
Am 27. März werden die Preise der Leipziger Buchmesse verliehen, unter anderem in der Kategorie Übersetzung. Auf TraLaLit stellen wir die Nominierten vor. Alle Beiträge der Reihe sind hier zu finden.
Das Buch
Wir schreiben den 8. Februar 1944. Der Zweite Weltkrieg tobt, aber an den Sieg glaubt im italienischen Asti niemand mehr. Etliche Soldaten sind desertiert, andere sitzen wegen Verrats im Gefängnis, darunter auch der Zahnarzt des schmerzgeplagten – und dentophobischen – Unteroffiziers Cesco Magetti. Der junge Cesco muss also ohne Aussicht auf Erlösung seiner fruchtlosen Arbeit nachgehen, da erteilt ihm auch noch der Chefadjutant der republikanischen Eisenbahngarde den Befehl, eine Karte des mexikanischen Eisenbahnnetzes zu zeichnen. Warum? „Weil ich es dir befehle, Magetti. Ist das für dich Grund genug?“
Für Cesco beginnt eine Odyssee. Denn das einzige Buch in und um Asti, das nützliche Informationen für dieses Himmelfahrtskommando zu enthalten verspricht, scheint verschwunden. Es mangelt nicht an Spuren, doch ein Hinweis erweist sich als unnützer als der nächste. Weder in der Bibliothek ist die Historia poetica y pintoresca de los ferrocarriles en México aufzufinden, noch auf dem von anarchistischen Totengräbern geführten Friedhof von San Rocco, nicht in der Sakristei einer entweihten Kirche bei einem selbst ernannten Bremser-Poeten mit Opiumsucht und auch nicht in den öffentlichen Waschräumen der Stadt. Zur Seite steht ihm bei seiner Suche die schöne Bibliothekarin Tilde, in die Cesco sich sofort verliebt, und deren eigene Geschichte einer unangepassten Frau in den 40er Jahren so ganz nebenbei derart berührend erzählt wird, dass mir beim Lesen die Tränen kamen.
„In contemporary cultural aesthetics, there is something going on with mediation“, leitet die US-amerikanische Literaturkritikerin Anna Kornbluh ihr jüngstes Werk ein, Immediacy, Or, The Style of Too Late Capitalism. Der Kern ihrer Analyse dieses Zu-Spätkapitalismus: Zeitgenössische Kunst und Popkultur verfolgen eine Ästhetik der Unmittelbarkeit. Wir können konsumieren, ohne innezuhalten und nachzudenken, denn alles wird uns transparent dargelegt. Keine Ambiguität. Keine Vermittlungsleistung. Wie Uber für die Kunstwelt. Darunter zählt Kornbluh auch autobiografische Sachbücher und autofiktionale Romane, jenes Phänomen, das aus den Bestsellerlisten kaum noch wegzudenken ist. Dagegen müssen wir ankämpfen, fordert die Kritikerin – eine Forderung, der Gian Marco Griffi mit Die Eisenbahnen Mexikos willig nachkommt, indem er die Buchdeckel vor Imagination schier überquellen lässt.
In seinem epischen Kuriositätenkabinett folgen wir auf rund 800 Seiten einem Underdog, einem Antihelden, der nicht böswillig ist, sondern schlicht zu träge, um sich gegen den Faschismus aufzulehnen. Und auf seiner Suche nach jenem Buch über die Eisenbahnen Mexikos begegnet er einer Reihe von idiosynkratischen Charakteren, die aus Nebensächlichkeiten die wunderlichsten Erzählungen schmieden. Griffis elegante Hypotaxen und pointierte Dialoge sprühen dabei nur so vor Erzählfreude und Ironie.
So sind wir dann schon einige Dutzend Seiten in den Roman vorgedrungen, als wir in das Jahr 1943 zurückspringen und Bardolf Graf begegnen, einem Verwaltungsbeamten, der die zentrale Ereigniskette erst in Gang setzt. Denn er bekommt für eine (laut Abteilungsleiter Hugbrecht unrechtmäßige) Gefälligkeit von Marie Agnete von Thurn und Taxis ein Buch geschenkt, welches die Nazis im mexikanischen Santa Brígida eine Wunderwaffe vermuten lässt. Aus dieser Vermutung resultiert dann auch, nach mehreren Stationen durch den deutschen Verwaltungsapparat, die an die Suche nach Passierschein A38 bei Asterix und Obelix erinnern, der Auftrag, eine Karte der Eisenbahnen Mexikos zu erstellen.
In einem anderen Kapitel dürfen wir gemeinsam mit Cesco (und einem hilfreichen Fremden) ein Kreuzworträtsel lösen, um ein Codewort für die nächste Etappe der Suche nach dem verschollenen Buch zu erhalten. In einem weiteren erfahren wir, nach welchen Kriterien Arturo Belano (das wohl prominenteste Alter Ego von Roberto Bolaño, einem erklärten Vorbild von Griffi) – die Qualität von Dichter*innen zu katalogisieren pflegt, um dann eine mehrseitige Liste bedeutender Dichter*innen und ihrer Suizidmethoden präsentiert zu bekommen: „Diejenigen, die sich von einem Felsen, einem Haus, einer Brücke, vom Deck eines Schiffes gestürzt haben, sind die vollkommenen Dichter“. So zieht Cesco von Person zu Person, scheinbar ohne seinem Ziel näherzukommen, und darf sich stattdessen Stunde um Stunde die Lebensgeschichten und Ansichten jener skurrilen Persönlichkeiten anhören (die ihm bei allen Schrullen an Lebensweisheit, und darüber hinaus auch an literarischer Bildung, weit voraus sind) bis ein samoanischer Kartograph doch noch einen Lichtblick in die Mission bringt.
Gian Marco Griffi wuchs im italienischen Piemont auf, ging dann nach Turin, um Philosophie zu studieren, und lebt mittlerweile in Asti, wo er sechs Tage die Woche einen Golfclub betreibt. Schon in jungen Jahren schrieb der von seinen Freunden „Montagsschriftsteller“ getaufte Griffi Kurzgeschichten, doch erst mit seinem Romandebüt gelang ihm der Durchbruch. Mit einer initialen Auflage von 100 Exemplaren wurde Ferrovie del Messico 2020bei dem kleinen italienischen Verlag Laurana Editore veröffentlichtund schaffte es wenig später unter die Nominierten für den renommierten Premio Strega.
Die Jury-Begründung
Sein Auftrag scheint eine Farce, und doch: Mit dem von Zahnschmerzen geplagten Unteroffizier Cesco Magetti reisen wir durch die labyrinthische, abstruse Welt des italienischen Faschismus. In Gianmarco Griffis Roman maskiert das Groteske Tragik und Grauen. Diesen schwierigen Spagat schafft auch die Übersetzung von Verena von Koskull, die mit Leichtigkeit Ironie, Poesie und Tragikomik verbindet.
Die Übersetzung
Mit Verena von Koskull ist eine überaus erfahrene und schon mehrfach prämierte Übersetzerin für den Preis der Leipziger Buchmesse nominiert. Seit über 20 Jahren ist sie als Übersetzerin aus dem Italienischen und Englischen tätig, nach mehrjähriger Verlagstätigkeit in Rom und Berlin. 2020 wurde ihre Übersetzung von Edoardo Albinatis Die katholische Schule mit dem Deutsch-Italienischen Übersetzerpreis ausgezeichnet, 2022 war sie Stipendiatin der Casa di Goethe und im vergangenen Jahr erhielt sie im Rahmen der Frankfurter Buchmesse den Jane Scatcherd-Preis „für ihre genauen und unaufgeregt kunstvollen Übersetzungen aus dem Italienischen – bedeutende, stilistisch ganz unterschiedliche Romane“.
Schon bei der Übersetzung von Albinati konnte von Koskull fulminant beweisen, dass ihr historisch-literarische Wälzer epischen Ausmaßes mitnichten über den Kopf wachsen. Mit ihrer Übertragung von Die Eisenbahnen Mexikos kann die Übersetzerin nun erneut glänzen. Der Roman wird über weite Strecken in der ersten Person aus der Sicht von Cesco Magetti erzählt, doch die Fokalisierung wechselt immer wieder. In den großzügig gestreuten Passagen wörtlicher bzw. indirekter Rede klingt die Sprache von Charakteren an, die sich unterschiedlicher kaum ausdrücken könnten. Sie konfrontieren die Übersetzerin mit verschiedensten Sozio- und Dialekten, die diese mit bemerkenswerter Leichtfüßigkeit ins Deutsche überträgt. Da ist der steife Chefadjutant, aus dessen sämtlichen Äußerungen sein Hierarchiedenken spricht; der überbordende Totengräber Lito, der quasi in jedem zweiten Satz mit Schimpfwörtern um sich schmeißt; die verträumte Tilde, deren Sätze mit literarischen Referenzen gespickt sind.
Als Cesco der Bibliothekarin zum ersten Mal begegnet, wird nicht nur deutlich, wie hingerissen er von ihr ist, sondern auch, wie spielerisch elegant von Koskull Griffis absatzfüllende Satzgirlanden in eine deutsche Form zu gießen vermag:
Jedenfalls passierte, dass mich, während sie mich ansah, mit drei Büchern im Arm am Boden hockend, in beigefarbenem Rock und rotem Mantel, diese Unbeholfenheit und Gehemmtheit ergriff, die mich jedes Mal ergreift, sobald ich spüre, dass mein Körper auf äußere Einflüsse nicht angemessen reagiert, zumal sie mich, noch ehe sie wissen wollte, wer ich sei oder was ich wolle, fragte, was ich von den argentinischen Dichtern von 1937 hielte, und ich antwortete, von den argentinischen Dichtern von 1937 hielte ich sehr viel, unermesslich viel, obwohl ich keine Ahnung hatte, was ich da sagte, weil ich zu argentinischen Dichtern gar keine Meinung hatte, ich hatte nicht einmal eine Ahnung, dass es argentinische Dichter gab, wenngleich mir bewusst war, dass es Argentinien gab und dass in Argentinien Menschen leben mussten, die 1937 Gedichte geschrieben hatten, und dass es sich bei selbigen um nämliche Dichter von 1937 handeln musste.
Griffis subtiler Witz scheint durch die kunstvollen Verschachtelungen. Dank von Koskulls intelligent gesetzter Inversionen fällt es an der Komplexität und Länge des Satzes gemessen leicht, sich im Sprachlabyrinth zurechtzufinden. Ebenso geschmeidig, stilistisch jedoch ganz anders, liest sich die wörtliche Rede von Lito, der sich über den Kaffeeautomaten beschwert, den die Deutschen auf seinem Friedhof installiert haben:
Dieser Kaffee ist genauso beschissen wie immer; jedes Mal hoffe ich, irgendein Kaffeegeist wäre über Nacht in den Automaten eingezogen und hätte wie durch Zauberhand den Geschmack verbessert, aber jedes Mal muss ich feststellen, dass er ganz genauso ist wie am Tag zuvor: die reinste Scheiße. Ein Kaffee muss ein paar unerlässliche, cremige und sämige Eigenschaften besitzen. Es kann doch nicht so schwer sein zu erahnen, dass ein guter Kaffee die Konzentrationsfähigkeit seines Trinkers steigert; aber die Unternehmensleitung scheißt drauf.
Kein Dialog gerät von Koskull sperrig oder hölzern, Parataxen sitzen ebenso rhythmisch wie die zahllosen Endlossätze. Dabei verlasse sich die Übersetzerin vor allem auf ihren Instinkt, auf Gefühl statt grammatikalisches Regelwerk, so formulierte sie es bei einem Symposium zum Übersetzen zwischen Italien und Deutschland im LCB 2019: „Ich kann nicht in meinen Grammatikwerkzeugkasten greifen und den DIN-genormten Schraubenschlüssel hervorziehen. Wäre es so, könnten wir das Übersetzen DeepL überlassen.“
Auf diese Intuition kann Verena von Koskull sichtlich zählen, denn Die Eisenbahnen Mexikos büßt im Deutschen an Erzählreichtum und feiner Ironie nichts ein. Es gab im letzten Jahr keinen anderen Roman, der mich derart häufig in lautes Gelächter hat ausbrechen lassen. Als leidenschaftliche NYT-Wordlerin hat mich diese ambitionierte literarische Schnitzeljagd sofort in ihren Bann gezogen, der über die rund 800 Seiten ungebrochen blieb. Ein Gift mit sechs Buchstaben, das bei der Aufnahme über die Blutbahn tödlich ist, beim Verschlucken jedoch unbedenklich, anyone?
Lieblingsstelle
Es ist, als würde meine Rüstung aus Liebe zum Leben ständig von den Fischen des Aberwitzes und der Tragik angeknabbert, und der einzige Weg, mich zu schützen, dem zu entkommen, ist ein bestimmter Blick auf die Welt, ein Lyrismus. Lyrisch und ironisch zu sein ist das Einzige, was einen vor der absoluten Verzweiflung schützt. Ich bewohne meinen Lyrismus, Cesco, um das Leben weiterhin lieben zu können: Jedes Erlebnis kann sich nur in diese zwei Daseinsformen verwandeln, Lyrismus und Ironie, denn die dritte wäre die Verzweiflung, und ihr hätte ich nichts entgegenzusetzen. Es gibt nichts anderes.
Anm. d. Red.: Dieser Beitrag wurde ohne Kenntnis der Originalsprache verfasst. Mehr zum Thema hier.
