
Am 27. März werden die Preise der Leipziger Buchmesse verliehen, unter anderem in der Kategorie Übersetzung. Auf TraLaLit stellen wir die Nominierten vor. Alle Beiträge der Reihe sind hier zu finden.
Das Buch
Es ist unmöglich, dieses Buch in einem Zug zu lesen wie einen Roman oder ein Sachbuch, in das man sich hineinbegibt, um in andere Welten einzutauchen. Bei Feuerdörfer braucht man mehrere Anläufe und ausgedehnte Pausen. Immer wieder will man die Lektüre abbrechen, eintauchen will man in diese Welt nicht. Die Grausamkeiten sind zu überwältigend, der Schrecken erschlagend. Dieses Buch lässt Menschen zu Wort kommen, die Unvorstellbares überlebt haben. Sie berichten, wie Menschen im sowjetischen Belarus von Strafkommandos der Wehrmacht, der SS und ihren Helfern gemordet und in Häusern oder Scheunen verbrannt.
„Auf den Seiten dieses Buches sind Menschen versammelt, die durchs Feuer gegangen sind, die schon unter der Erde waren“, heißt es im Vorwort. „Und das im wahrsten Sinne des Wortes. Die Menschen aus den Feuerdörfern sind hier versammelt, um Zeugnis abzulegen, Fragen zu stellen, zu urteilen, zu erzählen, was zu wissen entsetzlich und was zu vergessen gefährlich ist.“ Dass dieses Buch nun erstmals auf Deutsch erscheinen kann – 50 Jahre, nachdem es trotz anfänglicher Vorbehalte der sowjetischen Zensurbehörden in Minsk veröffentlicht wurde –, ist ein Ereignis. „Dieses Buch hat kein Alter“, schreibt Valzhyna Mort, eine der bekanntesten zeitgenössischen Lyrikerinnen aus Belarus. „Die Wirkung ist so total, dass ich sie gar nicht als solche begreife. Wenn man dieses Buch einmal gelesen hat, muss man für immer damit leben.“
Die Autoren Ales Adamowitsch, Janka Bryl und Uladsimir Kalesnik sind zwischen 1970 und 1973 durch Belarus gereist und haben 147 Ortschaften besucht und dort 300 Gespräche geführt und aufgezeichnet. Sie haben mit Überlebenden und Zeugen der sogenannten „verbrannten Dörfer“ gesprochen. Als Strafaktion gegen die Partisanenangriffe hatten die NS-Besatzer zwischen 1941 und 1944 über 9000 Dörfer und Siedlungen zerstört, die Einwohner auf bestialische Weise umgebracht. Der Film Komm und sieh von Elem Klimow aus dem Jahr 1985 verarbeitet die Verbrechen mit den Mitteln des Kinos. Auch heute, da drastische Gewaltdarstellungen Alltag sind, ist die emotionale Wucht und Schonungslosigkeit dieses Films unerreicht.
Das Drehbuch zu dem Film stammt von Adamowitsch, der wie die anderen Autoren von Feuerdörfer selbst als Partisan im Widerstand kämpfte, und basieret auf den dort versammelten Berichten und seinen eigenen Erfahrungen. Er war getrieben von der Idee, den Krieg und das Leiden zu erzählen, wie es ist – ohne Heldenpathos und falsche Hoffnungen. Er suchte nach einer Möglichkeit, denen, die Unsagbares erlebt hatten, eine Stimme zu geben. Die einfachen Menschen und ihre allzu wahrhaftigen Geschichten waren nicht Teil der offiziellen Sowjetideologie in Literatur und Kunst, wo der Sieg über den Faschismus glorreich und glänzend sein musste. Der Sowjetmensch durfte kein Opfer sein. Das menschliche Leid in all seinen Schattierungen hatte dort kaum Platz. Hören wir die 66-jährige Barbarka, die fliehen konnte, als die Deutschen ihr Dorf ansteckten:
„Und so lieg ich da! Das Dach brennt schon. Verbrennt ganz. Und die zwei Deutschen stehen da.Wie blaue Säulen.Und die Wände fangen Feuer. Und dann fängt die Erde Feuer. Das Grünzeug da fängt Feuer, beim Schuppen. Und ich lieg mittendrin. Hier brennt es mich, da brennt es. Gott sei Dank hatten wir unsere gewebten Kleider, aus Schafwolle. So einen Mantel hatte ich an. In der Jacke wär ich verbrannt.“
Adamowitsch, Bryl und Kalesnik transkribierten die Gespräche mit den Zeitzeugen und montierten sie zu einer vielstimmigen Collage von Leid und Schrecken, ohne Rücksicht auf Redundanzen, logische Sprünge oder andere Unklarheiten. Die Erzählungen sollten so unmittelbar sein, wie sie aus dem Gedächtnis der Menschen flossen. Im Vorwort heißt es:
„Wir sahen unsere Aufgabe darin, den unerträglichen Grad des menschlichen Schmerzes, der Fassungslosigkeit und des Zorns, die sich nicht allein in Worten zeigen, sondern auch in Stimmen, Augen und Gesichtern im Zustand des Plasmas zu bewahren und zu erhalten; all das zu erhalten, was den Menschen, der mit uns sprach, umgab wie die Luft, den Menschen, der sich nun auf den Seiten dieses Buches an den Leser wendet, an Sie.“
Als das Buch erschien, löste es eine Welle der Erschütterung aus. „Dieses Buch zu lesen, fällt schwer. Unerträglich schwer“, schrieb der Literaturkritiker Lasar Lasarew damals. „In dieser Art und Weise hatte noch niemand über den Krieg gelesen“, sagt Swetlana Alexijewitsch in einem Special des Online-Portals dekoder, das die Entstehungs- und Wirkungsgeschichte des Buches umfassend beleuchtet und das die Veröffentlichung der ersten deutschen Übersetzung im November 2024 begleitete. Alexijewitsch hatte das Buch gleich nach Erscheinen gelesen. Als junge Autorin war sie auf der Suche nach ihrer eigenen literarischen Stimme. Für sie sollte die Lektüre richtungsweisend sein. Feuerdörfer und Adamowitsch haben die Dokumentarprosa der belarussischen Literaturnobelpreisträgerin entscheidend geprägt.
Die Jury-Begründung
Anfang der 70er-Jahre haben Ales Adamowitsch, Janka Bryl und Uladsimir Kalesnik mit Hunderten Überlebenden aus von der Wehrmacht niedergebrannten belarussischen Dörfern gesprochen. Thomas Weiler macht die unvorstellbaren Aussagen der Dorfbewohner:innen nun erstmals einer deutschen Leserschaft zugänglich. Seine am Mündlichen orientierte Übersetzung entlarvt die entsetzliche Grausamkeit des Erlebten und zeigt die Grenzen der Sprache in der brennenden Wahrheit dieser Berichte auf.
Die Übersetzung
Der Übersetzer Thomas Weiler hat eine Mammutleistung vollbracht, nicht nur in Hinblick auf die psychische Anstrengung, sich durch all diese furchtbaren Schilderungen zu arbeiten und eine Sprache für das Unsagbare zu finden, sondern auch angesichts der Herausforderung einer komplexen dialektalen Vielfalt, wie sie für belarussische Provinz typisch ist, und des bunten Sprachenmix aus ukrainischen, belarussischen, russischen oder polnischen Einsprengseln, die die versammelten Zeitzeugenberichte mit sich bringen.
Im Toledo-Journal gibt Weiler spannende Einblicke in die Entstehungsgeschichte des Buches und in seine Arbeit am Text. Dabei veranschaulicht er, wie sich seine übersetzerische Richtungsentscheidung entwickelt hat. Es sei nicht das Ziel gewesen, schreibt er, jeden dialektalen Ausdruck in der Übersetzung adäquat abzubilden. „Bei der Lektüre der deutschen Fassung sollte erlebbar werden, dass hier zumeist Menschen vom Lande sprechen, mal in geringerem, häufig in größerem Abstand zur Standardsprache. Menschen, die sich in der Sowjetunion der frühen 1970er Jahre über traumatische Erfahrungen äußern, die sie oft als Kinder oder Jugendliche gemacht hatten.“
Die Autoren des Originaltextes waren zwar bestrebt, Authentizität zu erzeugen und das Gesagte durch eine möglichst große Nähe zur gesprochenen Sprache wiederzugeben. Dennoch muss das Gesagte schließlich lesbar und verständlich bleiben beziehungsweise werden. Also musste die Sprache bei der Verschriftlichung der Aufnahmen verändert werden. Weiler drückt es so aus: „Gesprochene Sprache verändert sich auf dem Weg durchs Mikrofon aufs Papier, Nähesprache lässt sich immer nur mit Abstrichen verschriftlichen, literarische Mündlichkeit ist nicht authentische Mündlichkeit sondern deren Simulation.“
Weiler hat deswegen „etliche Wiederholungen, Redundanzen, Zeitsprünge und Ellipsen“, die die Autoren bei der Verschriftlichung der Interview-Aufnahmen übernommen haben, auch in seiner Übersetzung beibehalten. Dank seiner akribischen Recherchearbeit zur Vorgehensweise des Autoren-Trios konnte er beispielsweise auch nachweisen, dass die Sprache bei der Verschriftlichung an bestimmten Stellen stärker „belarussisch gemacht“ wurde. „Da wird bei Maryja Kot aus einem auf der Schallplatte deutlich hörbaren russischen patóm ein belarussisches pótym und aus patalók ein stol oder bei Michail Kasjol aus einem útrom ein ránizami.“
Weiler konnte diese Korrekturen nachweisen, weil der belarussischen Originalausgabe zwei flexible Schallplatten mit ein paar Interviewaufnahmen beigelegt waren. So konnte er das Gesprochene mit dem Text im Buch abgleichen. Warum aber diese Eingriffe durch die Autoren? Da sich nicht mehr nachvollziehen lässt, wie die Autoren gemeinsam an dem Buch gearbeitet haben und wie die Aufgabenteilung aussah, kann man zu solchen Fragen nur mutmaßen. Weiler aber hat eine Ahnung, warum der Text belarussischer ausgefallen ist als die O‑Tönes es waren. „Bryl, der auch selbst vor allem auf Belarussisch publiziert hat“, sagt Weiler im Gespräch, „war es wohl grundsätzlich wichtig, das Belarussische zu fördern, weil es gegenüber dem Russischen in der deutlich schwächeren Position war.“
Zudem meint Weiler, dass der Bruch zu einer Erzählerstimme, die durchgehend Russisch gewesen wäre, zu groß gewesen wäre. „Denn die Menschen sprachen ja vor allem Belarussisch oder eben Trasjanka, also eine Mischsprache.“ Weshalb die O‑Töne letztlich ins Belarussische korrigiert wurden, erklärt Weiler deswegen als eine Art Reflex beim Lektorat, hinter dem wohl kein durchdachtes Konzept stand.
Um den richtigen Ton, die richtige Sprache für die Übersetzung zu finden, hat sich Weiler auch Passagen aus dem Buch angeschaut, die beispielsweise Historiker oder Slawisten für ihre Arbeiten ins Deutsche übersetzt haben. Dabei erläutert er seine übersetzerischen Entscheidungen. Wie hier am Beispiel einer Passage aus einer Übersetzung der Historiker Aljaksandr Dalhouski, Christoph Rass und Lukas Hennies:

Weilers Übersetzung ist insgesamt nah am Gesprochenen, am Menschlichen, wenn man so will. So wird der ganze Schrecken des Erzählten offenbar. Dennoch weiß sich der Leser bei Weilers Übersetzung in einem Buch, wähnt sich bei der Lektüre gleichzeitig als Zuhörer dieser ungeheuerlichen Erzählungen. Das ist die große Kunst von dieser Übersetzung. wie auch folgendes Beispiel zeigt. Hier berichtet Nina Knjasewa, wie sie Zeugin von Erschießungen in ihrem Dorf Krasniza wurde.
„Ich hab immer hingeschaut, so lang sie auf den Boden geschossen haben. Danach dann auf mich! Ja, als ich dann getroffen war, hab ich
mich hingelegt. Und mein jüngerer Bruder, da am Schornstein zusammengekauert, den hat es nicht getroffen. Aber Mutter als Erste, sie lag ja so, den Kopf hinterm Schornstein. Und sie hat, als sie geschossen haben, spritzte es so, das Fleisch ist ihr an den Kopf geflogen. Ja, sie haben weiter auf den Ofen geschossen. Auf die Oma haben sie gefeuert, die war immer noch am Leben. Die Mutter war verwundet, dort waren alle tot …“
Warum aber hat es ein halbes Jahrhundert gedauert, bis dieses wichtige Buch auf Deutsch erscheinen konnte? Warum ist eine Übersetzung nicht bereits zur Zeit der DDR veröffentlicht worden? Die Slawistin Nina Weller ist diesen Fragen nachgegangen und hat herausgefunden, dass beim Verlag Volk und Welt bereits 1974 eine Übersetzung zur Diskussion stand. Lag es eventuell an den drastischen Gewaltdarstellungen, dass man sich damals dagegen entschied? Der Gutachter des Buches habe sich wenig ergriffen gezeigt, schreibt Weller in ihrem Beitrag für dekoder. „Er störte sich vor allem am kompilatorischen monotonen Charakter der Zeugenstimmensammlung und an den subjektiven Wahrnehmungen der einfachen Leute.“
Seine Wirkungsmacht, die auch die Entwicklung einer neuen Erinnerungskultur in der Sowjetunion und später die Arbeit der Organisation „Memorial“ prägte, konnte das Buch dennoch schon früh entfalten. Allerdings nur, weil die Autoren inhaltliche Konzessionen gegenüber der offiziellen Ideologie in der Sowjetunion eingehen mussten (was auch die mitunter ideologisch geprägten Kommentare der Autoren zeigen, die das ganze Buch durchziehen). Denn der Holocaust, der die reiche jüdische Kultur in Belarus vollständig vernichtete, kommt in den Berichten so gut wie nicht vor. Auch brenzlige Themen wie das der Kollaboration oder die Verbrechen der Partisanen gegenüber der eigenen Bevölkerung werden ausgespart. Für mich ist das Buch auch aus einem anderen Grund ein wichtiges Zeitdokument.
Die Menschen, die hier zu Wort kommen, entstammen einfachen Verhältnissen, ihr Bildungsgrad ist, wie dies damals in der ländlichen Bevölkerung üblich war, gering. Die Selbstreflexion des Erlebten war für solche Menschen im wahrsten Sinne des Worte undenkbar. In solchen Verhältnissen messen Menschen ihrer eigenen Geschichte wenig wert bei. Sie führen keine Tagebücher. Dass Adamowitsch, Bryl und Kalesnik sich der Geschichte dieser Menschen angenommen und ihnen eine Stimme gegeben haben, ist eine große Tat, die Feuerdörfer gerade aus diesem Grund zu einem bedeutenden und wegweisenden historischen Dokument macht. Es ist ein Schlüsseltext, der in die Reihe von Solschenizyns Archipel Gulag, Grossmans Leben und Schicksal oder Das Blockadebuch von Granin und Adamowitsch gehört. Und leider ist es auch ein sehr aktuelles Buch.
