
Mit präziser, fast mathematischer Sprache zerlegt die dänische Schriftstellerin Solvej Balle in ihrem Romanzyklus Om udregning af rumfang (Über die Berechnung des Rauminhalts) Raum und Zeit in unbestimmte Variablen – und setzt sie in einer radikal subjektiven Realität neu zusammen. Damit wagt sie ein sprachliches Experiment, das der deutschen Übersetzung ganz eigene Grenzen setzt. Ein dänisches Sprachspiel über das Unermüdliche, das Unberechenbare – und eine Welt, die sich immer wieder selbst auf null setzt.
Der dänische Lyriker Henrik Nordbrandt verdichtete bereits 1986 in nur wenigen Versen die beklemmende Einöde nordischer Winter. Mantraartig beschwört er eine Dunkelheit, in der die Zeit stillsteht:
Das Jahr hat 16 Monate: November
Dezember, Januar, Februar, März, April
Mai, Juni, Juli, August, September
Oktober, November, November, November, November.
Statt weniger Verse widmet Balle ihrer Erkundung des Raumzeitlichen ein siebenteiliges Werk, dessen erste fünf Bände zwischen 2020 und 2023 beim dänischen Verlag Pelagraf erschienen, der von der Autorin mitbegründet wurde. Das Projekt schlug von Beginn an hohe Wellen: So erhielten Om udregning af rumfang I, II und III für sich genommen bereits den Literaturpreis des Nordischen Rates 2022. Stringent und simpel erzählt Balle darin die Geschichte der Buchantiquarin Tara Selter, die in einer endlos wiederkehrenden Schleife aus achtzehnten Novembern gefangen ist.

Die philosophisch anspruchsvollen und stilistisch innovativen Romane der Autorin, geboren 1962 im dänischen Bovrup, reichen weit über Skandinavien hinaus. Balles Schreiben verbindet experimentelle Ansätze mit präziser Sprache und philosophischer Tiefe. Sie studierte Literaturwissenschaft und Philosophie in Kopenhagen und debütierte 1986. Internationale Bekanntheit erlangte sie jedoch erst mit ihrem jüngsten Romanzyklus. Über die Berechnung des Rauminhalts I, II und III erschienen in deutscher Übersetzung von Peter Urban-Halle bei Matthes & Seitz Berlin. Seine faszinierend nüchterne, zugleich klanglich fein austarierte Übersetzung fängt Balles Stil präzise ein und überträgt ihre existenzielle Dringlichkeit ins Deutsche. Als Literaturkritiker und Übersetzer zählt er zu den wichtigsten Vermittlern skandinavischer Literatur im deutschen Sprachraum.
Zeit als Fluss, Bruch, Wachstum
„Meine Tage sind porös“, resümiert die Protagonistin Tara an ihrem eintausendsechshundertelften 18. November. Was einmal wie fester Beton wirkte, entpuppt sich als von kleinen Hohlräumen durchsetzt. Dabei entgleitet die Zeit ihrem präzisen Raster aus Sekunden und Millisekunden. Trotz der Protokolle, die sie penibel führt, und den mathematischen Berechnungen, die sie anstellt, bleibt ihre Gleichung verschwommen: Wie ist Tara in die waghalsige Zeitschleife der tristen Novembertage geraten? Wer trägt Schuld? Warum altert ihr Körper nicht, die Gegenstände um sie herum aber schon? Früh merkt sie: Sie ist zu groß für den Raum, in dem sie gestrandet ist. Denn das Gemüse, das sie im Garten geerntet hat, wächst nicht nach, und die Regale im nahegelegenen Supermarkt, an denen sie sich bedient, wirken schon bald wie geplündert. Im Verlauf der Ereignisse begegnet Tara weiteren Menschen, die in derselben Zeitschleife feststecken, darunter Henry Dale, der sie aus ihrem klaustrophobischen Alleinsein rettet. Später gesellen sich weitere Gefährten zu ihr, die in dem, was zunächst wie eine persönliche Tragödie scheint, gar ethische und gesellschaftliche Ebenen erkennen: Was, wenn sich die Zeitschleife nutzen ließe, um die Welt zu verbessern?
Balle greift für ihr literarisches Kunststück auf eine unerschöpfliche Vielfalt an Bildern zurück: Die Zeit wird zum Fluss, der über die Ufer tritt, zu tektonischen Platten, die sich verschieben, zu wucherndem Unkraut, das im eigenen Schatten verkümmert. Tara spricht von parataktischen Zeitauffassungen und variabler Chronometrie, von temporalen Sprüngen und chronotoxischer Rekurrenz. Ähnlich wie die Figuren in Balles früherem Werk Ifølge loven – Fire beretninger om mennesket (Nach dem Gesetz – Vier Berichte über den Menschen) sucht auch Tara händeringend nach wissenschaftlichen Theorien, die ihre missliche Lage erklären könnten.
Zwischen Philosophie und Popkultur
Balles siebenteiliges Werk lässt sich nur widerspenstig in die Reihe klassischer Zeitschleifen-Erzählungen einordnen. Während Und täglich grüßt das Murmeltier (1993) das Motiv endgültig im Mainstream verankerte, nutzen Computerspiele wie The Legend of Zelda: Majora’s Mask aus den Nullerjahren die Zeitschleife als Gameplay-Mechanik, um Abenteuer und Fortschritt zu simulieren. Ein aktuelleres Beispiel liefert die Netflix-Serie Russian Doll (2019): Nadia Vulvokov (Natasha Lyonne) durchlebt immer wieder dieselbe Partynacht. In schnellen, dialoglastigen Sequenzen nutzt sie die Zeitschleife als emotionale Katharsis. Dagegen entfaltet Balles introspektive Romanreihe ein fragil verzwirntes Netz von philosophischer Tiefe und minutiöser Sinneserfassung, das sich so sorgsam wie melancholisch bis ins Innerste der Dinge gräbt.
Räume, die überlaufen

Gemüsebeete leeren sich Furche um Furche, Kühltheken lichten sich – doch eng getragene Kleidung bleibt, und Essensvorräte füllen sich aus dem Nichts. Schnell erkennt Tara: Der Raum und die Dinge um sie folgen eigenen, undurchdringlichen Regelsätzen. Objekte folgen ihr nur zögerlich in den neuen Tag, „als schwankten sie zwischen den Möglichkeiten der Zeit hin und her, am Rande einer Zeit, die verging, und einer Zeit, die wiederkehrte.“ Ihr Körper hingegen behält und heilt Wunden, lässt Haare und Nägel wachsen, bis man sie in kleinen Stückchen Zeit den Abfluss hinunterspült.
Dass Taras Körper und der Raum, in dem er existiert, immer wieder auseinanderdriften und nur schwierig zurück zueinanderfinden, zeigt sich auch im Bild eines gefräßigen Monsters:
Jeg kan ikke længere flyde igennem dagen. Det er, som om dagen er blevet for lille, eller jeg er blevet for tung. Som om jeg er blevet stor og uformelig. Et monster kann ikke flyde ind og ud af en dag, et monster er ikke flydende. Det kan ikke løbe ind på dagens tomme steder. Det flyder over. Det vokser. Det kan ikke gemme sig i verden. Et monster gungrer. Det tramper. Det kan ikke være stille. Det kan ikke spille med i et stilfærdigt husorkester. Et monster er langsomt og tungt. Dagene begynder at gå langsommere. Jeg fylder. Jeg flyder ikke. Det er mig, der sætter farten ned.
Ich kann nicht mehr durch den Tag treiben. Es ist, als wäre der Tag zu klein geworden oder ich zu schwer. Als wäre ich groß und unförmig geworden. Ein Monster kann nicht in einen Tag hinein- und aus ihm hinaustreiben, ein Monster treibt nicht. Es kann nicht in die Leerstellen des Tages einlaufen. Es läuft über. Es wächst. Es kann sich nicht in der Welt verbergen. Ein Monster dröhnt. Es stampft. Es kann nicht still sein. Es kann in einem bescheidenen Hausorchester nicht mitspielen. Ein Monster ist langsam und schwerfällig. Die Tage fangen an, langsamer zu vergehen. Ich nehme Platz ein. Ich treibe nicht. Ich bin es, die die Geschwindigkeit herabsetzt.
Was in der deutschen Übersetzung von Peter Urban-Halle bereits klangvoll zur Geltung kommt, ist dem dänischen Original noch inhärenter: Balles Rhythmik, die mit repetitiven und minimalistischen Sätzen einen drängenden, fast mechanischen Ton anschlägt. Das Dänische arbeitet mit kurzen, parataktischen Sätzen, die Balles Sprache besonders zum Leuchten bringen. Im Gegensatz dazu wirkt das hypotaktische Deutsche mit seinen längeren, verschachtelten Satzstrukturen oft weicher und tänzelnder. An Stellen, an denen sich der deutsche Text bemüht, die knappen dänischen Sätze einzuhalten, muss Urban-Halle vor allem zweierlei beachten: Zum einen den Verzicht auf schwerfälligere Formulierungen, zu denen das Deutsche tendiert und die die dänische Prägnanz schnell verwässern. Zum anderen eine Beibehaltung rhythmischer und hypnotischer Wiederholungen, ohne dabei monotone Effekte zu riskieren.
Dänische Wörter sind häufig von spielerischer Mehrdeutigkeit, während deutsches Vokabular durch seine hohe semantische Präzision besticht. Um den exakten, mechanischen Ablauf der Dinge zu beschreiben, muss sich Urban-Halle immer wieder zwischen Bedeutungsebenen entscheiden, die das Dänische oft unaufgelöst nebeneinander stehen lässt. So beschreibt das dänische Verb „flyder“ ein fließendes, fast schwebendes Dahingleiten, besonders in Wasser oder Luft. Urban-Halle übersetzt es mit „treiben“, das im Deutschen passiver klingt, als sei die Bewegung von äußeren Kräften bestimmt, während die Welt im Dänischen in einer organischen, fließenden Bewegung zu entgleiten scheint. Was Urban-Halle im deutschen Treiben jedoch zusätzlich anlegt: ein Gefühl der Schwere und des Sogs, welches das dänische Original atmosphärisch stark einbindet, aber nicht wörtlich benennt.
Weiterhin verharren die dänischen Sätze häufig in einer Schwebe zwischen Indikativ und Konjunktiv, was eine gewisse gedankliche Offenheit suggeriert. Das Deutsche ist grammatikalisch strukturierter und zwingt meist zu einer klareren Entscheidung zwischen Möglichem und Faktischem. Im Original heißt es: „Det er, som om dagen er blevet for lille, eller jeg er blevet for tung.“ Urban-Halle übersetzt: „Es ist, als wäre der Tag zu klein geworden oder ich zu schwer. “ Mit der Wahl des Konjunktivs erhöht sich die Melodik des Satzes, was einerseits die Musikalität des Dänischen mimt. Andererseits wirkt das Deutsche dadurch abstrakter, als würde Tara diesen Zustand nicht physisch, sondern nur gedanklich durchleben.
Dinge, die sprechen
Während Balles Monster stampft und dröhnt, drängen sich auch andere Geräusche wiederholt in Taras Bewusstsein. Während Raum und Zeit auseinanderfallen, bleiben akustische Signale elementare Orientierungspunkte der Erzählwelt. Schon auf Seite eins tummeln sich Geräusche aller Art: klickende Gasanzünder, knisternde Teeblätter und summende Rohre leisten Tara in ihrer anfänglichen Einsamkeit Gesellschaft. „Es ist ein Mensch im Haus“, heißt es über ihren Ehemann Thomas, den Geräuschemacher. „Man hört es, wenn er sich oben im Zimmer bewegt.“ In den Geräuschen findet Tara Halt – eine Ordnung, die anderswo zerfällt. Die immer gleichen Laute der Zeitschleife werden zu Fixpunkten. Tara richtet sich in den Intervallen zwischen den Tönen ein und beginnt, in ihnen eine ganz eigene Musik zu hören, die von Stille und Einsamkeit geprägt bleibt.
Der Stille lauschen
Der Umgebung bewusst zu lauschen, verbunden mit der Wahrnehmung akustischer Details, ist immanenter Baustein skandinavischer Erzählwelten. Autor*innen wie Roy Andersson oder Solvej Balle nutzen eine langsame, tonbasierte Erzählweise, in der leise, isolierte Reize nicht nur Kulisse sind, sondern neue Formen von Zeitbewusstsein und Körpergefühl gestalten. Dabei hilft die akustische Orientierung nicht nur, sich selbst in einem Raum zu verorten, sondern sich auch ins Verhältnis mit fremden Körpern und der eigenen Sehnsucht zu setzen: „Ich habe die Geräusche zurückbekommen, aber es sind die Geräusche von Dingen, die fehlen“, stellt Tara fest. Dabei verändern die Klänge ihres Ehemannes, des Geräuschemachers, auch die eigene Gefühlswelt. Die Töne werden zu leeren Hülsen, selbst eine sich öffnende Tür wird zum Sinnbild der Sehnsucht: „Eine Tür zu sein. Berührt zu werden. Und langsam wieder ins Schloss zu schwenken und auf entspannten Angeln zuzufallen.“
Auch metasprachlich durchzieht das Hören den Roman: Als Antiquarin dokumentiert Tara ihre Erlebnisse schriftlich und formt aus den Lauten ihres 18. Novembers eine ganz eigene Klangstruktur, eine eigene Sprache. Kunstvoll überträgt Balle diese Logik der Geräusche in die Sprache des Romans, indem sie das monotone Karussell der Laute in die rhythmische Struktur der Sätze einbindet, die sich wiederholt und als ewiges Echo nachhallt.
Pflücken als Praxis
In seiner Übersetzung zeigt Urban-Halle eine bemerkenswerte Sensibilität für die klangliche Struktur des Originals. Ein Beispiel ist der Umgang mit dem dänischen Begriff „plukke“, der als Metapher für das bewusste Wahrnehmen und Sammeln von Sinneseindrücken verwendet wird. Urban-Halle wählt mit „pflücken“ eine naheliegende Übersetzung, begnügt sich jedoch nicht nur mit der direkten Entsprechung: „Pluk, pluk, pluk. At tage imod det, der er. At plukke og lade det være“, heißt es im Dänischen. Urban-Halle übersetzt folgendermaßen: „Pflücke, pflücke, pflücke! Empfangen, was ist. Pflücken und es sein lassen.“ Während „at tage imod“ wörtlich „annehmen“ bedeutet, übersetzt es Urban-Halle mit „empfangen“, was der Passage eine spirituelle Tiefe verleiht und das bewusste, fast meditative Empfangen der Welt betont. „Empfangen“ suggeriert Offenheit und Hingabe, während „annehmen“ neutraler und pragmatischer bleibt. So schafft Urban-Halle einen subtilen Bedeutungsraum, der die poetische Leichtigkeit des Originals ins Deutsche überträgt und zugleich die geschilderten Erlebnisse um eine kontemplative Dimension erweitert.

Schließlich zeigt sich Urban-Halles Übersetzungskunst auch in seinem Umgang mit der musikalischen Struktur des Textes. In der Passage „Jeg hører underlyde og overlyde og modlydene“ („Ich höre Untertöne, Obertöne und Gegentöne“) böte sich ihm die Möglichkeit, die Übersetzung zu glätten und gebräuchlichere Begriffe zu wählen wie „tiefe“ und „hohe Töne“. Doch er entscheidet sich bewusst für die Wahrung der sperrigen, beinahe technischen Klangstruktur, was dem Text eine fremdartige, fast mechanische Klangästhetik verleiht. Die Entscheidung, die Ungewohntheit und den Rhythmus des Originals beizubehalten, macht die eigensinnige Wahrnehmung der Protagonistin auch im Deutschen hör- und spürbar.
Chronistin des Ungewissen
Fast scherzhaft bemerkte Urban-Halle bei einem Gespräch mit Balle im Literaturhaus Berlin 2023, dass ihm beim Übersetzen des ersten Bandes die Wörter „finden“ und „verschwinden“ auffällig oft begegnet seien. Diese Beobachtung spiegelt nicht nur den dänischen Originaltext wider, sondern ermöglicht auch Einblicke in die übersetzerische Arbeit selbst. Urban-Halle balanciert zwischen der Bewahrung dänischer Eigenheiten und der Schaffung neuer Bedeutungsräume im Deutschen. Dabei verliert er sich nicht in einer allzu glatten Übertragung, sondern lässt Raum für das Fragmentarische, das Unfertige – für das, was zwischen den Zeilen verschwindet und sich neu finden muss.
Taras Sprache, die Repetitionen und Auslassungen, liefern ihr wichtige Fixpunkte in einer eskalierenden Zeit. Ihr unermüdliches Ziel: eine Welt in der Krise zu kartografieren. Aber genau diese Kartografie bleibt bis zuletzt brüchig und unvollständig – sie kann nur in Fragmenten bestehen, in losen Brüchen und einer Verkettung der Unregelmäßigkeiten. Urban-Halle gelingt es, diese Fragilität sprachlich nachzuzeichnen, ohne an poetischer Dichte zu verlieren. Taras Worte tasten nach wiederkehrenden Formen und hoffnungsvollen Abweichungen, kurz: nach einem Ausgang. Doch haben sich die Strukturen der Welt, auf die sie stets bauen konnte, längst aufgelöst.
Besonders deutlich wird diese Suche nach logischen Mustern und berechenbaren Möglichkeiten, wenn Tara über die Unwahrscheinlichkeit menschlicher Existenz nachdenkt. Schon früh muss sich Balles Protagonistin eingestehen, dass ihre Erwartungen an eine konsistente Welt auf unsicherem Fundament beruhen. In Urban-Halles Übersetzung bleibt diese existenzielle Dringlichkeit erhalten – er fängt nicht nur die sprachliche Komplexität, sondern auch die atmosphärische Schwere der Vorlage ein. Tara wird zur Chronistin des Ungewissen, der temporalen Anomalien und Verzerrungen. In ihrer Welt gibt es keine Garantien, keine absoluten Versprechen mehr. Denn überall lauern sie: die plötzlichen Risse und unaussprechlichen Gesetzesbrüche, denen es standzuhalten gilt.