissermaßen die gestalterische Übersetzung, erhält die mystisch-künstlerische Ausstrahlung des Originals.
Ein dunkelblauer Umschlag mit goldenen Farbklecksen und dem Abbild einer Büste verführt fast schon sirenenhaft all diejenigen, denen er ins Auge fällt. Auf der Innenseite folgt in beiden Ausgaben ein farbenfrohes Fresko; es handelt sich um einen Ausschnitt aus – wie passend! – Der Lauf des Sonnenwagens (1740) des venezianischen Künstlers Giambattista Tiepolo. Vor Tiepolos Himmeln und Blautönen gibt es in diesem Buch kein Entkommen, weder im Englischen noch im Deutschen. Sogar die dem ersten Kapitel vorangestellten Zeilen aus Derek Jarmans Film Blue, einem fast ausschließlich aus Ton bestehenden Film, der über 70 Minuten lang nichts weiter als blaue Leinwand zeigt, deuten darauf hin (von Verlag / Übersetzer übrigens im englischen Original belassen).
Besagte Anziehungskraft entfaltet sich auch auf der Handlungsebene. Denn je weiter der Protagonist Don Lamb auf seiner Reise gen wahres Leben einerseits und rapiden Verfall andererseits voranschreitet, desto mehr zieht er uns in seinen Bann. Zuerst begegnen wir ihm in Cambridge, im Jahre 1994, wo er als einer der renommiertesten Kunsthistoriker seiner Zeit eine karrierefokussierte, asketische Existenz führt (man beachte die Tautologie seines Namens: „Don“ ist auch eine Bezeichnung für Professoren, vor allem in Oxford und Cambridge). Die alten Gemäuer Cambridges hat Don seit vielen Jahren nicht mehr wirklich verlassen, zumindest nicht für längere Zeit, und von der Welt außerhalb nimmt er herzlich wenig wahr. Don ist ein vehementer und „unerschrockener Verteidiger der klassischen Tradition“, sein Spezialgebiet der venezianische Maler Tiepolo, über dessen Fresken – genauer: über das Blau des Himmels darin – er ein monumentales akademisches Werk verfasst; seit Jahren arbeitet er obsessiv daran.
All das kommt jedoch zu einem abrupten Ende, als eine erste Brise moderner Kunst durch Dons Leben in Cambridge weht, in Form eines radikal unkonventionellen Kunstwerks, das den Titel LOTTERBETT trägt und vollkommen unerwartet im Innenhof des Colleges auftaucht. Don, dem jegliche Art moderner Kunst zutiefst zuwider ist, schafft es nicht, sich mit dieser Situation zu arrangieren. Folglich entscheidet er sich, seine Professorentätigkeit vorerst zu beenden und stattdessen einen Posten als Direktor eines Kunstmuseums in Dulwich, Südlondon, anzunehmen. Hier wird er schlagartig mit dem echten Leben konfrontiert, mit Menschen außerhalb der akademischen Blase, mit schonungslos modernen Ansichten zu Kunst und Ästhetik, mit Sex und ausschweifendem Nachtleben, seiner lange unterdrückten Homosexualität und sogar mit der Liebe, in Gestalt eines jungen Künstlers namens Ben. Und während Don eine ganz neue, bis dahin verdrängte Seite von sich selbst kennenlernt, droht der sonst so disziplinierte, beherrschte Professor zunehmend den Halt und die Kontrolle über sich selbst zu verlieren – und schlittert hinein in nahezu dionysische Zustände.
Cahills Prosa birgt nicht wenige Herausforderungen für die Übersetzung, darunter das sehr spezielle Setting des akademischen und antiquierten Cambridges und des exzentrischen, wilden Sohos, die Plethora literarischer und künstlerischer Einflüsse und Referenzen sowie sprachlicher Bilder und Metaphern. In einem Interview mit The Art Newspaper sagte Cahill über Don: „I had this image of a man who was mid-career, mid-life, brilliantly successful and renowned, but also fatally hamstrung by his inexperience of love and life and things beyond his academic métier.“ Don hat der Liebe abgeschworen und sich komplett seinem Studium der Kunstgeschichte bzw. Tiepolos und der klassischen Kunst verschrieben. Schon früh im Roman gibt er beim Dinner am High Table seine Definition von Kunst zum Besten:
Art (…) conjures other realities. It describes worlds that resemble our own only in part. It translates life into higher forms – dignifies life – through the refractory glass of allegory. Art, I believe, is a sequence of confirmations. Yes, confirmations of what is good and true.
Kunst (…) beschwört andere Wirklichkeiten herauf. Sie beschreibt Welten, die unserer eigenen nur teilweise ähneln. Sie übersetzt das Leben durch das Brennglas der Allegorie in höhere Formen – verleiht ihm Würde. Ich glaube, Kunst ist eine Abfolge von Bekräftigungen. Ja, Bekräftigungen dessen, was gut und wahr ist.
Bartholomae bringt die Präzision und Eloquenz, mithilfe derer Don seinen Ansichten Ausdruck verleiht, auch im Deutschen herüber, indem er mit seiner Wortwahl sehr dicht am englischen Original bleibt. Das „refractory glass of allegory“ wird wortwörtlich zum „Brennglas der Allegorie“; Dons gehobene, selbst ein wenig allegorische, akademische Sprache bleibt auf diese Weise auch in der Übersetzung erhalten.
Da bildende Künste, Gemälde, Skulpturen und Collagen ein solch zentrales Thema in Dons Leben als Kunsthistoriker und später Museumsdirektor darstellen, enthält Cahills Roman eine ganze Reihe Beschreibungen entsprechender Kunstwerke. Auch hier bleibt Bartholomaes Übersetzung tendenziell sehr nah am Original, beispielsweise bei der folgenden, sehr lebendigen Beschreibung eines Tiepolos, in der lediglich die Aktivität des „spiralling“ im Deutschen der Lesbarkeit halber zu einem Adjektiv geworden ist:
Hazy sky spirals out to encompass airborne bodies, (…) entire flotillas of activity – all supported on cushion-like clouds that rise in fluffy tiers towards the apex of heaven.
Spiralförmig umarmen dunstige Himmel schwebende Körper, (…) ganze Geschwader an Aktivität – allesamt getragen von kissengleichen Wolken, die sich in flauschigen Schichten zum Scheitelpunkt des Himmels auftürmen.
Mit den detaillierten, bildhaften und vor allem auch wortgewandten Beschreibungen von Kunstwerken geht eine hohe Dichte kultureller Hintergründe, Referenzen und Einflüsse einher, die sich durch den Text ziehen und die im Zuge einer Übersetzung idealerweise nicht nur erkannt, sondern auch in die andere Sprache transportiert werden. So ist die Rede unter anderem von Caravaggio und Chiaroscuro, von Turner und seinen Schiffsmalereien, und natürlich von Tiepolo und der Art, wie er Licht und Himmel malt, als „westerly gleam, matutinal radiance, crepuscular tints“ bzw. „westlicher Schimmer, morgendliches Strahlen, dämmrige Schatten“.
Zum klassischeren kunsthistorischen Hintergrund kommen Elemente aus der zeitgenössischen Kunstszene der 90er Jahre in London hinzu, allen voran die moderne Skulptur, die in Dons College einzieht und ihn letztendlich dazu bringt, Cambridge zu verlassen. Es handelt sich um ein Bettgestell, umgeben von Bierdosen und Kleiderstücken, mit dem Titel SICK BED, im Deutschen LOTTERBETT. Während die offensichtliche Übersetzung hier „Krankenbett“ gewesen wäre, hat Bartholomae mit „Lotterbett“ die Bedeutung der Skulptur für Don jedoch deutlich besser erfasst. „Lotter“ drückt den Zustand der Degeneration, des Verfalls der modernen Kunstszene aus, für den die Skulptur in Dons Augen symbolisch steht. Sie steht für alles, was er verabscheut (und zu dem er sich doch auch auf eigenartige Weise hingezogen fühlt, wie immer deutlicher werden wird).
Weiterhin tummeln sich zahlreiche literarische Einflüsse in Tiepolo Blau, manche mehr, manche weniger explizit. Allein aus diesem Grund hätte sich wohl kein passenderer Übersetzer finden können als Bartholomae; nicht nur hat er sowohl Wilde (Die Wahrheit von Masken) als auch Hollinghurst (Der Hirtenstern) übersetzt, er hat noch dazu eine eigene Studie zur Rezeption von Manns Novelle Der Tod in Venedig verfasst. Gerade letzteres Werk ist sehr präsent in Cahills Roman; wieder und wieder erinnert Dons Charakter an Aschenbach und wieder und wieder findet er sich in Aschenbachschen Szenarien wieder. So zum Beispiel, als er in einem Londoner Bus, mit einem Buch in seinem Schoß (exakt wie Manns Gustav von Aschenbach selbst), einer Gruppe ausgelassener Männer begegnet, angeführt von einem schauderhaften „jung-alten Mann“ – einem Mann, der auf den ersten Blick aufgrund seines Verhaltens jung scheint, in Wahrheit jedoch ein Greis ist.
Dieser beginnt, ihn mit lallenden Worten zu bedrängen. Anstatt Cahills „young-old“ in ein geläufigeres Adjektiv zu transformieren, hat Bartholomae die Umständlichkeit der englischen Formulierung im Deutschen beibehalten und signalisiert damit einwandfrei die Auffälligkeit dieser Szene und der darin in Erscheinung tretenden Figur. Ähnlich bei der Szene, in der Don von einer Veranstaltung zurück in sein Londoner Quartier gefahren wird: Im Englischen heißt es hier „ferried back“. Bartholomae verleiht dieser leicht zu übersehenden Formulierung die ihr gebührende Aufmerksamkeit, indem er schreibt, dass Don vom „Fährmann“ zurückgebracht wird. Ob wir es hier wohl mit dem Gondoliere aus Manns Novelle zu tun haben, der Aschenbach in seine Residenz fährt (und dabei auf beunruhigende Weise Ähnlichkeit zum mythologischen Charon annimmt…)?
Wie bereits angedeutet, finden sich auch Spuren von Alan Hollinghurst und Oscar Wilde (und einigen weiteren Schriftstellern) im Text. In Bezug auf Letzteren hat Bartholomae eine interessante Entscheidung getroffen, die hier kurz hervorgehoben werden sollte. Das Haus, in dem Don in London residiert, ist exzentrisch eingerichtet, voller Skulpturen und Ornamente. Es wird ihm von einem Freund namens Val zur Verfügung gestellt, der es sein „House Beautiful“ nennt. Im Englischen besitzt diese Bezeichnung Anklänge an eine Vorlesung von Oscar Wilde, The House Beautiful, gehalten 1882 in den USA, in der er auf die Bedeutung ästhetischer Inneneinrichtung eingeht. Im Deutschen müssen diese Anklänge unweigerlich verloren gehen: Bei Bartholomae wird Vals Haus zu Anfang gelegentlich als „Schöner Wohnen“ bezeichnet, was Cahills (und Wildes) Formulierung noch etwas näherkommt; später wird es, vor allem in Dons Gedanken, zum „Puppenhaus“. Auch ein Puppenhaus drückt die Künstlichkeit und Theatralität aus, die in der Bezeichnung eines Wohnhauses als „House Beautiful“ mitschwingt, und mag daher eine berechtigte Übersetzung sein – man kann jedoch nur hoffen, dass all diese Implikationen die kindlichen Spielzeug-Assoziationen eines Puppenhauses ausstechen.
Brillieren kann Bartholomaes Übersetzung auch an jeder Stelle, an der im Englischen sprachliche Bilder und Motive genutzt werden. Derartige Motive gibt es einige, ganz besonders auffällig sind die der Natur, insbesondere der Bukolik (so wird in Tiepolo Blau auch Vergils Bucolica gern mal gelesen) und des Wassers, und beide nehmen im Laufe der Handlung zu. Als Don spät im Roman sagt „I’ve been put out to pasture“, macht Bartholomae daraus „Man hat mich auf die Weide hinausgeschickt“. Diese Formulierung ist im Deutschen meines Wissens nicht geläufig und trotzdem kommt herüber, was gemeint ist: Don ist gekündigt worden. Bartholomae schafft es trotz der Eigenartigkeit des englischen Ausdrucks auch im Deutschen das sprachliche Motiv und dessen Bedeutung zu erhalten.
Auch das Motiv des Wassers, das sich wie die Kanäle Venedigs durch die sprachliche Struktur des gesamten Romans zieht, wird von Bartholomae konsequent als solches registriert und beibehalten. An einer Stelle ist die Rede davon, dass die Vernunft in einer „tiefen blauen See glücklicher Trunkenheit“ versinkt. Im Englischen heißt der Satz: „Rationality is sinking beneath a deep blue sea of happy delirium.“ Manchmal schafft der Übersetzer sogar dort Wasserbilder, wo im Original gar keine sind – einmal ist bei ihm die Rede vom „Zerfließen der Formen“, wo es im Englischen nur „softening of forms“ heißt.
Entscheidungen wie diese wären ohnehin bei jedem Roman mit solch starken sprachlichen Bildern zu loben, bei einer Geschichte hingegen, die eine derart große Ähnlichkeit zum Tod in Venedig aufweist, noch einmal ein wenig mehr. Joachim Bartholomae hat James Cahills Roman authentisch und originalgetreu ins Deutsche übertragen, an genau den richtigen Stellen seine eigenen Kenntnisse der kulturellen Einflüsse angewandt und in die Übersetzung eingeflochten. Entstanden ist ein Tiepolo Blau, das zurecht den gleichen Einband trägt wie sein englischsprachiges Original.