„Mei­ne Tage sind porös“

Mit „Über die Berechnung des Rauminhalts“ entfaltet die dänische Autorin Solvej Balle in ihrer siebenteiligen Chronik des Ungewissen eine eigenwillige Zeitschleifen-Erzählung. Peter Urban-Halle hat die Bände I–III mit bemerkenswerter Sensibilität ins Deutsche übertragen. Von

Drei Coverbilder der Romane "Über die Berechnung des Rauminhalts" I-III. Im Hintergrund ist ein netzartiger Schatten auf einer Hauswand zu sehen.
Cover der Roman-Reihe "Über die Berechnung des Rauminhalts". Hintergrundbild: Tim Mossholder via Unsplash

Mit prä­zi­ser, fast mathe­ma­ti­scher Spra­che zer­legt die däni­sche Schrift­stel­le­rin Sol­vej Bal­le in ihrem Roman­zy­klus Om udreg­ning af rum­fang (Über die Berech­nung des Raum­in­halts) Raum und Zeit in unbe­stimm­te Varia­blen – und setzt sie in einer radi­kal sub­jek­ti­ven Rea­li­tät neu zusam­men. Damit wagt sie ein sprach­li­ches Expe­ri­ment, das der deut­schen Über­set­zung ganz eige­ne Gren­zen setzt. Ein däni­sches Sprach­spiel über das Uner­müd­li­che, das Unbe­re­chen­ba­re – und eine Welt, die sich immer wie­der selbst auf null setzt. 

Der däni­sche Lyri­ker Hen­rik Nord­brandt ver­dich­te­te bereits 1986 in nur weni­gen Ver­sen die beklem­men­de Ein­öde nor­di­scher Win­ter. Man­tra­ar­tig beschwört er eine Dun­kel­heit, in der die Zeit stillsteht: 

Das Jahr hat 16 Mona­te: Novem­ber 
Dezem­ber, Janu­ar, Febru­ar, März, April 
Mai, Juni, Juli, August, Sep­tem­ber 
Okto­ber, Novem­ber, Novem­ber, Novem­ber, November.

Statt weni­ger Ver­se wid­met Bal­le ihrer Erkun­dung des Raum­zeit­li­chen ein sie­ben­tei­li­ges Werk, des­sen ers­te fünf Bän­de zwi­schen 2020 und 2023 beim däni­schen Ver­lag Pela­graf erschie­nen, der von der Autorin mit­be­grün­det wur­de. Das Pro­jekt schlug von Beginn an hohe Wel­len: So erhiel­ten Om udreg­ning af rum­fang I, II und III für sich genom­men bereits den Lite­ra­tur­preis des Nor­di­schen Rates 2022. Strin­gent und sim­pel erzählt Bal­le dar­in die Geschich­te der Buch­an­ti­qua­rin Tara Sel­ter, die in einer end­los wie­der­keh­ren­den Schlei­fe aus acht­zehn­ten Novem­bern gefan­gen ist. 

Die phi­lo­so­phisch anspruchs­vol­len und sti­lis­tisch inno­va­ti­ven Roma­ne der Autorin, gebo­ren 1962 im däni­schen Bovrup, rei­chen weit über Skan­di­na­vi­en hin­aus. Bal­les Schrei­ben ver­bin­det expe­ri­men­tel­le Ansät­ze mit prä­zi­ser Spra­che und phi­lo­so­phi­scher Tie­fe. Sie stu­dier­te Lite­ra­tur­wis­sen­schaft und Phi­lo­so­phie in Kopen­ha­gen und debü­tier­te 1986. Inter­na­tio­na­le Bekannt­heit erlang­te sie jedoch erst mit ihrem jüngs­ten Roman­zy­klus. Über die Berech­nung des Raum­in­halts I, II und III erschie­nen in deut­scher Über­set­zung von Peter Urban-Hal­le bei Matthes & Seitz Ber­lin. Sei­ne fas­zi­nie­rend nüch­ter­ne, zugleich klang­lich fein aus­ta­rier­te Über­set­zung fängt Bal­les Stil prä­zi­se ein und über­trägt ihre exis­ten­zi­el­le Dring­lich­keit ins Deut­sche. Als Lite­ra­tur­kri­ti­ker und Über­set­zer zählt er zu den wich­tigs­ten Ver­mitt­lern skan­di­na­vi­scher Lite­ra­tur im deut­schen Sprachraum. 

Zeit als Fluss, Bruch, Wachstum 

„Mei­ne Tage sind porös“, resü­miert die Prot­ago­nis­tin Tara an ihrem ein­tau­send­sechs­hun­dert­elf­ten 18. Novem­ber. Was ein­mal wie fes­ter Beton wirk­te, ent­puppt sich als von klei­nen Hohl­räu­men durch­setzt. Dabei ent­glei­tet die Zeit ihrem prä­zi­sen Ras­ter aus Sekun­den und Mil­li­se­kun­den. Trotz der Pro­to­kol­le, die sie peni­bel führt, und den mathe­ma­ti­schen Berech­nun­gen, die sie anstellt, bleibt ihre Glei­chung ver­schwom­men: Wie ist Tara in die wag­hal­si­ge Zeit­schlei­fe der tris­ten Novem­ber­ta­ge gera­ten? Wer trägt Schuld? War­um altert ihr Kör­per nicht, die Gegen­stän­de um sie her­um aber schon? Früh merkt sie: Sie ist zu groß für den Raum, in dem sie gestran­det ist. Denn das Gemü­se, das sie im Gar­ten geern­tet hat, wächst nicht nach, und die Rega­le im nahe­ge­le­ge­nen Super­markt, an denen sie sich bedient, wir­ken schon bald wie geplün­dert. Im Ver­lauf der Ereig­nis­se begeg­net Tara wei­te­ren Men­schen, die in der­sel­ben Zeit­schlei­fe fest­ste­cken, dar­un­ter Hen­ry Dale, der sie aus ihrem klaus­tro­pho­bi­schen Allein­sein ret­tet. Spä­ter gesel­len sich wei­te­re Gefähr­ten zu ihr, die in dem, was zunächst wie eine per­sön­li­che Tra­gö­die scheint, gar ethi­sche und gesell­schaft­li­che Ebe­nen erken­nen: Was, wenn sich die Zeit­schlei­fe nut­zen lie­ße, um die Welt zu verbessern? 

Bal­le greift für ihr lite­ra­ri­sches Kunst­stück auf eine uner­schöpf­li­che Viel­falt an Bil­dern zurück: Die Zeit wird zum Fluss, der über die Ufer tritt, zu tek­to­ni­schen Plat­ten, die sich ver­schie­ben, zu wuchern­dem Unkraut, das im eige­nen Schat­ten ver­küm­mert. Tara spricht von para­tak­ti­schen Zeit­auf­fas­sun­gen und varia­bler Chro­no­me­trie, von tem­po­ra­len Sprün­gen und chro­no­to­xi­scher Rekur­renz. Ähn­lich wie die Figu­ren in Bal­les frü­he­rem Werk Iføl­ge loven – Fire beret­nin­ger om men­nes­ket (Nach dem Gesetz Vier Berich­te über den Men­schen) sucht auch Tara hän­de­rin­gend nach wis­sen­schaft­li­chen Theo­rien, die ihre miss­li­che Lage erklä­ren könnten. 

Zwi­schen Phi­lo­so­phie und Popkultur 

Bal­les sie­ben­tei­li­ges Werk lässt sich nur wider­spens­tig in die Rei­he klas­si­scher Zeit­schlei­fen-Erzäh­lun­gen ein­ord­nen. Wäh­rend Und täg­lich grüßt das Mur­mel­tier (1993) das Motiv end­gül­tig im Main­stream ver­an­ker­te, nut­zen Com­pu­ter­spie­le wie The Legend of Zel­da: Majora’s Mask aus den Nuller­jah­ren die Zeit­schlei­fe als Game­play-Mecha­nik, um Aben­teu­er und Fort­schritt zu simu­lie­ren. Ein aktu­el­le­res Bei­spiel lie­fert die Net­flix-Serie Rus­si­an Doll (2019): Nadia Vul­vo­kov (Nata­sha Lyon­ne) durch­lebt immer wie­der die­sel­be Par­ty­nacht. In schnel­len, dia­log­las­ti­gen Sequen­zen nutzt sie die Zeit­schlei­fe als emo­tio­na­le Kathar­sis. Dage­gen ent­fal­tet Bal­les intro­spek­ti­ve Roman­rei­he ein fra­gil verz­wirn­tes Netz von phi­lo­so­phi­scher Tie­fe und minu­tiö­ser Sin­nes­er­fas­sung, das sich so sorg­sam wie melan­cho­lisch bis ins Inners­te der Din­ge gräbt. 

Räu­me, die überlaufen 

Gemü­se­bee­te lee­ren sich Fur­che um Fur­che, Kühl­the­ken lich­ten sich – doch eng getra­ge­ne Klei­dung bleibt, und Essens­vor­rä­te fül­len sich aus dem Nichts. Schnell erkennt Tara: Der Raum und die Din­ge um sie fol­gen eige­nen, undurch­dring­li­chen Regel­sät­zen. Objek­te fol­gen ihr nur zöger­lich in den neu­en Tag, „als schwank­ten sie zwi­schen den Mög­lich­kei­ten der Zeit hin und her, am Ran­de einer Zeit, die ver­ging, und einer Zeit, die wie­der­kehr­te.“ Ihr Kör­per hin­ge­gen behält und heilt Wun­den, lässt Haa­re und Nägel wach­sen, bis man sie in klei­nen Stück­chen Zeit den Abfluss hinunterspült.

Dass Taras Kör­per und der Raum, in dem er exis­tiert, immer wie­der aus­ein­an­der­drif­ten und nur schwie­rig zurück zuein­an­der­fin­den, zeigt sich auch im Bild eines gefrä­ßi­gen Monsters:

Jeg kan ikke læn­ge­re fly­de igen­nem dagen. Det er, som om dagen er ble­vet for lil­le, eller jeg er ble­vet for tung. Som om jeg er ble­vet stor og ufor­me­lig. Et mons­ter kann ikke fly­de ind og ud af en dag, et mons­ter er ikke fly­den­de. Det kan ikke løbe ind på dagens tom­me steder. Det fly­der over. Det vok­ser. Det kan ikke gem­me sig i ver­den. Et mons­ter gun­grer. Det tram­per. Det kan ikke være stil­le. Det kan ikke spil­le med i et stil­fær­digt husor­kes­ter. Et mons­ter er lang­somt og tungt. Dage­ne begyn­der at gå lang­som­me­re. Jeg fyl­der. Jeg fly­der ikke. Det er mig, der sæt­ter far­ten ned. 

Ich kann nicht mehr durch den Tag trei­ben. Es ist, als wäre der Tag zu klein gewor­den oder ich zu schwer. Als wäre ich groß und unför­mig gewor­den. Ein Mons­ter kann nicht in einen Tag hin­ein- und aus ihm hin­aus­trei­ben, ein Mons­ter treibt nicht. Es kann nicht in die Leer­stel­len des Tages ein­lau­fen. Es läuft über. Es wächst. Es kann sich nicht in der Welt ver­ber­gen. Ein Mons­ter dröhnt. Es stampft. Es kann nicht still sein. Es kann in einem beschei­de­nen Haus­or­ches­ter nicht mit­spie­len. Ein Mons­ter ist lang­sam und schwer­fäl­lig. Die Tage fan­gen an, lang­sa­mer zu ver­ge­hen. Ich neh­me Platz ein. Ich trei­be nicht. Ich bin es, die die Geschwin­dig­keit herabsetzt. 

Was in der deut­schen Über­set­zung von Peter Urban-Hal­le bereits klang­voll zur Gel­tung kommt, ist dem däni­schen Ori­gi­nal noch inhä­ren­ter: Bal­les Rhyth­mik, die mit repe­ti­ti­ven und mini­ma­lis­ti­schen Sät­zen einen drän­gen­den, fast mecha­ni­schen Ton anschlägt. Das Däni­sche arbei­tet mit kur­zen, para­tak­ti­schen Sät­zen, die Bal­les Spra­che beson­ders zum Leuch­ten brin­gen. Im Gegen­satz dazu wirkt das hypo­tak­ti­sche Deut­sche mit sei­nen län­ge­ren, ver­schach­tel­ten Satz­struk­tu­ren oft wei­cher und tän­zeln­der. An Stel­len, an denen sich der deut­sche Text bemüht, die knap­pen däni­schen Sät­ze ein­zu­hal­ten, muss Urban-Hal­le vor allem zwei­er­lei beach­ten: Zum einen den Ver­zicht auf schwer­fäl­li­ge­re For­mu­lie­run­gen, zu denen das Deut­sche ten­diert und die die däni­sche Prä­gnanz schnell ver­wäs­sern. Zum ande­ren eine Bei­be­hal­tung rhyth­mi­scher und hyp­no­ti­scher Wie­der­ho­lun­gen, ohne dabei mono­to­ne Effek­te zu riskieren. 

Däni­sche Wör­ter sind häu­fig von spie­le­ri­scher Mehr­deu­tig­keit, wäh­rend deut­sches Voka­bu­lar durch sei­ne hohe seman­ti­sche Prä­zi­si­on besticht. Um den exak­ten, mecha­ni­schen Ablauf der Din­ge zu beschrei­ben, muss sich Urban-Hal­le immer wie­der zwi­schen Bedeu­tungs­ebe­nen ent­schei­den, die das Däni­sche oft unauf­ge­löst neben­ein­an­der ste­hen lässt. So beschreibt das däni­sche Verb „fly­der“ ein flie­ßen­des, fast schwe­ben­des Dahin­glei­ten, beson­ders in Was­ser oder Luft. Urban-Hal­le über­setzt es mit „trei­ben“, das im Deut­schen pas­si­ver klingt, als sei die Bewe­gung von äuße­ren Kräf­ten bestimmt, wäh­rend die Welt im Däni­schen in einer orga­ni­schen, flie­ßen­den Bewe­gung zu ent­glei­ten scheint. Was Urban-Hal­le im deut­schen Trei­ben jedoch zusätz­lich anlegt: ein Gefühl der Schwe­re und des Sogs, wel­ches das däni­sche Ori­gi­nal atmo­sphä­risch stark ein­bin­det, aber nicht wört­lich benennt. 

Wei­ter­hin ver­har­ren die däni­schen Sät­ze häu­fig in einer Schwe­be zwi­schen Indi­ka­tiv und Kon­junk­tiv, was eine gewis­se gedank­li­che Offen­heit sug­ge­riert. Das Deut­sche ist gram­ma­ti­ka­lisch struk­tu­rier­ter und zwingt meist zu einer kla­re­ren Ent­schei­dung zwi­schen Mög­li­chem und Fak­ti­schem. Im Ori­gi­nal heißt es: „Det er, som om dagen er ble­vet for lil­le, eller jeg er ble­vet for tung.“ Urban-Hal­le über­setzt: „Es ist, als wäre der Tag zu klein gewor­den oder ich zu schwer. “ Mit der Wahl des Kon­junk­tivs erhöht sich die Melo­dik des Sat­zes, was einer­seits die Musi­ka­li­tät des Däni­schen mimt. Ande­rer­seits wirkt das Deut­sche dadurch abs­trak­ter, als wür­de Tara die­sen Zustand nicht phy­sisch, son­dern nur gedank­lich durchleben. 

Din­ge, die sprechen 

Wäh­rend Bal­les Mons­ter stampft und dröhnt, drän­gen sich auch ande­re Geräu­sche wie­der­holt in Taras Bewusst­sein. Wäh­rend Raum und Zeit aus­ein­an­der­fal­len, blei­ben akus­ti­sche Signa­le ele­men­ta­re Ori­en­tie­rungs­punk­te der Erzähl­welt. Schon auf Sei­te eins tum­meln sich Geräu­sche aller Art: kli­cken­de Gas­an­zün­der, knis­tern­de Tee­blät­ter und sum­men­de Roh­re leis­ten Tara in ihrer anfäng­li­chen Ein­sam­keit Gesell­schaft. „Es ist ein Mensch im Haus“, heißt es über ihren Ehe­mann Tho­mas, den Geräu­sche­ma­cher. „Man hört es, wenn er sich oben im Zim­mer bewegt.“ In den Geräu­schen fin­det Tara Halt – eine Ord­nung, die anders­wo zer­fällt. Die immer glei­chen Lau­te der Zeit­schlei­fe wer­den zu Fix­punk­ten. Tara rich­tet sich in den Inter­val­len zwi­schen den Tönen ein und beginnt, in ihnen eine ganz eige­ne Musik zu hören, die von Stil­le und Ein­sam­keit geprägt bleibt.

Der Stil­le lauschen 

Der Umge­bung bewusst zu lau­schen, ver­bun­den mit der Wahr­neh­mung akus­ti­scher Details, ist imma­nen­ter Bau­stein skan­di­na­vi­scher Erzähl­wel­ten. Autor*innen wie Roy Anders­son oder Sol­vej Bal­le nut­zen eine lang­sa­me, ton­ba­sier­te Erzähl­wei­se, in der lei­se, iso­lier­te Rei­ze nicht nur Kulis­se sind, son­dern neue For­men von Zeit­be­wusst­sein und Kör­per­ge­fühl gestal­ten. Dabei hilft die akus­ti­sche Ori­en­tie­rung nicht nur, sich selbst in einem Raum zu ver­or­ten, son­dern sich auch ins Ver­hält­nis mit frem­den Kör­pern und der eige­nen Sehn­sucht zu set­zen: „Ich habe die Geräu­sche zurück­be­kom­men, aber es sind die Geräu­sche von Din­gen, die feh­len“, stellt Tara fest. Dabei ver­än­dern die Klän­ge ihres Ehe­man­nes, des Geräu­sche­ma­chers, auch die eige­ne Gefühls­welt. Die Töne wer­den zu lee­ren Hül­sen, selbst eine sich öff­nen­de Tür wird zum Sinn­bild der Sehn­sucht: „Eine Tür zu sein. Berührt zu wer­den. Und lang­sam wie­der ins Schloss zu schwen­ken und auf ent­spann­ten Angeln zuzufallen.“

Auch meta­sprach­lich durch­zieht das Hören den Roman: Als Anti­qua­rin doku­men­tiert Tara ihre Erleb­nis­se schrift­lich und formt aus den Lau­ten ihres 18. Novem­bers eine ganz eige­ne Klang­struk­tur, eine eige­ne Spra­che. Kunst­voll über­trägt Bal­le die­se Logik der Geräu­sche in die Spra­che des Romans, indem sie das mono­to­ne Karus­sell der Lau­te in die rhyth­mi­sche Struk­tur der Sät­ze ein­bin­det, die sich wie­der­holt und als ewi­ges Echo nachhallt. 

Pflü­cken als Praxis

In sei­ner Über­set­zung zeigt Urban-Hal­le eine bemer­kens­wer­te Sen­si­bi­li­tät für die klang­li­che Struk­tur des Ori­gi­nals. Ein Bei­spiel ist der Umgang mit dem däni­schen Begriff „pluk­ke“, der als Meta­pher für das bewuss­te Wahr­neh­men und Sam­meln von Sin­nes­ein­drü­cken ver­wen­det wird. Urban-Hal­le wählt mit „pflü­cken“ eine nahe­lie­gen­de Über­set­zung, begnügt sich jedoch nicht nur mit der direk­ten Ent­spre­chung: „Pluk, pluk, pluk. At tage imod det, der er. At pluk­ke og lade det være“, heißt es im Däni­schen. Urban-Hal­le über­setzt fol­gen­der­ma­ßen: „Pflü­cke, pflü­cke, pflü­cke! Emp­fan­gen, was ist. Pflü­cken und es sein las­sen.“ Wäh­rend „at tage imod“ wört­lich „anneh­men“ bedeu­tet, über­setzt es Urban-Hal­le mit „emp­fan­gen“, was der Pas­sa­ge eine spi­ri­tu­el­le Tie­fe ver­leiht und das bewuss­te, fast medi­ta­ti­ve Emp­fan­gen der Welt betont. „Emp­fan­gen“ sug­ge­riert Offen­heit und Hin­ga­be, wäh­rend „anneh­men“ neu­tra­ler und prag­ma­ti­scher bleibt. So schafft Urban-Hal­le einen sub­ti­len Bedeu­tungs­raum, der die poe­ti­sche Leich­tig­keit des Ori­gi­nals ins Deut­sche über­trägt und zugleich die geschil­der­ten Erleb­nis­se um eine kon­tem­pla­ti­ve Dimen­si­on erweitert. 

Schließ­lich zeigt sich Urban-Hal­les Über­set­zungs­kunst auch in sei­nem Umgang mit der musi­ka­li­schen Struk­tur des Tex­tes. In der Pas­sa­ge „Jeg hører under­ly­de og over­ly­de og mod­ly­de­ne“ („Ich höre Unter­tö­ne, Ober­tö­ne und Gegen­tö­ne“) böte sich ihm die Mög­lich­keit, die Über­set­zung zu glät­ten und gebräuch­li­che­re Begrif­fe zu wäh­len wie „tie­fe“ und „hohe Töne“. Doch er ent­schei­det sich bewusst für die Wah­rung der sper­ri­gen, bei­na­he tech­ni­schen Klang­struk­tur, was dem Text eine fremd­ar­ti­ge, fast mecha­ni­sche Klang­äs­the­tik ver­leiht. Die Ent­schei­dung, die Unge­wohnt­heit und den Rhyth­mus des Ori­gi­nals bei­zu­be­hal­ten, macht die eigen­sin­ni­ge Wahr­neh­mung der Prot­ago­nis­tin auch im Deut­schen hör- und spürbar. 

Chro­nis­tin des Ungewissen 

Fast scherz­haft bemerk­te Urban-Hal­le bei einem Gespräch mit Bal­le im Lite­ra­tur­haus Ber­lin 2023, dass ihm beim Über­set­zen des ers­ten Ban­des die Wör­ter „fin­den“ und „ver­schwin­den“ auf­fäl­lig oft begeg­net sei­en. Die­se Beob­ach­tung spie­gelt nicht nur den däni­schen Ori­gi­nal­text wider, son­dern ermög­licht auch Ein­bli­cke in die über­set­ze­ri­sche Arbeit selbst. Urban-Hal­le balan­ciert zwi­schen der Bewah­rung däni­scher Eigen­hei­ten und der Schaf­fung neu­er Bedeu­tungs­räu­me im Deut­schen. Dabei ver­liert er sich nicht in einer all­zu glat­ten Über­tra­gung, son­dern lässt Raum für das Frag­men­ta­ri­sche, das Unfer­ti­ge – für das, was zwi­schen den Zei­len ver­schwin­det und sich neu fin­den muss.

Taras Spra­che, die Repe­ti­tio­nen und Aus­las­sun­gen, lie­fern ihr wich­ti­ge Fix­punk­te in einer eska­lie­ren­den Zeit. Ihr uner­müd­li­ches Ziel: eine Welt in der Kri­se zu kar­to­gra­fie­ren. Aber genau die­se Kar­to­gra­fie bleibt bis zuletzt brü­chig und unvoll­stän­dig – sie kann nur in Frag­men­ten bestehen, in losen Brü­chen und einer Ver­ket­tung der Unre­gel­mä­ßig­kei­ten. Urban-Hal­le gelingt es, die­se Fra­gi­li­tät sprach­lich nach­zu­zeich­nen, ohne an poe­ti­scher Dich­te zu ver­lie­ren. Taras Wor­te tas­ten nach wie­der­keh­ren­den For­men und hoff­nungs­vol­len Abwei­chun­gen, kurz: nach einem Aus­gang. Doch haben sich die Struk­tu­ren der Welt, auf die sie stets bau­en konn­te, längst aufgelöst. 

Beson­ders deut­lich wird die­se Suche nach logi­schen Mus­tern und bere­chen­ba­ren Mög­lich­kei­ten, wenn Tara über die Unwahr­schein­lich­keit mensch­li­cher Exis­tenz nach­denkt. Schon früh muss sich Bal­les Prot­ago­nis­tin ein­ge­ste­hen, dass ihre Erwar­tun­gen an eine kon­sis­ten­te Welt auf unsi­che­rem Fun­da­ment beru­hen. In Urban-Hal­les Über­set­zung bleibt die­se exis­ten­zi­el­le Dring­lich­keit erhal­ten – er fängt nicht nur die sprach­li­che Kom­ple­xi­tät, son­dern auch die atmo­sphä­ri­sche Schwe­re der Vor­la­ge ein. Tara wird zur Chro­nis­tin des Unge­wis­sen, der tem­po­ra­len Anoma­lien und Ver­zer­run­gen. In ihrer Welt gibt es kei­ne Garan­tien, kei­ne abso­lu­ten Ver­spre­chen mehr. Denn über­all lau­ern sie: die plötz­li­chen Ris­se und unaus­sprech­li­chen Geset­zes­brü­che, denen es stand­zu­hal­ten gilt.

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